Das Gottesreich in seiner Niedrigkeitsgestalt

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Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor: 1. Von den Anfängen

2. Das Gottesreich in seiner Niedrigkeitsgestalt

Jesus und sein Eintritt in den Geschichtslauf

Zur Zeit des 4. Reichs sah Daniel das Gottesreich kommen, und mit dem Weltreich, genauer mit dem römischen Reich, zusammenstoßen. Das ist bei Jesu Geburt in Erfüllung gegangen; wenn auch erst anfangsweise. Das Reich Gottes stammt nicht von dieser Welt, sondern es kam vom Himmel; darum ist sein ursprünglicher Namen "Himmelreich" (Mt 3:2). Es senkte sich in das Gottesvolk hinein, obwohl der böse Feind seit längerer Zeit starken Einfluss auf dasselbe gewonnen hatte. Denn Gott steht zu seinen Verheißungen, auch gegenüber menschlicher Untreue, und satanischer Gegenwirkung zum Trotz. Und wie mit dem Reich, so ist es mit dem von Gott bestimmten König des Reichs, mit Jesus, welcher der Christus ist, der Herr: er gehört nicht zu dieser Welt, denn er ist der Sohn des Gottes, der da lebt. Und trotzdem hat ihn des Vaters Liebe zur Welt, und sein Erbarmen gegen sie völlig in die Welt hineingestellt, so dass er ein Glied der Menschheit wurde. Und weil Israel die Hoffnung ist, für die von Gott losgekommene Völkerwelt, deshalb stellte Gott seinen Sohn in dieses Volk hinein, und zwar in Israels Königshaus. Und wie der Vater ihn sandte, so kam der Sohn und nahm seinen Platz, seinen Standort in der Welt, in der Menschheit, in Israel, im Königshaus - er wurde Menschensohn, Abrahams Sohn, Davids Sohn; er kam aus der Ewigkeit und trat ein in die irdische, in die menschliche, in die israelitische Geschichte, und zwar in dem Augenblick, als die für ihn bestimmte Zeit gekommen war.

Sein Eintritt in die Menschheit erfolgte freilich nicht kraft der Natur, nicht durch das Zusammenwirken von Eltern; aber im übrigen war er nicht vom Eintritt eines jeden Menschen in seinen geschichtlichen Standort unterschieden - er hatte eine Mutter wie jedes Glied der Menschheit, seit Gott die ersten Eltern schuf. Sein Geburtsort musste Bethlehem sein, damit er nicht bloß durch seine Abstammung, sondern auch durch seine Geburtsstätte als der große Sohn der Verheißung erwiesen sei. Er kam, als Davids Geschlecht am Boden lag und so arm war, dass seine letzten Glieder nur noch zum Armenopfer fähig waren; Davids Geschlecht war tatsächlich nur noch ein Stumpf. Er kam, als auch Israel nach den Jahren der, durch die Makkabäer neu erkämpften Freiheit stärker als zuvor in das Joch der Weltmacht eingespannt wurde. Er kam, als das römische Reich sich in der Welt eingerichtet hatte, als das seit Babel tauglichste Werkzeug zur Aufrichtung des Gegenstücks des Gottesreichs, und als es eben im Begriff war, das Gottesvolk nach Familien und Geschlechtern ins Verzeichnis, ins Register der Glieder des Weltreichs einzutragen, als ihm gehörig und dienstbar. Denn seine Geburt geschah zur Zeit der großen Schätzung (Lk 2:1). Und ein kaiserlicher Machtbefehl führte Maria und Joseph nach Bethlehem, und das neugeborene Kind konnte gleich als Glied des großen Römerreichs in die Liste eingetragen werden.

Unter armseligen Umständen fing das Gottesreich in der Welt an. Und doch ist's der Stein von oben, der das stolze hochragende Menschenbild zum Umstürzen bringt und es zertrümmert, und der an seiner Stelle die Erde ausfüllt (Dan 2:34.35). Und der Alleinherrscher des Weltreichs musste gerade in dem Augenblick, da er auf seines Reiches Belange bedacht war, der Handlanger sein des "rechten Alleinherrschers, des Königs der Könige und des Herrn aller Herren" (1Tim 6:15), und der Diener des Reiches Gottes, damit der Sohn dieses Alleinherrschers und des Königs dieses Reiches an dem Ort geboren werde, der ihm durch den Mund des Propheten zum Geburtsort bestimmt war (Mi 5:1), zu einer Zeit, als Rom erst in den Anfängen war; ja welcher die Heimatstadt von Christi Ahnherrn David gewesen ist, zu einer Zeit, da Rom noch nicht stand.

Aber neben Bethlehem traten Nazareth und Jerusalem; Nazareth als Stadt, wo Jesus Christus in aller Stille nach seinem wunderbaren Eintritt in die Menschheit in die letztere hineinwuchs, und zu seinem Beruf heranreifte; und Jerusalem als die Stadt, wo durch ihn die größten Taten geschehen sind, seit die Erde und die Welt geschaffen wurde, nämlich das Werk der Erlösung und Heiligung. Jerusalem und der Tempel gehören zusammen. Wie Jesus zum ersten mal mit beiden bekannt wurde, und was dabei vorging, das ist Gegenstand der einzigen Geschichte aus seiner Jugendzeit. In Jerusalem hat er sein Christusamt begonnen nach wenigen Tagen der Stille in Galiläa an jenem Passah, 3 Jahre vor seinem Todes-Passah, von dem in Joh 2 erzählt wird. Seine erste Tat war die Reinigung des Tempels. Er hat den Tempel nicht beseitigt, sondern ihn hochgeehrt als Haus seines Vaters; und doch kam er als Herr des Tempels. Damals bereits entschieden sich die Führer des Volkes gegen ihn. Diese Stellungnahme zwang ihn, vorwiegend außerhalb Jerusalems zu wirken; aber immer wieder suchte er Jerusalem auf, wie Johannes berichtet, und wie aus Mt 23:37 hervorgeht. In Jerusalem handelte es sich immer wieder um die Grundfrage: "Was dünkt euch um Christus?" So kam der letzte Gang zu seiner Kreuzigung. Als Israels König zog er ein. Aber Israel stieß seinen König hinaus und kreuzigte ihn. So wurde Jerusalem zur Stadt des Kreuzes. Das war Christi irdischer Königsthron. Die Inschrift vom Kreuz, gefasst vom Vertreter des Kaisers, bezeugt es durch alle Zeiten: Jesus von Nazareth, der König der Juden!

Rom und Jerusalem tauschen ihre Rollen

Rom war ebenfalls an der Kreuzigung Jesu beteiligt, aber wider Willen, wie zu seiner Ehre gesagt werden muss. Der Vertreter des Kaisers sprach das Todesurteil aus und vollstreckte es auch; aber er meinte dazu durch Israel gezwungen zu sein. Merkwürdig: sonst waren die Statthalter dem Volk gegenüber stark, wenn es Unrecht auszuüben galt; aber in dem einen Fall, da der Vertreter Roms hätte das höchste Recht ausüben sollen und können, das je in der Welt verübt werden konnte, da ergriff ihn Angst und er zitterte vor dem geknechteten Volk. So wurde Rom Mithelfer zum größten Unrecht, das je geschehen ist, ja Vollstrecker des Unrechts. Aber mitten im Unrecht wurde es zum Ehrenretter des Gemarterten. Sein Henker beteuerte seine Unschuld und bezeugte schriftlich, dass nicht Freveltat die Ursache seiner Hinrichtung sei, sondern seine Königsstellung über Israel. Das sind weltgeschichtliche Vorgänge ohnegleichen: Israel hätte der Völkerwelt seinem König zuführen sollen; und nun musste die Völkerwelt dem Volk Israel seines Königs Königsamt bezeugen. Die Rolle war vertauscht. Sie war auch nachher vertauscht, als das Evangelium Aufnahme suchte in der Welt: Israel verweigerte der Friedensbotschaft mehr und mehr das Heimatrecht und stieß schließlich Jesu Boten aus. Das Römerreich nahm sie auf! Ja zweimal kam es vor, dass Rom sich schützend vor Jesu größten Boten, Paulus, stellte und ihn Israels Angriff entzog: in Korinth und in Jerusalem! Der König des Reichs hat dem römischen Reich, die ihm bei der Kreuzigung erwiesene Ehrerbietung, und den seinem Boten erwiesenen Schutz reichlich vergolten. Auch das römische Reich war und ist noch nicht ganz Tier geworden; es steckt immer noch etwas vom Menschenbild in ihm drin. Ganz dem satanischen Willen darf erst das antichristliche Reich verfallen.

Aber eine tiefernste Sache bleibt es doch, dass bei der Ausstoßung des Sohnes Gottes aus der Menschheit die gesamte Menschheit zusammenwirkte. Zwei Teile hat die Menschheit: Israel und die Völkerwelt. Beide Teile reichten sich bei der Beseitigung des Christus die Hand. Ganz Israel wirkte mit, mit Ausnahme von wenigen; denn nicht bloß Israels Führer waren schuldig, sondern das Gesamtvolk ließ sich schuldig machen. Im gleichen Sinn wie Israel war die Völkerwelt an der großen Menschheitssünde freilich nicht beteiligt; aber sie wurde vertreten durch das römische Reich, und das letztere wurde vertreten durch seinen Beamten. Es war so gefügt. So hat kein Teil dem anderen etwas vorzuwerfen. Denn beide sind schuldig geworden. Israels Schuld war freilich größer; und voran standen in der Schuld Israels Führer; und ihr Chorleiter war der Hohepriester! Der Hohepriester tötete den rechten Hohepriester! Und indem er es tat, sorgte er dafür, dass der rechte Hohepriester das große Opfer brachte für die Sünde des ganzen Volks, ja der ganzen Menschheit, so dass er mit seinem eigenen, reinen Opferblut ins Allerheiligste gehen konnte am großen Versöhnungstag, der Israel, und mit ihm der Menschheit und dem ganzen Gebiet der Schöpfung beschert wurde am Tag von Golgatha! "In dem Augenblick, als die Sünde überhand nahm, ist die Gnade überreich geworden" (Röm 5:20).

Jesus - der Sohn Gottes

Wir stehen damit am Geheimnis unseres Glaubens. Jesus Christus ist ein großes Geheimnis; sein Kommen, sein Sterben, sein Auferstehen, sein Wiederkommen, seine Beziehung zu Israel und zur Menschheit, zu seiner Gemeinde und zu jedem einzelnen, der glaubt; sein Werk, sowohl das geschehene, wie auch das gegenwärtige und auch das kommende - das alles ist ein Geheimnis, aber kein ganz verborgenes, sondern ein dem Glauben zugängliches, kein finsteres, sondern ein seliges. Zuerst sei die Rede vom Geheimnis der Person Jesu, dann von dem seines Amtes.

In Jesus ist Gott selber in die Geschichte eingetreten. Diesen Namen "Jesus" geben wir ihm, wenn wir ihn als geschichtliche Persönlichkeit bezeichnen wollen: zwar ist dieser Name ihm kraft ausdrücklicher göttlicher Weisung gegeben worden, und sollte für die tiefer Denkenden ein Hinweis sein, dass mit ihm die Hilfe Gottes - denn das ist die sprachliche Bedeutung des sonst häufig vorkommenden Namens - erschienen sei, besonders für die größte Not, die Sünde (Mt 1:21). Vielleicht wurde damit auch ein Beziehung gegeben zu dem bedeutendsten früheren Träger dieses Namens, Josua - Jesus ist die griechische Form von Josua. Sei es im Sinne von Hebr 3:7 bis Hebr 4:13, wo Jesus den Josua gegenüber gestellt wird - erst Jesus bringt das Gottesvolk zur vollkommenen Ruhe; die Ruhe, in die Josua das alte Gottesvolk einführte, ist erst ein Vorbild der wahren Ruhe gewesen, aber noch nicht die rechte. Sei es in dem Sinn, dass Jesus der rechte Nachfolger Moses ist, in ungleich tieferem Sinn und höherem Maß als Josua, sofern Jesus als der Spender des heiligen Geistes der ohnmächtigen Pein unter der Last des Gesetzes ein Ende gemacht, und den neuen Bund gegründet hat (vgl. hierzu 2Kor 3). Aber trotz der göttlich gewollten Bedeutung seines Namens ist damit über sein Wesen noch nicht alles ausgesagt; er hat mit seinem Namen zunächst nur seinen geschichtlichen Standort erhalten, ist in das menschliche Geschlecht an einer bestimmten Stelle eingefügt worden. Jesus kann er genannt werden mit voller Kühle, ohne jedes Verhältnis zu seiner Person, rein als geschichtliche Persönlichkeit, Jesus kann er aber auch genannt werden mit heißer Liebe des Herzens. Es ist gut, dass es für ihn einen solch einfachen Namen gibt. Unter diesem schlichten menschlichen Namen, durch den er sich in seinen irdischen Tagen über niemand erhob, dessen tiefe Bedeutung nur seinen Allernächsten bekannt war, die Liebe, der Gehorsam und die Hoffnung in Bezug auf ihn, hat Zeit zum Entstehen und zum Wachsen und Reifen.

Jesus ist eine geschichtliche Persönlichkeit, deren Eintritt in den Geschichtsverlauf erfolgt ist wie bei uns, nämlich dadurch, dass er geboren worden ist. Aber trotz dieser Gemeinsamkeit der Geburt ist die Art seines Eintritts in die Welt von dem unsrigen unterschieden. Wir bekommen unser Menschsein, unsere Gliedschaft am Gesamtorganismus der Menschheit mit seiner besonderen Färbung durch die Nationalität, das Geschlecht und die zeitgeschichtlichen Verhältnisse ganz ohne unser Zutun. Auch wenn uns unser Leben kein Rätsel mehr ist, weil uns die Erkenntnis des Schöpfers aufgegangen ist, der es uns gab, und der unserem Leben durch Vermittlung unserer Eltern, unseres Geschlechts und unseres Volkes seine besondere Stelle im Menschheitsorgan anwies, und dessen Vatergüte über dem Leben seiner Geschöpfe waltet - auch dann bleiben wir uns selber noch ein Geheimnis ein heiliges Geheimnis, das erst in der Ewigkeit sich enthüllen wird, wenn wir erkennen dürfen, wie wir erkannt sind. Aus dem Auge jedes neuen Menschenwesens, besonders des eigenen Kindes, leuchtet uns dieses Geheimnis entgegen. Es ist ja auch ein Geheimnis, dass wir, nachdem wir unser Leben völlig ohne unser Zutun erhalten haben, dennoch in die Bejahung unseres Lebens mit eigenem Willen hineinwachsen. Aber am Anfang unseres Lebens steht völlige Wissenslosigkeit.

So ist aber Jesus nicht in seinen geschichtlichen Menschheitsplatz eingetreten. Er drückt das immer wieder aus durch die schlichte Aussage: "Ich bin gekommen", "Ich bin gesandt". Mit dem ersten Ausdruck bezeichnet er seine Selbstständigkeit, seine eigene Mitwirkung, seinen Entschluss bei der Einnahme seiner Stelle im Gesamtorganismus der Menschheit. Mit dem zweiten Ausdruck sagt er aus, dass er diesen Eintritt ins Menschheitsganze nach Gottes Willen, im Gehorsam gegen ihn vollzogen habe. Zwar kann auch von Menschen gesagt werden, dass Gott sie gesandt habe, selbst wenn sie, wie wir alle, willenlos ins Leben traten, nämlich in seltenen Fällen, wo Gott bereits zur Vaterschaft den Auftrag gegeben hat, so bei Johannes dem Täufer, in gewissem Sinn auch bei Isaak und Samuel; wenn Gott einem Menschen ein besonderes Amt überträgt und ihn zur Ausrichtung dieses Amtes besonders ausrüstet. Aber in diesen Fällen kann nur im übertragenen, nicht im eigentlichen strengen Sinn, von Sendung gesprochen werden. Bei Jesus ist sie im eigentlichen Sinn gemeint, was schon daraus hervorgeht, dass "Sendung" und "Kommen" in seinem Munde Wechselbegriffe sind. In dem tiefen, wahrhaftigen Sinn, wie Jesus, würde sonst niemand wagen dürfen zu sagen: Ich bin gekommen.

Jesus - der Herr

Wir sprechen in diesem Zusammenhang noch nicht vom Zweck seines Kommens und seiner Sendung, sondern nur vom Sinn des Ausdrucks selber. Mit dem Verständnis dieses Ausdrucks kommen wir dem Geheimnis Jesu näher, wenn wir seine Aussagen über sein Kommen und seine Sendung schlicht gelten lassen. Denn damit ist ausgesprochen, dass sein ursprünglicher, eigentlicher Standort außerhalb aller menschlichen Geschichte und außerhalb ihres irdischen Schauplatzes ist. Er kam von Gott aus der himmlischen Welt, als er in seine Stelle innerhalb der Menschheit und ihrer Geschichte eintrat. Er gehörte aber der himmlischen Welt an, nicht als Geschöpf Gottes, sondern als der Sohn. Sohn Gottes ist er durch seine Geburt nicht erst geworden; sondern er, dessen heiliges Leben Gott seiner Mutter durch unmittelbare Wirkung des heiligen Geistes übergab, ist trotz seiner Eigenschaft als Menschensohn der Sohn Gottes geblieben, der er war vor seinem Eintritt in die Menschheit. Durch seine Geburt bekam er seine leiblich-seelische Verfassung. Sein Leib war der Tempel, der das große Geheimnis der Gegenwart Gottes in sich barg, es zugleich offenbarend und zugleich verhüllend. Sein Leib war der Vorhang vor dem Allerheiligsten seiner Person. Wegen seiner menschlichen Erscheinung sahen die Führer des Volkes seine inwendige Herrlichkeit nicht; aber seine Jünger blickten mit den Augen des Glaubens hinter den Vorhang und sahen sie, und mussten doch nicht daran sterben. Es ist ein tiefsinniges Wort, das er bei seinem ersten Gang nach Jerusalem nach seiner Taufe sprach, als er nach seiner Vollmacht gefragt wurde, als Herr in den Tempel zu kommen: "Brecht diesen Tempel ab, so werde ich ihn in drei Tagen wieder aufbauen" (Joh 2:19). Er bezeichnete seinen Leib als den Tempel, in welchem Gott unter ihnen gegenwärtig sei.

Wer der Tempel Gottes in eigener Person ist, hat Vollmacht über das Tempelgebäude. Er wusste damals schon, dass sie seine Gegner waren und darum zu Tempelzerstörern würden, obwohl sie sich als Tempelhüter ausgaben. Er gab ihnen die Ermächtigung, ihre Gedanken auszuführen: „Brechet meinen Leib ab!" Sie haben es getan; und in dem Augenblick, als sie es taten, höhnten sie ihn als einen ohnmächtigen Großsprecher, der gewagt habe, sich mit Worten am Tempelgebäude zu vergreifen, dem aber die Kraft dazu mit seiner Kreuzigung genommen sei. Sie hüteten ihren Tempel und brachen seinen Tempel ab. Und siehe: da brach aus dem Gemarterten und Getöteten, als die Leibeshülle brach, die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes hervor, und als er starb, zerbrach ihr Tempel: der Vorhang im Tempel zerriss. Der steinerne Tempel war abgetan, und musste doch noch das Gleiche bezeugen wie der am Kreuz Vollendete: die Hülle, die von Gott noch trennte, der Vorhang ist weg! Nun ist Gott ganz da, seit der Christus starb. Und doch stirbt der Mensch nicht, der an des Christus Hand zum heiligen Gott herantritt, sondern sein Geist wird geheilt.

Als er auferstand, stand der neue Tempel da. Eine neue Verhüllung Gottes, nachdem am Kreuz die Hülle vom Allerheiligsten weggetan worden ist? Ja, eine neue Verhüllung, sofern der Tempel auch eine VERHÜLLUNG Gottes ist. Durch sein Auferstehen ist er ja der Welt entrückt. Für die Welt ist nun der Weg zu ihm schwerer, als solange er sichtbar und greifbar vor ihr stand. Und wenn sie ihn nicht erfasst, als den von Gott Erweckten und nun ewig Lebenden, dann bleibt ihr Gott verhüllt, obwohl nur ein dünner Vorhang zwischen ihr und Gott ist. Die Welt hat Jesus ausgestoßen; mit ihm ist ihr die Gegenwart Gottes entrückt. Der Tempel ist fort. Wie eifrig sucht die Menschheit den verloren gegangenen Tempel! Aber sie kann mit allem Bemühen der Gegenwart Gottes doch nicht froh werden, solange sie den lebendigen Gott nicht bei dem sucht, der sein Tempel ist, nämlich beim Auferstandenen. Zur Welt gehört auch Israel solange, bis es seinen König sucht. Wenn es ihn findet, findet es ihn in seinen verloren gegangenen Tempel.

Aber der Tempel Gottes ist ja nicht bloß eine Verhüllung Gottes, sondern zugleich diejenige Enthüllung, die wir vor dem Stand der völligen Erlösung ertragen können. Der Auferstandene ist diese Enthüllung Gottes in strahlender Schönheit. Er ist der Tempel, durch den uns Gott ganz nahe tritt, so nahe als es möglich ist, solange wir noch im Leib der Sünde wallen, solange unser Leib noch nicht erlöst ist. Namentlich eine Enthüllung Gottes ist der Auferstandene: nicht bloß eine Enthüllung von Gottes VaterNAMEN, sondern von seiner VaterSCHAFT, d.h. von unserer Berufung zur Kindschaft Gott gegenüber, und damit zur Bruderschaft dem Auferstandenen gegenüber. Und noch eine köstliche Eigenschaft hat der mit Jesu Auferstehung aufgerichtete Tempel: er gleicht nicht mehr dem an seine Stelle gebannten Gebäude, sondern mehr der beweglichen Stiftshütte, ja er ist viel beweglicher als die Stiftshütte. Dieser Tempel ist jedem ganz nah, der den Namen des Herrn Jesu anruft: dem Anrufer Jesu tritt nicht nur der Angerufene nahe, sondern dem öffnet sich Gottes Herz, wo er auch sei.

Jesus der Tempel Gottes - das umschließt gleichermaßen das göttliche Geheimnis seiner Person und seines Amts. Wer ist Jesus= Er ist der, in welchem Gott selber die Menschheit und den Menschen sucht. Was ist Jesu Amt? Die Menschheit und den Menschen zu Gott zu führen, in lebendige Verbindung mit Gott zu bringen. Weil in ihm Gott dem Menschen nahe tritt, deshalb hat de gleichen Namen bekommen, den Gott selber hat; Kyrios, der Herr. Das griechische Wort für Herr ist das gleiche, wie das in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments für Jehova gebrauchte. Als Jehova, als Israels treuen Bundesgott, der alle Zeiten in seiner Hand hält und trotz all' seiner Hoheit seinem Volk ganz nahe tritt, hat sich Gott dem Mose geoffenbart. Luther schreibt in seiner Übersetzung dafür: der HErr, Jesus ist der Herr, weil uns in ihm der HErr begegnet. Das ist deshalb möglich, weil Jesus als der eingeborene Sohn das Abbild des Vaters ist.

Jesus - der Christus

Sein Amt hat auch eine Benennung gefunden, indem er DER CHRISTUS genannt wird. Der Einzigartigkeit seiner Person und seiner Stellung entspricht auch ein einzigartiges Amt: das Christusamt. Jesus ist der Christus. Die Benennung "Jesus Christus" empfinden wir sprachlich nur als Doppelbezeichnung, als volltönende Nennung Jesu. Aber diese Benennung entspricht weder einem zur Zeit Jesu öfter vorkommenden Brauch, dem jüdischen Namen einen griechischen beizufügen: Saulus - Paulus, "Johannes, der auch Markus heißt", noch der bei uns üblichen Namensgebung, bei welcher dem Namensträger zu seinem persönlichen Namen der des Geschlechts beigegeben wird, um ihn damit in den Zusammenhang der Geschichte hineinzustellen. Vielmehr ist die Benennung "Jesus Christus" ein ganzer Satz. Wenn ein Israelit zur Zeit der Apostel diesen Ausdruck mit dem Herzen gebrauchte, so hatte er damit den Anschluss an Jesus vollzogen: Jesus ist DER Christus! Damit diese glaubensmäßige Erkenntnis entstehe, zu diesem Zweck hat Johannes seinerzeit sein Evangelium geschrieben: "dass ihr zu der innersten Überzeugung gelanget, dass Jesus der Christus sei", Joh 20:31.

Auch in Apg 9:22 ist die Benennung "Jesus Christus" aufgelöst in einem Satz. Nach seiner Bekehrung führte Paulus in den jüdischen Betsälen zu Damaskus den Nachweis, "dass dieser ist der Christus". "Dieser", d. h. der von Israel ans Kreuz gebrachte Jesus, der es vor dem jüdischen Gericht gewagt hatte, trotz seiner Bande sein Christusamt zu bejahen, und zwar mit einer die ganze Zukunft umfassenden Wirkung; „dieser", dessen Bezeugung als Israels König durch die Überschrift am Kreuz, die Führer des Volks in helle Wut versetzt hatte; "dieser", dessen Name auch nach seiner Hinrichtung nicht verstummen sollte; "dieser", um dessetwillen Paulus seine Hände mit Gewalttat befleckt hatte: "DIESER Jesus IST DER Christus!" Er IST es tatsächlich; er hat es seinerzeit nicht fälschlich behauptet; und seine Jünger, die ihn als den Christus bezeugten, sprachen die Wahrheit. Er ist DER Christus; nicht bloß EINER der vielen Gesandten Gottes, die im Namen Gottes aufgetreten waren, und in seinem Auftrag gesprochen und gehandelt haben; sondern er ist der, welcher sie alle überragt, auch den Größten, den Israel gehabt und hoch verehrt hat, nämlich Mose. Er ist der CHRISTUS; d. h. hinter ihm steht GOTT, der ihm seinen Auftrag gegeben hat. Er ist der Knecht Gottes, beauftragt mit der Durchführung des ganzen Willens Gottes an der ganzen Menschheit, an der ganzen Welt und zu allen Zeiten. Er hat ihm zu seinem Amt den GEIST verliehen ohne Maß, so dass er sein Gesalbter ist. Und so ist er der vom PROPHETISCHEN Wort schon längst geweissagte Messias.

Von Jesus hat Paulus schon längst gewusst; dass Gott den verheißenen Messias, den Christus, schicken werde, hat er nie bezweifelt. Aber die beiden zusammen zu denken, dagegen hatte sich bis jetzt sein ganzes Inneres gesträubt. Bei und in Damaskus wurde sein Sträuben gebrochen und überwunden; er MUSSTE nun Jesus, den Gekreuzigten, und den Christus, den Wirker aller Werke Gottes in allen Äonen, zusammen denken. Das Bekenntnis: "Jesus ist der Christus", kurz zusammengefasst in dem Ausdruck "Jesus Christus" war fertig. Das war der einzige Gegenstand seiner Verkündigung, seiner Theologie, seines Arbeitens und seines Leidens. Eine Vereinheitlichung, eine Vertiefung ohnegleichen! Von diesem Quellpunkt ging für Paulus eine solche Fülle von Erkenntnis, von Leben und von Willensbewegung aus, dass es uns Heutigen schwer wird, sie auch nur nachzudenken, und noch schwerer, sie uns anzueignen. Und wie Vieles wird das Herzutreten zu Jesus erleichtert, wenn er als der Christus Gottes erfasst wird! "Der Christus Gottes" - die Christenheit unserer Tage versteht kaum mehr, was dieser Ausdruck auch nur bedeutet. Wie ein Findlingsblock, wie ein großer Stein, der sich in den Ackerboden verirrt hat aus einer lang vergangenen Zeit, steht dieser Ausdruck in der Lutherbibel Offb 11:15. Ein zweifaches Staunen weckt er: "der" Christus: was soll das heißen? Dass das Verständnis hierfür so sehr mangelt, hängt wesentlich damit zusammen, dass die Christenheit nach dem Abscheiden der Apostel den Zusammenhang mit Israel entbehren musste. Die Apostel waren das Band zwischen dem alten Gottesvolk und der neuentstandenen heidenchristlichen Gottesgemeinde. Nachdem sie gestorben waren, war die judenchristliche Gemeinde äußerlich und innerlich auch im Absterben begriffen.

Die Bedeutung des Alten Testaments

Die junge Christenheit aus der Völkerwelt musste viel zu bald ihren Weg allein gehen, ohne die Fühlung mit der alten Gottesgemeinde. Diese Fühlung war noch vermittelt durch Israels Bibel, das Alte Testament. Es war den Aposteln ein großes Anliegen, der werdenden Gemeinde aus der Völkerwelt das Verständnis des Alten Testaments mitzugeben. Das Neue Testament als Sammlung von Urkunden aus der apostolischen Zeit bekam die Kirche erst später. Das Alte Testament bekam sie sofort, und zwar als heilige Schrift. Fast ist es vergessen, dass Paulus das Alte Testament im Auge hatte, wenn er dem Timotheus in seinem Brief 2Thes 3:15-17 die heiligen Schriften pries als eine unerschöpfliche Quelle zum Wachstum im Christenstand, und sie unmittelbar neben die Unterweisung stellte, die Timotheus in lebendiger Berührung mit Paulus und anderen Jüngern Jesu hatte. Es war ein Verhängnis, dass der heidenchristlichen Kirche solche lebendige Berührung mit dem Israel nach dem Geist, mit dem Israel Gottes verloren ging. Sie verlor darüber mehr und minder auch den Schlüssel zu Israels Bibel, zum Alten Testament; und das hat ihren Gang innerhalb der Völkerwelt nicht nur erschwert, sondern unheilvoll beeinflusst. Ganz unschuldig war aber die Heidenchristenheit am Verlust des Schlüssels nicht. Schon Paulus musste sie warnen, Israel gegenüber stolz zu werden, weil Israel über Jesus zu Fall gekommen, und sie an ihm aufgestanden war. Schon damals begann die Meinung, dass Israels Vorzug in seinem Fall erledigt, und die heidenchristliche Gemeinde an Israels Stelle gerückt sei. Wie weh muss Paulus diese Beobachtung getan haben, da er ja Israels Schätze der Völkerwelt überbracht hatte! (Röm 11:11-32).

Warum diese Ausführungen in einem ganz andersartigen Zusammenhang? Weil an diesem Punkt klarer wird, warum die heidenchristliche Gemeinde den Christusnamen Jesu nicht mehr verstand, sondern ihn nur noch als ein Erbstück aus alten Zeiten mitführte. Die Heidenchristen kannten Gott in ihrer vorchristlichen Zeit nicht; wenn aber ein Israelit Christ wurde, dann war ihm Gott längst bekannt, und zwar nicht nur deshalb, weil er von Kind an von ihm gehört hatte, sondern weil er in das reiche Erbe hineingewachsen war, das Israel in lebendiger Gotteserkenntnis besaß. Der heidnischen Welt musste Paulus einen Doppeldienst tun; er musste ihr Gott bringen, UND Jesum. So wars nicht nur in abgelegenen Gegenden, wie z. B. in Lystra, im Innern Kleinasiens (Apg 14:15-17), sondern auch am Sitz der höchstentwickelten Bildung mit ihrem Wissensstolz in Athen (Apg 14:22-29). Beide Mal musste er erst Gott bezeugen, ehe er von Jesus sprechen konnte. Die Rede des Paulus in Athen ist schon ganz falsch verstanden worden, als ob Paulus den Athenern gegenüber nicht gewagt habe, wie sonst Jesum zu verkündigen, weshalb er von ihm nur zum Schluss, wie verschämt und zaghaft noch ein Wort gesprochen habe. Er hat vielmehr den wissensstolzen Männern erst sagen müssen, dass sie das Wichtigste noch nicht wussten, nämlich, was es um Gott sei. Um wie vieles leichter hatte es Paulus im pisidischen Antiochien! Dort konnte er im jüdischen Betsaal sofort an die reiche Gottesgeschichte Israels anknüpfen, und Jesum verkündigen als die Erfüllung der Verheißung, und als die Vollendung der Geschichte Israels (Apg 13:16-41).

Bedeutung der Geschichte Israels

Was "Christus" bedeutet, wird erst verständlich im Rahmen der Geschichte Israels und aus dem prophetischen Wort. Zur Ausrichtung seines Wortes und seines Werkes benutzt Gott Menschen als seine Werkzeuge. Will er mit Menschen reden, so macht er diese Werkzeuge zu seinen Boten; will er etwas unter Menschen zustandebringen, so beruft er sie zur Tat in seinem Namen und in seiner Kraft. Das Wort in Gottes Namen und die Tat in seinem Dienst sind oft beieinander. Noah war ein solches Werkzeug Gottes noch vor der Erwählung Israels. An Israel tritt diese Art des Wirkens Gottes, dass er nämlich Menschen zu seinen Boten, und zu Dienern seines Willens macht, besonders deutlich zutage. Alles, was Israel geworden ist, ist es geworden durch diejenigen seiner Glieder, die Gott in seinen Dienst gestellt hat, und die sich von ihm in Dienst stellen ließen. In Gottes Dienst wurde Abraham zum Stammvater des Volkes. Besonders groß ist Moses Dienst als Mittler der Erlösung aus Ägypten und als Mittler des göttlichen Bundes mit Israel auf Grund des Gesetzes. Groß ist der Dienst Josuas. In Gottes Dienst standen die Richter; in Gottes Dienst die Propheten, deren eigentliche Reihe mit Samuel begann. Israels Geschichte ist ohne die lange Reihe dieser Beauftragten Gottes gar nicht zu denken. Sie machten die Geschichte Israels, so kann gesagt werden, obwohl der Herr der Geschichte Gott ist. Ihm wird aber von seiner Ehre nichts entzogen, wenn der Blick auf dem gewaltigen Einfluss von Männern wie Mose und Josua und anderen ruht. Denn was sie taten, taten sie ja in seinem Dienst. Deshalb war, und ist der Ungehorsam gegen Gottes Boten eine Verunehrung seiner selbst, und wird von Gott entsprechend bestraft.

Auch in der Menschheitsgeschichte gibt es eine Menge von Führern auf allen Gebieten der Lebensbewegung, in kleinerem und größerem und größtem Rahmen. Der größte Menschheitsführer mit dem übelsten Einfluss wird einst der Antichrist sein. Die Menschheit aller Zeiten untersteht dem Einfluss ihrer Führer in größerem Maß als sie ahnt und zugibt. Mögen nun die Menschheitsführer Israels an Einfluss überlegen sein, eines könnten sie nicht aufweisen: nämlich den göttlichen Ursprung ihrer Führerstellung. Die letzteren warfen sich nicht selbst zu Führern auf, hinter ihrem Einfluss stand auch kein finsteres Geheimnis. Sondern sie bekamen die Berufung zur Führerschaft zu einem Dienst. Die Führerschaft hebt in die Höhe; deshalb ist der Besitz von Führereigenschaften für eigensüchtige und eigenwillige Persönlichkeiten eine große Versuchung, und für die Verführten eine große Gefahr, vollends dann, wenn die Führerschaft, und der Einfluss, und das Ziel der Leitung dem Willen der Finsternis entstammt, ob es nun dem Führer und den Geführten zum Bewusstsein kommt oder nicht. Ehre ist derjenigen Führerschaft, die aus Gott ist auch eigen, und diese Ehre kann sogar für solche, die von Gott berufen sind, zu einer ernsten Gefahr werden, wenn sie nämlich zur Selbstüberhebung missbraucht wird. Aber der Ehre ist bei göttlich verliehener Führerschaft ein Gegengewicht beigegeben: solche Führerschaft ist Dienst Gottes. Die Ehre gebührt dem Auftraggeber, nicht dem Beauftragten; dem Herrn, nicht dem Knecht. Und noch in einem Sinn ist solche Führerschaft Dienst: nicht bloß gegenüber Gott, sondern auch gegenüber den Geführten. Ein göttlicher Führer hat nicht bloß Gott zu dienen, sondern denen ebenso, welche seiner Führung anvertraut sind. Diese Verpflichtung stellt solche Führer nicht bloß über die Geführten, sondern mitten unter sie hinein mit ihren Bedürfnissen, Nöten, Gefahren, Versuchungen und Sünden, ja mitten unter sie.

Der erwartete Messias

Gott hat in der Geschichte Israels viele Diener gehabt; und es waren Knechte darunter von ganzer Treue, die zugleich die Not des Dienstes auskosten mussten - wir denken an Männer wie Mose und Jeremia. Aber sie konnten nicht alle Bedürfnisse des Volkes befriedigen; sie konnten auch ihrem Auftrag bei aller Treue nicht ganz gerecht werden. Ihre Dienste waren immer nur Teildienste. Da hat Gott durch Prophetenmund verheißen, einen Mann in besonderer Weise mit dem Dienst am Volk zu beauftragen, der Gottes ganzen Rat und Willen an ihm auszuführen hätte, und ihn zu diesem Zweck in besonderem Maße auszurüsten, nämlich mit dem Vollmaß des Heiligen Geistes. Mit verschiedenen Namen ist er in der Schrift benannt. Mose hat ihn genannt einen Propheten nach seiner Art (5Mo 18:15); andere haben ihn als Hirten beschrieben; andere haben bezeugt, dass er der rechte König sein werde aus Davids Geschlecht (Jer 23:5). Einen zusammenfassenden Namen hat er bei Jesaja erhalten: der Knecht Gottes (Jes 40-66). Wegen seiner Ausrüstung mit dem Heiligen Geist, die als Salbung bezeichnet wird, weil Öl ein Sinnbild des Heiligen Geistes ist, wird dieser geweissagte Knecht Gottes auch der Gesalbte, hebräisch der Messias, genannt. Von seiner Salbung ist in dem großen Buch der Knechte Gottes die Rede (Jes 61:1). Ps 2:2 wird Gott und sein Gesalbter nebeneinander gestellt. Als Jesus kam, muss der verheißene und erwartete Knecht Gottes ziemlich allgemein als Messias bezeichnet worden sein. So hat Andreas seinen Bruder Simon für Jesum erwärmt, indem er ihm sagte: "Wir haben den Messias gefunden" (Joh 1:41); erwartet und gesucht war er schon lange; nun ist er erschienen und gefunden; Jesus ist es.

Auch über die Grenzen des eigentlichen Israels war die Erwartung hinaus gedrungen; die Samariterin hat es ausgesprochen: "Ich weiß, dass der Messias kommt" (Joh 4:25). Bei Jesu Verurteilung vor dem jüdischen Gericht ging es, als sich kein sonstiger stichhaltiger Grund finden ließ, um die große Hoffnung Israels, um den Messias: "Bist du in Person der Messias?" (Mk 14:61). In der letztgenannten Stelle findet sich das griechische für das hebräische Wort Messias, nämlich Christus.

Wer ist also Christus? Er ist der, der in Gottes Auftrag und in Gottes Kraft, Gottes Rat über Israel zu Ende führt. Vom Werk Jesu an der Völkerwelt ist ZUNÄCHST nicht die Rede, wenn Jesus der Messias, oder der Christus genannt wird. Diese Wahrnehmung mag uns Heidenchristen zuerst befremden oder gar uns wehtun. Denn uns ist der Gedanke über alles wichtig, dass Jesus für die ganze Menschheit kam. Das soll auch gar nicht bestritten werden. Aber das Evangelium war zuerst nur für die Juden da; siehe die, für unser Gefühl fast verletzende, Abweisung des kanaanäischen Weibes durch Jesus, der ihre Bitte erst dann erfüllte, als sie in "heiligem Trotz" darauf beharrte (Mt 15:24). Dieser Vorzug Israels bei der Zuteilung des Evangeliums ist vom Paulus bestätigt worden, sowohl durch sein tatsächliches Verhalten bei seiner Evangelisationstätigkeit, wo er sich stets zuerst der jüdischen Bevölkerung zuwandte, als auch durch sein lehrhaftes Wort: Röm 1:16 bei Menge: "Die Heilsbotschaft ist eine Gotteskraft, welche allen, die sie im Glauben annehmen, Rettung bringt, wie zunächst den Juden, so auch den Griechen." Also der Völkerwelt kommt das Evangelium auch zugute; aber für die Juden ist es in erster Linie bestimmt. So hat der Heidenmissionar Paulus geurteilt, sogar nach der Verschuldung Israels an Jesus! Paulus ist damit nicht aus der Bahn Jesu gewichen. Denn Jesus hat sein Christusamt, das doch wesentlich den Dienst an Israel in sich schloss, bejaht, nicht bloß für seine irdische, mit dem Kreuz abschließende Zeit, sondern auch im Blick auf sein Sitzen zur Rechten Gottes und auf sein Wiederkommen. Er hat damit ausgesprochen, dass sein Auge auf dem Thron der Ehren Israel zugewandt sei, und dass er bei seinem Kommen Gottes Ratschluss an Israel zur Vollendung bringt.

Jesus, der König Israels

In diesem Zusammenhang gehört Jesu KÖNIGSamt. Als König ist er bereits dem David bezeugt worden, und die Botschaft, dass der Verheißene das Königsamt haben werde, ist nie mehr verstummt. Er ist ja dann auch tatsächlich in Israels Königshaus hineingestellt worden. Einem stolzen Baum glich es damals nicht mehr, nur noch einem Baumstumpf, der einen Trieb, einen Schössling, einen Zweig, ein Reis treibt. Gerade so war's verheißen (Jes 11:1). Der ihm rechtlich zum Vater bestellte Joseph war Davids Nachkomme über die Königslinie des Geschlechts (Mt 1). Die Vermutung, dass in Lk 3:23ff. der Stammbaum seiner Mutter vorliege, wird schwerlich unrichtig sein; dann war Maria aus Davids Geschlecht, nur hing sie mit dem Stammvater über eine Seitenlinie zusammen. Als Davids Sohn wurde Jesus manchmal geehrt; er hat diese Benennung nie abgewiesen. Um den Königsnamen ging der Kampf vor Pilatus. Was der Messias sei, das hätte der Römer nicht verstanden. Mit der Beschuldigung, dass Jesus das Christusamt in Anspruch nehme, wäre Pilatus zur Verurteilung Jesu nicht zu zwingen gewesen. Aber das Festhalten Jesu am Königsamt bot eine Handhabe gegen Jesus, weil er auf diese Weise mit einiger Verdrehung zum Empörer gestempelt werden konnte. Da warfen die Führer des Volks, die doch den Sturz des Kaisertums ersehnten, ihre Kaisertreue in die Waagschale und taten, als ob sie den Kaiser verteidigen müssten, gegen seinen schwachen Vertreter und gegen den Empörer Jesus, und erzwangen so seine Verurteilung. Jesus wurde als König Israels verleugnet, aber er selber hat sein Königsamt nicht verleugnet. Die Überschrift am Kreuz bezeugt, warum er starb und sterben musste: als Israels König (Joh 19:19).

Als der König Israels! Noch mehr als sein Christusamt bezeichnet sein Königsamt seine Zugehörigkeit zu Israel. Als den Christus darf auch die heidenchristliche Gemeinde Jesum in Anspruch nehmen. Aber seine Begrüßung als König, bleibt Israel vorbehalten; nur in übertragendem Sinn können wir ihn unsern König nennen. "Euer" König ist er, hat Pilatus gesagt. Das hat er gesagt als Vertreter der Völkerwelt. Zwar traten und treten alle, die aus der Völkerwelt zum Glauben kamen und kommen, ganz nahe an Jesus heran, und Israels König wird auch ihr König. Aber zunächst und zuerst ist er der König von Israel, und bleibt es in besonderem Sinn. Wenn diesem Volk einmal die Augen für Jesus aufgehen, dann grüßt es ihn als seinen König.

Jesus und die Gemeinde

Rückt Jesus der Gemeinde nicht ferner, wenn er als Israels König erkannt, und wenn wahrgenommen wird, dass auch sein Christusamt aus Israels Geschichte herausgewachsen ist? Es soll nicht bestritten werden, dass auf diese Weise ein gewisser Abstand zwischen der Heidenchristenheit und Jesus entsteht, wenn seine wesentliche Zugehörigkeit zu Israel ins Licht gestellt wird. Diese besteht aber auch im Neuen Testament. Siehe die tiefernsten Worte des Paulus an die Heidenchristenheit am Schluss seiner Ausführungen über Israels zu-Fall-kommen an Jesus (Röm 9-11, besonders Röm 11:11-32). Israel ist die Wurzel, die Heidenchristen sind die Zweige; Israel ist der edle Ölbaum, dem Zweige ausgebrochen sind wegen des Unglaubens, die Heidenchristen sind nur eingepfropft. Der gleiche Ernst Gottes, der die natürlichen Zweige nicht verschont hat, kann auch die eingepfropften wieder entfernen. Die gleiche Güte Gottes, die die wilden Zweige nicht verschont hat, kann auch die natürlichen Zweige wieder einfügen. Was also der aus der Völkerwelt gesammelten Kirche ziemt, ist heißer Dank dafür, dass sie auch angenommen worden ist. Israel wurde zuerst angenommen, damit über Israel das Heil auch zu den Völkern gelange. Israel hat sein Abbild im erstgeborenen Sohn. Die Nachgeborenen sind Brüder des Erstgeborenen; aber sie neiden ihm seine Stellung als Erstgeborener nicht, zumal wenn der Erstgeborene mit dem Vater an seinen jüngeren Brüdern arbeitet und für sie mit sorgt.

Der Gesandte Gottes

Das Christusamt ist das umfassendste Amt; sein Königsamt ist nur ein Ausschnitt seines Christusamtes. Wie reich wird der Inhalt dieses Amts beschrieben, wenn man nur nachliest und überdenkt, was Jesus als Zweck seines Kommens und seiner Sendung genannt hat! Mt 5:17: zur Erfüllung des Gesetzes und des ganzen prophetischen Worts: Mt 9:13: die Sünder herbeizurufen; Lk 19:10: das Verlorene zu suchen und zu retten (selig zu machen); Mt 20:28: zum Dienen und zur Hingabe des Lebens als Lösegeld für viele; Mk 1:38: zum Predigen, d. h. das Heils anzubieten, Joh 10:11: dass die Schafe Leben und volles Genüge haben; Lk 4:18: um den Armen die frohe Botschaft zu bringen. Die ernste Seite seines Amtes hat er aber auch nicht verschwiegen: Lk 12:49: "Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen“, die Erde in Brand zu setzen. So sehr er betont hat, dass der eigentliche Zweck seines Kommens der Friede sei, nicht das Gericht, so hat er doch auch, weil er mit der Sünde und dem bewussten Widerstreben nicht einig sein kann, tiefernste Worte gesagt. Mt 10:34.35: er sei gekommen, das Schwert zu bringen und Entzweiung hervorzurufen zwischen den Allernächsten; Joh 9:39: "zum Gericht bin ich auf diese Welt gekommen mit dem Zweck und Erfolg, dass die Nichtsehenden sehen lernen und die Sehenden blind werden": gemeint ist das Gericht, das sich bereits im irdischen Leben vollzieht, sofern der Glaube und Unglaube der Endpunkt einer inneren Geschichte sind; in gleicher Weise ist Joh 3:17-21 ausgeführt, dass seine Erscheinung auf Erden für manche zum Gericht werde, obwohl er nicht zum Zweck des Gerichts gesandt sei, sondern zur Errettung der Welt.

Zusammenfassend kann als Inhalt von Jesu Christusamt genannt werden, die Ausführung und Durchführung und Vollendung aller Werke Gottes. Gott hat das Wirken nicht aufgegeben; vielmehr ist der Sohn in allem seinem Handeln fortwährend durch das Handeln des Vaters bestimmt (Joh 5:17-30). Aber der Vater hat ihm seine großen Werke übertragen, „der Wille des Herrn kommt durch ihn zur Ausführung" (Jes 53:10 bei Menge). Er ist Gottes rechte Hand, der Mittler, durch den alles Wirken Gottes hindurchgeht bis zu dem Augenblick, da er sein Amt in des Vaters Hände zurücklegt (1Kor 15:28). Er ist der Mittler der Erlösung. Gott hat die Erlösung gewollt und vorbereitet und durchgeführt (2Kor 5:19); aber er tat es durch den Gekreuzigten. Und der Gekreuzigte hat sterbend mit lautem Ruf der Welt bezeugt, dass er im Auftrag Gottes gehandelt und gelitten habe, und nun in seinem Dienst sterbe. Denn das Wort: "es ist vollbracht!" "es ist ganz durchgeführt" (Joh 19:30), ist der frohe Ruf des Knechts, der seines Herrn Auftrag erledigt hat, besser gesagt: des Sohnes, der das ihm vom Vater übertragene Werk zur Ausführung gebracht hat (Joh 17:4).

Die Erlösung ist das Herzstück der Werke Gottes und darum ist das Kreuz der Hauptzeuge dessen, was Gott getan hat. Aber der Erlösung geht die Schöpfung voraus und folgt der Abschluss der Werke Gottes nach. Der Gekreuzigte wird im Neuen Testament nicht bloß als Mittler der Erlösung bezeugt, sondern bereits als Mittler der gesamten Schöpfung (Joh 1:1-3; Kol 1:16; Hebr 1:2). Er steht vor allen Geschöpfen als Sohn durch seine Vermittlung, und mit der Bestimmung für ihn sind sie geschaffen. Und Er, der alle Geschöpfe schuf, ist dann mit seiner Menschwerdung selber unter sie getreten als ihr Glied, und ist für die von ihm geschaffene Welt gestorben. Darum hat das Kreuz eine, das ganze Gebiet der Schöpfung umfassende Bedeutung; das Werk der Erlösung gilt nicht nur für Israel, sondern auch für ganze sichtbare und unsichtbare Welt.

Und wie die Erlösung und Schöpfung, so gehören zum Christusamt auch die großen Werke, die den Ratschluss Gottes zu Ende führen sollen: die Auferweckung der Toten, das Gericht, die neue Schöpfung. Das Reich ist Gottes; aber Gott schafft es, und führt es herbei durch den Sohn, bis "die Herrschaft der Welt Gottes und seines Christus geworden ist" (Offb 11:15).

Das Verständnis des Christusamts Jesu hat tiefgreifende Folgen für das ganze Glaubensleben. Es hört der Zwiespalt zwischen Gott und Christus auf. Weithin herrscht dieser Zwiespalt: wem gebührt die Ehre? Gott ODER Christus? Der Zwiespalt herrscht nicht bloß innerhalb der Christenheit, sondern er reicht bis tief hinein ins Herz der einzelnen Christen. Um Gottes willen wird Christus geringer geachtet, um Christi willen wird der Vater zurückgestellt. Wo liegt der Fehler? In der Fragestellung! Es darf nicht heißen: Gott oder Christus? Sondern Gott durch seinen Christus! Und sein Christus ist Jesus, der Gekreuzigte. Darum darf ein Christ ohne jede Bedenken Gott und Jesus nebeneinander stellen; er soll und darf Jesum anrufen als den Herrn um Gottes willen; und soll und darf den Vater anrufen um Jesu willen. Er darf ohne Bedenken, ob die Rangordnung gewahrt sei, sich freuen der Gnade des Herrn Jesu Christi und der Liebe Gottes, und weiß trotzdem, dass die Liebe Gottes es war, die ihm Christi Gnade zuwandte. Des Vaters Wille ist es, dass alle den Sohn ehren um dessen willen, dass der Vater ihn gesandt hat. (Joh 5:22-23). Und aus dem gleichen Grund, weil nämlich Jesus Gottes Gesandter ist, ist die Jüngerschaft gegenüber Jesus die Verherrlichung des Vaters (Joh 15:8). Darum hat Paulus gesagt, dass die willentliche Beugung unter Jesum als den Herrn, der Ehre Gottes des Vaters diene (Phil 2:11).

Das Kreuz

Nachdem nun von Jesu Person und Amt gesprochen worden ist, möge der Blick noch einmal sich dem Kreuze zuwenden. Jesu Kreuz ist der Knotenpunkt alles Geschehens, in welchem sich Vergangenheit und Zukunft von den fernen Äonen, ja von der Ewigkeit her bis in die fernsten Äonen, ja bis in die Ewigkeit hinaus, miteinander verschlingt, auf den alles Geschehen in der sichtbaren und unsichtbaren Welt zuläuft, und von dem es wieder ausgeht; in welchem menschliches und göttliches und teuflisches Handeln, menschliche Schuld und göttlicher Ratschluss, Gottes Gericht und Gottes Gnade sich zusammenschließen; an welchem Israel und die Völkerwelt gleichermaßen beteiligt sind; wo alles, was ein Menschenherz bewegen kann, wachgeworden ist vom unheimlichsten Hass bis zur tiefsten Liebe; wo Leiden und Wirken einen untrennbaren Bund miteinander geschlossen haben: das ist das Kreuz Jesu. Was kein Engel und kein Mensch erschöpfend sagen kann, was der Inhalt der ganzen Schrift ist, das ist im kürzesten Satz zusammengefasst, den die Bibel enthält, und der aus dem Mund des Gekreuzigten in die Welt hinausklang, als er sich anschickte zu sterben: tetelestai! (Joh 19:30). Luthers Übersetzung: "es ist vollbracht!" ist trefflich; und doch möchte man gern den Ruf des Gekreuzigten auch in unserer Sprache mit einem einzigen Wort wiedergeben. Dieser Ausruf erstreckt sich in die Länge und in die Weite, und in die Tiefe und in die Höhe. In ihm wird das Geheimnis der Welt und jedes Einzellebens offenbar, und zugleich wird in ihm die ganze Menschheit und das einzelne Menschenleben zu einem Rätsel, das nur durch den Gekreuzigten der Lösung zugeführt werden kann.

Des Paulus ganze Gotteserkenntnis, seine ganze Theologie ging zusammen in dem Satz: "Jesus ist der Messias oder der Christus; und zwar ist er das als der Gekreuzigte" (1Kor 2:2). Er sagte den gescheiten Griechen: ich weiß nicht viel; ich kann euch nur etwas sagen von einem Mann namens Jesus. Das ist der Christus. Und er ist's geworden, als er gekreuzigt wurde. Den Galatern hat er Jesus Christus vor die Augen gemalt, und zwar in seiner Kreuzesgestalt (Gal 3:1). Der Gekreuzigte war der Inhalt seiner gesamten Botschaft. Alles, was er den Gemeinden sagte - und das war mehr, als was heutzutage für gewöhnlich in der Predigt dargeboten wird - ging von dem Gekreuzigten aus.

Am Sterben Jesu am Kreuz wird weithin nur das Leiden gesehen. Die Beobachtung, dass das Kreuz Christi, ein bis in die letzten Tiefen hinabgehendes Leiden in sich schloss, ist richtig. Es ist aber merkwürdig, dass das Evangelium dabei wenig verweilt. Jesus selber hat auf seinem Todesgang von diesem Punkt die Gedanken abgelenkt. Er begehrte kein Mitleid. Das schwere Empfinden der Weinenden sollte sich dem Gericht zuwenden, das in seinem Sterben offenbar werde, und von dem die Welt noch viel mehr ergriffen werde. Die Welt gleicht dem dürr gewordenen Holz. Solches Holz gehört ins Feuer. Und die Welt ist reif für das Gericht wie das dürre Holz fürs Feuer. Er selber war kein dürr gewordenes Holz; und doch geschah mit ihm, dem grünen Holz, das gleiche wie mit dem dürren. Dann war es aber klar, dass das Gericht vor der Tür stand. Darüber sollten die teilnehmenden Frauen weinen. Das Gericht sei so nah, dass es schon sie und ihre Kinder treffen werde (Lk 23:27-31). So hätte ein anderer unmittelbar vor solch schrecklichem Sterben nicht reden können. Kein Wort von seinen eigenen Empfindungen! Aber der große Ernst: nun ergeht Gottes Gericht! Es erfasst mich, aber noch mehr die ganze Welt, die ob ihrer Sünde dürr und morsch geworden ist. Und zugleich das völlig gute Gewissen, dass er selber nicht zum dürren Holz gehöre, sondern grün geblieben ist.

Damit hat Jesus den Blick vom Leiden weggelenkt, aber umso ernster hingelenkt auf das Handeln und zwar auf Gottes Handeln. Gottes Werk ist nicht bloß das Schaffen und Geben, sondern auch das Richten und Nehmen. Als Jesus starb, hat Gott gerichtet. Wen hat er gerichtet? Den Christus! Den Vertreter der ganzen Menschheit, den König Israels, den Mittler der Schöpfung! Indem er über den einen das Todesurteil sprach, der allein aus dem ganzen Gebiet der Schöpfung, aus dem ganzen Kreis der Menschheit - er gehörte ja beiden als ihr Glied an, und stand nicht bloß als ihr Herr über ihnen - Anspruch auf Gottes Wohlgefallen erheben konnte, erging sein Todesurteil über alles Geschaffene, nicht bloß über die Sünde, sondern auch über das sündenbefleckte Israel, über die tiefverschuldete Menschheit, über die verunreinigte Schöpfung, über die ganze Macht der Finsternis. Was hier ausgesprochen ist, ist noch nicht die ganze Wahrheit des Kreuzes, aber die grundlegende.

Gottes Gericht über den Christus

Dass vom Kreuze Gnade kam und kommt, ergibt sich erst auf dem Grund des am Kreuze erfolgten Gerichts. Es sei hier ein kurzer Satz des Paulus erwähnt, dessen eigentlicher Sinn oft nicht verstanden wird, und der zugleich ein Beispiel ist, wie der Blick vom Kreuz sein ganzes Denken formte. 2Kor 5:14 lautet bei Luther: „Wir halten, dass, so Einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben". Unwillkürlich liest man aus diesem Satz sofort die Kreuzesgnade heraus: er starb für alle, er starb allen zugute. Das Tröstliche soll aus den Worten des Apostels nicht gestrichen werden. Aber zunächst enthalten sie nichts Tröstliches, sondern sprechen aus, dass im Kreuz über die Gesamtheit Gottes Todesurteil gesprochen worden ist. "Der Eine starb als Vertreter der Gesamtheit. Daraus ziehen wir den Schluss: dann hat das Sterben die Gesamtheit erfasst" (= dann stehen alle vor Gott als Tote da; nicht erst als dem Tod Verfallene, sondern als bereits Tote, mögen sie auch dem äußeren Anschein nach noch so sehr als Lebendige erscheinen). Von dem Augenblick an, dass Paulus den Gekreuzigten als den Christus erkannte, also merkte, dass der Christus hatte sterben müssen, versank vor ihm alles Menschliche. Israels Herrlichkeit sank dahin, Israels Anspruch, Israels Gerechtigkeit; der ganze Mensch war entwertet; Fleisch! und "alles Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume": verdorrt, verwelkt! (Jes 40:6.7). Er konnte von da an keinen Menschen mehr so ansehen, wie man ihn für gewöhnlich betrachtet, wo man durch körperliche und geistige Vorzüge angezogen, oder durch äußere und innere Mängel abgestoßen wird. "Uns ist seitdem die Betrachtung und die Beurteilung eines Menschen nach seiner Außenseite nicht mehr möglich" (freiere Übersetzung von 2Kor 5:16); er sah im Menschen den Gerichteten. Die zeitlichen Gerichte Gottes und das letzte Gericht sind nur noch Auswirkungen, des auf Golgatha dem Grundsatz nach vollzogenen Gerichts.

Gott handelte auf Golgatha, indem er im Gericht über den Christus die ganze sichtbare und unsichtbare Welt soweit sie schuldig und verunreinigt ist, dem Tod und dem Verderben überantwortete. Aber auf Golgatha handelten auch Menschen. Sie führten die Menschheitssünde auf den Gipfelpunkt, indem sie das einzige reine Glied der Menschheit, das in Gottes Namen und in reiner Liebe ihm diente, aus der Menschheit ausstießen. Und hinter dieser schuldbeladenen Menschheit stand die Macht der Finsternis. Auf Golgatha ließ Gott die Menschheitssünde austoben; er schwieg. Aber im Schweigen redete er laut, indem er der vollendeten Sünde der sichtbaren und unsichtbaren Welt das Todesurteil sprach (Röm 8:3). Bis Golgatha hatte er Geduld mit der Sünde; er hatte an sich gehalten. Seit Golgatha hat - dies Wort muss richtig verstanden werden - seine Geduld aufgehört; das Gerichtsurteil liegt vor, und wartet nur noch auf Vollstreckung. Die Menschheit und die Welt gleicht seit Golgatha einem zum Tod Verurteilten, der seine Hinrichtung vor sich hat, auch wenn sie sich noch einige Zeit hinauszieht. So hat es Paulus den auf immer Neues lüsternen, und auf ihre Weisheit stolzen Griechen bezeugt, dass der Tag des Gerichts nahe sei (Apg 17:30.31); und den Römern hat er das Evangelium bezeugt auf dem dunklen Hintergrund des Gerichts (Röm 1:18 bis Röm 3:20).

Der Satz, der des Paulus ganze Theologie zusammenfasst, heißt: Der Christus musste sterben. Man kann in diesem Satz die Hauptbetonung auf zwei verschiedene Stellen legen. Im Bisherigen wurde betont: der Christus STARB. Wenn der Christus, der reine, gottverordnete Vertreter der Menschheit und Israels sterben musste, dann ist Gottes GERICHT offenbar geworden. Es ist aber auch nötig, auf CHRISTUS den Ton zu legen und zu lesen: der CHRISTUS starb. Diese Betonung bezeugt die am Kreuz ergangene und vom Kreuz kundgewordene GNADE. Der CHRISTUS starb: das spricht von der Gnade Christi. Gott ließ den CHRISTUS sterben: das zeugt von der erbarmenden Liebe Gottes. Der CHRISTUS starb - das heißt: der König starb seinem Volk zugut; der Vertreter der Menschheit starb für die von ihm Vertretenen; der Hirte für die Schafe; der Gerechte für die Ungerechten; der Eine für alle; der Mittler der Schöpfung für alles Geschaffene; der Gemordete für die Mörder. Und Gott vollzog das Gericht am eigenen Sohn, damit die Menschheit frei ausginge, damit er der Menschheit Gnade erzeigen könnte; er ließ den Mittler sterben, damit die Gegenseite leben dürfte.

Gericht und Gnade

Es gilt, beide Wahrheiten der Tatsache: der Christus starb! Gericht und Gnade. Das Gericht das auf Golgatha erging, steht im Dienst der Gnade. Und der Gnade, die auf Golgatha erzeigt wurde, steht gerichtlicher Ernst zur Seite. Am Kreuz ist Israel und die Menschheit in einer Handlung verurteilt und freigesprochen worden: verurteilt, indem ihr König STERBEN musste; freigesprochen, indem der KÖNIG starb für seine Untertanen. Der an Jesum Christum, den Gekreuzigten Glaubende, muss beides erfassen, nicht gedankenmäßig, aber lebensmäßig: ich bin verurteilt und: ich bin freigesprochen. WIE es der Glaubende fasst, das ist verschieden, da legt Gott keinem ein Joch auf. Der eine fasst zuerst die Begnadigung, muss aber mit der Zeit auch weiter vordringen, oder sich weiterführen lassen zum Ernst der Erkenntnis, dass die Begnadigung das ganze alte sündige Wesen, den ganze alten Menschen verneint. Ein anderer wird zuerst der Verurteilung inne, die vom Gekreuzigten her sich auf die ganze Vergangenheit legt und dann erst der Begnadigung. Andere erleben beides miteinander. Und im Fortgang des Glaubens muss immer die eine Seite die andere ergänzen. Bei allen Männern des Neuen Testaments sind diese dem Glauben notwenig eignenden Spannungen wunderbar ausgeglichen in der Vereinigung von heller Glaubensfreudigkeit und tiefem Glaubensernst.

Bei Paulus steht neben Röm 5 mit seiner tiefgründigen Freudigkeit der entschlossene Willensernst von Röm 6: ein Beharrenwollen in der Sünde ist für den Glaubenden ausgeschlossen. Neben Röm 7 mit dem unerbittlichen Ernst dem eigenen Ich gegenüber steht Röm 8 mit dem vollen Glück der Gotteskindschaft trotz allen Wartens und trotz feindlicher Gegenwirkung. Die Spannung ist nicht nur zwischen den Kapiteln, sondern auch innerhalb der Kapitel. In Röm 7 spricht Paulus über den Menschen das Todesurteil, auch über den frommen Menschen; nicht nur über den sündigen Willen, sondern auch über den guten, weil es der letztere nur bis zur Zustimmung zum heiligen Willen Gottes bringt, aber nicht zur Tat. In Rom 7:25 dankt er Gott, und zwar unmittelbar nach dem schmerzlichen Ausruf über sein Elend. Es wäre nach dm ganzen Zusammenhang des Textes und im Blick auf die Tatsächlichkeit des christlichen Lebens gewagt, diese Spannung dadurch beseitigen zu wollen, dass die Empfindung des Elends als Rückerinnerung an die Zeit der Glaubenslosigkeit, und das dankende Wort als Ausdruck des nunmehrigen Umschwungs gedeutet wird, also durch Beziehung der beiden miteinander in Spannungen stehenden Aussagen auf zwei gegensätzliche Zeiten seines Lebens.

Die Spannungen kehren nämlich in Röm 8 sofort wieder: damit, dass der Glaubende den Heiligen Geist empfangen hat, ist das Fleisch noch nicht beseitigt. Er empfindet es als Schmerz, dass er etwas Totes an sich hat, nämlich seinen Leib (Röm 8:10), aber etwas sehr Lebendiges, das immerfort beschäftigt ist, nämlich das Fleisch, das immerfort Ansprüche stellt, man solle seinen Begierden den Willen leihen (Röm 8:11.13). Der Leib ist tot, von Gott bereits gerichtet als Organ des allezeit Gott wiederstrebenden Fleisches; das Fleisch lebendig - eine schmerzliche Sache. Trotzdem Freudigkeit: der Leib wird leben; das Fleisch muss sterben - ihr dürft selber die Gerichtsvollstrecker über euer Fleisch sein im Besitz des Geistes. (Röm 8:11.13). Es folgen im gleichen Kapitel die großen Spannungen zwischen dem gegenwärtigen Besitz des Glaubenden und zwischen seiner Hoffnung (Röm 8:14-39). Die Spannungen sind vorhanden und werden empfunden; und trotzdem sind sie ausgeglichen; aber nicht so, dass die eine Gegensätzlichkeit um der anderen willen verneint, oder mit Vergewaltigung des Gefühls unterdrückt würde, die Spannung durch ein langsames oder rasches Wechseln zwischen den Gegensätzen zu beseitigen, ob nun dieser Wechsel einmalig oder mehrmalig vorgenommen wird; sondern so, dass beide Gegensätze gleichzeitig beherbergt, und durch die im Glauben vorhandene stete Bindung des ganzen Menschen an den Gekreuzigten und Auferstandenen, zu einer Einheit zusammengebunden sind. Siehe diese wunderbare Einheit: 2Kor 4:7-18; 2Kor 6:9.10; Phil 2:12.13; Phil 2:17.18.27.

In der Barth'schen Theologie ist neuerdings stark auf diese Gegensätzlichkeit aufmerksam gemacht worden. Aber vorhanden waren sie immer und müssen vorhanden sein. Der Versuch, die eine Seite auszuschalten auf Kosten der anderen, ergibt nicht nur ein einseitiges Christentum, sondern setzt das Christenleben in all seinen Teilen, im Wandel, im Wollen, im Empfinden, im Denken der Gefahr der Erkrankung aus. Die Krankheit kann sich nach der Seite der Schwermut neigen, aber ebenso nach der der Hochspannung und Überforderung aller Äußerungen des Christentums bei sich und bei anderen. Dann liegt die Gefahr der Schwärmerei sehr nahe. Schwermut und Schwärmerei - die letztere kann leichtblütig oder schwerblütig sich äußern - sind gefährliche Eingangspforten für die Beeinflussung aus der Tiefe, die christliches Leben zu hemmen und zu beseitigen trachten. Die Rückkehr zur nüchternen, und doch glaubensgewissen Art des neutestamentlichen Christentums, mit dem inneren Ausgleich der Spannungen und das Beharren auf der apostolischen Linie, ist ein unentbehrliches Hilfs- und Heilmittel gegenüber kranken und krankmachenden Strömungen des Christentums. Es sei noch verwiesen auf zwei ältere Lieder, die unter dem Grundton tiefer, dankbarer Freude den Spannungen des Christenlebens gerecht werden: das Lied: "Es glänzt der Christen inwendiges Leben, obgleich sie außen die Sonne verbrannt"; und das andere: "So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen; ja selig, und doch meist verwunderlich". Das erstere Lied nimmt seinen Standort mehr in der irdischen Welt, wo das Christenleben sich abspielt; das andere sieht die Gegensätzlichkeiten von oben aus. Die Vereinigung der Spannungen und der Blicke ergibt ein gesundes Christentum.

Die Spannungen des Christenlebens sind tiefer verankert: nämlich in den Spannungen, die das Christusamt Jesu umschließt. Schon am Kreuz treffen im Christusamt die Gegensätze zusammen, mit noch größerer Schärfe als im Christenleben. Sie sind ja im Christusamt an sich schon enthalten. Denn der Christus ist beides: Vertreter Israels und der Menschheit, und ebenso Beauftragter Gottes. Er gehört als Vertreter der Menschheit ganz zur letzteren, als Beauftragter Gottes ganz zu Gott. Wenn der Christus handelte, handelte die Menschheit UND Gott, der Menschensohn UND der Gottessohn. Wir können die Spannungen, die bereits vor der Kreuzigung im Innern Jesu vorhanden waren, kaum ausdenken, aber ahnen. Schon Johannes der Täufer hat damit gerungen. Der Kommende ist Richter - also übte er Gottes Amt an der sündigen Welt (Mt 3:10-12); und doch ist er Helfer, also steht er auf der Menschen Seite (Joh 1:29). Er rang mit der Vereinigung der Gegensätze, bis das Verhalten Jesu bei seiner Taufe ihm das Rätsel löste: er ist der Richter der Welt, indem er als das Lamm Gottes die Sünde der Welt zu seiner eigenen machte, sich damit belud, und sterbend sie als reines Opferlamm sühnte, und damit wegschaffte, Priester und Opfer in einem.

Die Spannung fand in den seltenen Fällen, da Jesus weinte, einen sichtbaren Ausdruck: am Grab des Lazarus trat er ganz auf Gottes Seite, und bejahte das Verhängnis des Todes über den Sünder, selbst wenn er die ihm Liebsten traf, als heilig und gerecht. Und gleichzeitig trat er ganz auf der Menschen Seite, indem er unter dem Gericht litt und mitlitt (Joh 11:35). Beim Einzug löste sich eine fast unerträgliche Spannung in Schluchzen: der König Israels ehrte das über sein Volk, ob seiner Unbotmäßigkeit hereinbrechende römische Strafgerichtn als heilig; und gleichzeitig erbarmte es ihn seines an seiner Sünde und unter seiner Schuld arm gewordenen Volks (Lk 19:41). Bei der Aufdeckung des Verräters und im Garten Gethsemane weinte er zwar nicht; aber durch seinen Geist gingen furchtbarer Erschütterungen. (Joh 13:21; Mt 26:37.38). Als Vertreter des heiligen Gottes musste er ein dem satanischen Willen verfallenes Glied abschneiden, und als Vertreter der Menschheit hätte er doch jedes Glied behalten und retten mögen.

Der Kampf in Gethsemane

In die Tiefen der Spannungen im Garten Gethsemane wagen wir nicht recht hineinzusehen. Da ballte sich alles, was auf ihn einstürmte von göttlicher, menschlicher und satanischer Seite, zu einem Knoten, und alles musste er allein durchkämpfen, ohne menschlichen Beistand, nur sich haltend an den Vater, und von ihm gehalten, aber nicht verschont. Er kämpfte das Kreuz im voraus durch. Seine Ruhe vor seinen Richtern und unter aller Qual war die Stille nach dem Sturm, eine im Kampf errungene, und mit gewaltigem Ernst festgehaltene Stille. Die Spannung vom Kreuz muss furchtbar gewesen sein: da handelte er für Gott und gleichzeitig für die Menschheit. Er stand dabei im Dienst der Gnade und gleichzeitig selbst unter dem Schrecken des Gerichts. Ja er konnte der Gnade nur dienen, indem er sich den Schrecken des Gerichts Gottes nicht verweigerte. Die Spannung löste sich im lauten Aufschrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mt 27:46). In dem nachherigen Siegesruf ist auch der Dank für die Lösung mit enthalten.

Die ungeheure Spannung des Christusamtes fand ihre Fortsetzung, zwar nicht im Innern Jesu, aber in der Gegensätzlichkeit der Tatsachen, in der Nebeneinanderstellung: gekreuzigt und gestorben - auferstanden. Das ganze Neue Testament ist auch in diesem Stück groß, indem es keine der beiden großen Tatsachen verkürzt: der Christus ist am Kreuz gestorben; der Christus ist auferstanden und lebt und regiert. "Der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist!" (Röm 8:34). Worüber soll man sich mehr wundern: über die heilige Energie, mit welcher die Männer des Neuen Testaments den Gekreuzigten als den auferstandenen Herrn auf dem Thron Gottes bezeugten, ob es ihnen nun Spott, Widerwillen, Hass und Lebensgefahr eintrug; oder über das heilige Drandenken, dass sie über dem Erhöhten niemals den Gekreuzigten vergaßen, und auch im Löwen das geschlachtete Lamm sahen?

Die Spannung des Christenlebens

Hier kehrt auch die weiter oben besprochene Spannung des Christenlebens wieder: der Glaubende blickt nach dem Erhöhten und nach dem Sterbenden, und hält die Verbindung fest mit beiden, die doch nur Einer ist. Im ganzen Neuen Testament ist der Glaube gleich stark auf den Erhöhten, wie auf den Gekreuzigten bezogen: die Spannung ist ausgeglichen. Der Christenheit seither ist dieser Ausgleich nicht immer gelungen. Vielleicht am meisten ist er bei Luther wahrzunehmen; darum ist sein Christentum so gesund, und das Luthertum Luthers ist immer wieder ein Gesundbrunnen für kränkelnde und kranke Formen des christlichen Lebens. Dem nachfolgenden Luthertum lag der Blick auf den Gekreuzigten näher als auf den Auferstandenen und Erhöhten. Dass auf lutherischem Boden das Passionslied mehr gelang als das Osterlied, hat tiefe Gründe. Aber trotz seiner gewissen Verkürzung des Blicks auf Jesu Siegesgestalt, ist die lutherische Betonung des Glaubens an den Gekreuzigten sehr wertvoll, und enthält eine wichtige Berichtigung solcher Gestaltungen des Christenglaubens , die über dem Siegesleben in Gefahr kommen, den Kreuzesboden des Sieges zu vergessen oder wenigstens hinan zu setzen, und die deshalb auch der Gefahr der Schwärmerei eher ausgesetzt sind, Kreuzesboden ist zugleich Gerichtsboden. Sieg kommt nur zustande nach Gericht und unter Gericht. Siegesbewusstsein, das nicht das Kreuz Christi im Hintergrund hat, ist gefährlich und kann zum Fall führen. Solches Siegesbewusstsein schließt manchmal überraschend schnell einen Bund mit der Welt und mit dem Fleisch, die doch beide am Kreuz gerichtet worden sind.

Ein Christ ist beides: in der Höhe und in der Tiefe, am Thron und unter dem Kreuz. Und die Kirche muss beide Gestalten haben: Siegesgestalt UND Kreuzesgestalt. Begehrt sie nur Siegesgestalt, so weigert sie sich des Kreuzes. Und sie muss doch "Kirche unter dem Kreuz" bleiben. Die Herrlichkeitsgestalt ist dem Reich Gottes vorbehalten. Aber der Eingang der Gemeinde Jesu in das Reich Gottes kann nur durch viele innere und äußere Bedrängnisse hindurch erfolgen (Apg 14:22).

Lies weiter:
3. Der Beginn der neuen Menschheit