Welt- und Heilsgeschichte zur Zeit der vier Weltreiche

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Abschrift des Heftes: Die Gemeinde Jesu Christi
in ihrer Bedeutung für Himmel, Erde, Zeit, Ewigkeit
Friedrich Malessa, Samplatten (Ostpr.)

Paulus Verlag Stuttgart

Siehe weitere Abschriften
Inhaltsverzeichnis

II. Welt- und Heilsgeschichte der Ekklesia

6. Welt- und Heilsgeschichte zur Zeit der vier Weltreiche

Die Weltgeschichtsdarstellung der Bibel erfährt jetzt eine weltumspannende Weite. In der vorigen Epoche beschränkte sie sich auf einen schmalen Pfad. Israels Volksleben begrenzte sie fast ausschließlich. Israels Grenzen sind ihre Grenzen. Nachbar- und Weltvölker finden nur Erwähnung soweit sie mit Israel in Berührung gelangen. Nun aber ist es so, als ob der Talweg durchschritten, und die Höhe erreicht ist. Ein Blick in die weite Welt ist gegeben.

Aber Israel selbst wird als Geschichtsfaktor beiseite gestellt. Wie es dazu kam, möge uns Jakob Kröker in seinem vorzüglichen Buch: „Weltreich und Gottesreich“ (S. 52-55) sagen. „Die Welt stand damals wieder in bewaffneter Fehde einander gegenüber. Pharao Necho II. von Ägypten, der zu den tatkräftigsten und glänzendsten Herrschern des Nilreiches gehörte, war mit seinen Truppen an einer Bucht des Mittelmeeres nahe der Seestadt Akko gelandet (Ri 1:31). Der Landungsplatz lag nördlich vom Gebirge Karmel und bildete den Schlüssel zu Galiläa. Von hier aus führte auch die große Handelsstraße nach Damaskus, von wo aus sie sich dann nordwärts zum Oberlauf des Euphrat fortsetzte.

Nechos Kampf sollte dem wankend gewordenen Weltreich Assyrien gelten, das sich durch den Einfall wilder Skytenhorden und durch die Bedrohung von Seiten der Meder stark geschwächt sah. Denn Necho erhob Anspruch auch auf die weiten Ländergebiete, die zwischen der Küste des Mittelmeeres und dem Strome Euphrat lagen. Dieses sein Unternehmen fiel in die letzte Regierungszeit des frommen Königs Josia in Jerusalem. Der Herrscher Ägyptens ließ dem König Judas zwar sagen: „Nicht wider dich ziehe ich, sondern wider meinen Erbfeind (Assur), und Gott befahl mir zu eilen. Versündige dich nicht gegen Gott, der mit mir ist, damit er dich nicht verderbe“ (2Chr 35:21ff.) Josia misstraute jedoch den Worten Nechos, sammelte eine Heeresmacht und zog gegen den Ägypter. Bei der uralten Stadt Megiddo, die dank ihrer strategischen Lage südöstlich vom Karmelgebirge die ganze Ebene Israel beherrschte, kam es zum Kampfe. Das schwache Heer Judas wurde geschlagen und Josia holte sich hier seine Todeswunde. Erschütternd war die Klage, die das ganze Volk über den Tod des Königs erhob. Offenbar ahnte man, dass mit ihm „das letzte Abendrot des Reiches Juda und der Glanz der Königskrone des Hauses Davids“ erlosch.

Ein jüngerer Sohn Josias namens Joahas wurde von Juda gesalbt und als Nachfolger für den Thron Davids bestimmt. Necho ließ ihn aber auf seinem Rückweg in sein Lager nach Ribba kommen, legte ihn in Ketten und nahm ihn als Gefangenen mit nach Ägypen. Hier starb er. Jedoch an Stelle Joahas setzte Necho dessen älteren Bruder Eljakim als tributpflichtigen Vasallenkönig ein und gab ihm den Namen Jojakim. Nachdem Jojakim einen Tribut von einem Talent Gold und hundert Talenten Silber von seinem Volk zusammengebracht hatte, zog Pharao Necho heim (2Kö 23:30ff.). - Am Euphrat vollzogen sich indes große und gewaltige Dinge. Das assyrische Weltreich brach zusammen, und seine Hauptstädte Ninive und Assur gingen in die Hände des siegreichen alten Königs Nabopolasser von Babylonien und des Mederkönigs Kyraxares über. Sie hatten gemeinsam das Assyrerreich angegriffen, besiegt und dessen Weltherrschaft für immer gebrochen. Mit Assyrien ging nicht nur ein Reich zugrunde, das noch vor kurzem Vorderasien beherrscht hatte; das ganze Volk wurde vernichtet, so gründlich wie kein anderes Volk. Selbst die Zerstörung Karthagos traf nur eine Stadt, nicht eine ganze Nation. Es spricht sich in dieser Vergeltung klar und furchtbar der ungeheure Hass aus, der bei den Völkern Asiens gegen die Assyrer angesammelt war.

Angesichts dieser letzten weltpolitischen Ereignisse war Pharao Necho im Jahre 606 wieder nach Assyrien aufgebrochen, wo er offenbar einen wesentlichen Teil seiner Truppen zurückgelassen hatte, um die westlichen Länder des assyrischen Riesenreiches als sein Herrschaftsgebiet zu beanspruchen. Dem Vordringen Nechos glaubten jedoch die Sieger ein militärischen Halt gebieten zu müssen. Der betagte und schwer erkrankte König Nebopolasser übergab den Oberbefehl über die babylonischen Truppen seinem kühnen Sohn und Thronerben Nebukadnezar. Ihm wurde die schwere Aufgabe, die von Pharao Necho eroberten Provinzen wieder zurückzugewinnen. Zu diesen Gebieten gehörte auch Juda.

Entstehung der Welt-Reiche

Wahrscheinlich spricht der Prophet Habakuk von diesem ersten Auftreten Nebukadnezars und dessen wilden, ungestümen Reiterscharen (Hab 1:5-11). Das große Treffen zwischen Pharao Necho und dem neuentstandenen Weltreich Babyloniens unter der Führung des kühnen, jungen Nebukadnezars fand nun bei Karchemis am Oberlauf des Euphrat statt. Es war die uralte Königsstadt der einst mächtigen Hethiter (1Mo 23:2). Hier erfolgte nun jene große Entscheidungsschlacht, die Nechos Macht völlig zusammenbrechen ließ. Er konnte kaum noch sein Leben retten und sah sich bis an die Grenzen Ägyptens vom Sieger verfolgt. Dies geschah in den ersten Monaten des vierten Regierungsjahres Jojakims von Jerusalem (Jer 46). Im neunten Monat des Jahres, also 605 v. Chr., stand der neue Weltherrscher auch vor den Toren Jerusalems, brach den Widerstand Judas, legte den König Jojakim in Ketten und führte ihn selbst mit vielen andren aus dem jüdischen Adel und den höheren Bürgerkreisen als Gefangenen nach Babel.“ (soweit Kröker).

Ein ganz neues Weltbild taucht auf, und wird von dem in Babel gefangenen jüdischen Jüngling Daniel gezeichnet. Die Vorgänge, Anlässe und Umstände übergehen wir; die möge man im Danielbuch nachlesen. Uns interessiert hier nur der Verlauf der Weltgeschichtslinien.

In den Kapiteln Dan 2 und Dan 7 werden vier Weltreiche dargestellt und charakterisiert, die sich einander ablösen und die ganze Weltzeit überbrücken. Das erste Weltreich ist das babylonische, das in der Zeit von 602-536 v.Chr. bestand. Das zweite ist das medopersische, das die Zeit von 536-336 ausfüllt. Das dritte ist das griechische, das in den Jahre 336-31 v. Chr. besteht. Von 31 v. Chr. schloss sich das römische Weltreich an, von dem gesagt wird dass es eine Teilung erleben wird. Solches geschah in den Jahren 476 n. Chr., indem sich das Weltreich in Ost- und Westrom teilte. Weiter wird erwähnt, dass die beiden Teile in einem Mischverhältnis längere Zeit bestehen werden, bis sich am Ende zehn Staaten herausbilden, die unter sich zum Teil ein sehr bewegtes Verhältnis haben werden. Im siebten Kapitel wird der Entwicklung des Zehnstaatenbundes eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, indem gesagt wird, dass aus den zehn ein Herrscher sich besonders hervortun und drei demütigen, dann aber selbst die Vormachtstellung gewinnen wird.

Was bei der danielschen Geschichtsdarstellung noch beachtet werden muss, sind folgende zwei Tatsachen: 1. Die Geschichte ist zur Hauptsache prophetischer Art, d. h. Daniel zeigt zukünftige Weltgeschichte. Heute kann festgestellt werden, dass sich der größte Teil der prophetischen Geschichte haargenau verwirklich hat. An die Erfüllung des letzten Teiles dürfen wir getrost glauben. 2. Es werden die Weltreiche in einer Weise charakterisiert, die mit dem wirklichen Verlauf des Weltgeschehens tatsächlich übereinstimmen. Im zweiten Kapitel werden die Weltreiche in ihrem abnehmenden Wert, und im siebten Kapitel in ihrem zunehmenden tierischen und bestialischen Wesen gezeigt. Die zwei Linie damit angedeutet:

a) beständige Abnahme des Lebenswertes,
b) beständige Zunahme des Raubwesens.

Das Ende dieses Weltgeschehens ist in bildlicher Weise so wiedergegeben: „Aber zur Zeit solcher Königreiche wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird; und sein Königreich wird auf kein anderes Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und zerstören; aber es wird ewiglich bleiben. Wie du denn gesehen hast einen Stein, ohne Hände vom Berge herabgerissen, der das Eisen, Erz, Ton, Silber und Gold zermalmt“ (Dan 2:44.45). „Danach wird das Gericht gehalten werden; da wird dann seine Gewalt weggenommen werden, dass er zugrunde vertilgt und umgebracht werde. Aber das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden, des Reich ewig ist, und alle Gewalt wird ihm dienen und gehorchen“ (Dan 7:26.27).

Heilsgeschichtliche Schau

Bei der heilsgeschichtlichen Schau stellen wir zunächst folgende Tatsachen fest: 1. Christus der Erlöser wird vorgeschattet durch die Ekklesia, die in der persönlichen Berufung und in der individuellen Haltung im Opfer den Erlöser und den Erlösungsdienst wahrhaftig darstellt. 2. Christi Reich, das Reich des Erlösungsherrschers wird vorgeschattet durch die Ekklesia, die in der völkischen Berufung und in der reichsmäßigen Haltung im Opfer, Tempeldienst, Priestertum, Königtum u. a. m. das Reich des Erlösers und seine Erlösungsherrschaft naturgetreu darstellt. 3. Neu kommt hinzu die Vorschattung des Reiches, in dem sich der Gegenspieler Christi, Satanas, in seinem Antichrist, mit einer konzentrierten Macht dem Christus entgegenstellen wird, um durch die Kundgebung der Selbsterlösung die Christuserlösung zu bekämpfen. Die Vorschattung des Antichristenreiches beginnt offensichtlich mit dem babylonischen Weltreich. Antichristliche Typen waren selbstverständlich auch schon früher, aber nicht in dem Absolutismus und Universalismus, der zum Wesen des Antichristen einmal gehört.

Sehr beachtenswert ist hierbei auch die Tatsache, dass die „Vollmasstypen“ des Antichristen in der Zeit der Reichsekklesia in die Erscheinung traten. Wer diese Linie von der Zeit der Vorschattung in die Zeit der Wesenhaftigkeit zu verlängern weiß, findet bestätigt, dass der Antichrist sich in der Zeit der Reichsekklesia offenbaren wird, nachdem die Leibesekklesia ihr Werk beendet und hinweggerückt sein wird.

In der Zeit der Vorschattung sieht die Sache so aus: Elia, als Vertreter der Leibesekklesia, hat sein Werk getan und wird hinweggerückt nachdem die Reichsekklesia „königlich und reichsmäßig“ nicht nur ihren Lauf angetreten, sondern schon hart vor der Grenze des „Antichristenreiches“ steht. - Wird es dir jetzt klar, warum gerade Mose und Elia zu der Reichsbesprechung mit Jesus auf dem Verklärungsberge erschienen? Doch weil sie die Vertreter der im doppelten Range stehenden Ekklesia sind: Mose als Vertreter der Reichsekklesia, und Elia als der Vertreter der Leibesekklesia.

Vorgeschattetes Antichristenreich

Doch nun zurück zum vorgeschatteten Antichristenreich. Man überprüfe, wie genau Nebukadnezar den Antichristen vorbildet mit seinem Absolutismus in weltlicher Hinsicht, und mit seiner kultischen Forderung, d. h. seinem „Christusanspruch“ in religiöser Hinsicht. Typisch ist er mit seiner Residenz Babel und mit seinem Machteinfluss in Jerusalem. Typisch ist er mit seiner Residenz Babel und mit seinem Machteinfluss in Jerusalem. Typisch mit seiner Bildanbetung (siehe Gegenstück Offb 13:11-15), typisch mit seinen „sieben Zeiten“ (Dan 4:13) hinweisend auf die 70. Jahrwoche.

Soweit das Antichristentum im babylonischen Reich nicht vorgebildet ist, denn es wird wahrhaftig mannigfaltig sein, findet es eine lückenlose Ergänzung in den drei weiteren Reichen, die wesensmäßig zur Einheit gehören. Darum dieses einheitliche und doch mannigfaltige Bild in deer Kolossalstatue. Skizzenghaft stellen wir uns die Bedeutung der Statue vor:

Babylonisches Reich Haupt = Despotismus in einer Person
Medo-Persisches Reich Brust = Despotismus in der Herrscherperson und dem gesetzvollführenden Rat
Griechisch-Mazedonisches Reich Leib = Despotismus in der Herrscherperson und dem Militarismus als Willensträger
Römisches Reich Beine = Despotismus in der Herrscherperson und dem zum Despotenwesen vereinigten Volk


Diese vier Weltreiche stellen in ihrer Gesamtheit und Wesenseinheit die Summe des Antichristentums dar. Sie sind aber auch nicht nur eine Wesensdarstllung, sondern gleichzeitig eine Geschichts- und Enddarstellung. Das Antichristentum des Endes wird hier in Wesen, Form und Inhalt vorgeschattet. Zur Erkenntnis des Antichristen und Antichristentums gehört die Gesamtschau, d. h. der Überblick und Einblick der vier Weltreiche. Die beiden danielischen Darstellungen in Kapitel Dan 2 und Dan 7 zeigen die Wert- und Wesensstruktur des ganzen Antichristentums!

Beim Überschauen der vier Weltreiche ist heilsgeschichtlich noch zweierlei zu beachten: 1. Das israelitische Volk ist in der Zeit der Weltreiche in den Hintergrund gestellt. Weder die Reichsform noch der Reichseinfluss dieses Volkes ist vorhanden. Israel geht unter die Nationen, geht aber nicht unter in den Nationen. Das Volkswesen bleibt bestehen auch ohne die Volksform, weil 2. es hernach, d.h. zur Zeit der Wesenhaftigkeit, das Reich einnehmen wird (Dan 7:27), nachdem das weltliche Gebilde durch den stein ohne Hände zermalmt sein wird (Dan 2:44.45).

Ergänzung des heilsgeschichtlichen Geschehens

Eine ganz einzigartige Ergänzung des heilsgeschichtlichen Geschehens ist in der danielischen Darstellung im neunten Kapitel zu finden. Wenn in den Kapiteln Dan 2 und Dan 7 nur so beiläufig die Ausschaltung des Volkes Israel erwähnt ist, so ist im neunten Kapitel der Zweck derselben mit besonderer Deutlichkeit dargelegt. Zunächst ist der Grund der Darlegung festzustellen. Die weit verbreitete Meinung, Gott habe dem Nebukadnezar auf seine selbst- und weltsüchtigen Fragen durch Daniel eine Antwort gegeben, teile ich nicht. Nach meiner Erkenntnis ist nicht die Weltreichsdarstellung das Primäre, sondern die Gottesreichdarstelltung! Nicht soll gesagt werden, wie sich Reich Gottes aus den Weltreichen entwickeln kann, sondern wie auch die Weltreiche dem Reiche Gottes unbedingt dienlich werden müssen. Die Offenbarung ist darum in erster Linie dem Daniel gegeben, und nicht Nebukadnezar. Nicht das Fragen des welt- und selbstsüchtigen Nebukadnezar hat Gott beantworten wollen, sondern die ehrlichen Heils- und Reichsfragen Daniel und seiner Getreuen. Freilich hat Gott auch einen Nebukadnezar als gewisses Werkzeug gebrauchen können, genau so wie er sogar den Teufel gebraucht, um Christus zum Heiland und Erlöser werden zu lassen. Dass bei diesem Handlangerdienst auch Nebukadnezar von seinem Schicksal unterrichtet wird, ist selbstverständlich. Es geht aber bei Gott letztlich nicht um die „Weltreichsklarheit“, sondern um die Reichsgotteswahrheit. Reich Gottes ist das Ende aller Wege Gottes; darum muss alles andere in der Perspektive des Reiches Gottes geschaut werden.

Die Verse Dan 9:1-23 sind für das eben Gesagte der beste Beweis, denn sie bringen zum Ausdruck, um wessenwillen die Klarlegung erfolgt. Man lese die Verse nachdenklich durch! Mit Dan 9:16 erfährt Daniels Gebet eine besondere Dringlichkeit. Es geht um die Heilige Stadt, um den heiligen Berg, um das Heiligtum, um die Offenbarungsstätte Gottes, also: um Gott und sein Reich! „... tue es und verzeuch nicht um dein selbst willen, mein Gott.“

Daniel hat schon zwei Offenbarungen gehabt, die ihn aber nicht befriedigten, im Gegenteil, noch mehr beunruhigten. Er konnte nämlich seine Offenbarung mit denen des Jeremia nicht in Einklang bringen. Ihm wurde durch Gott erklärt, dass erst vier Weltreiche vergehen müssen, alsdann wird sein Volk das Reich einnehmen. Jeremia durfte aber weissagen, dass schon nach 70 Jahren Israels Gefangenschaft beendet sein wird. Nun stand Daniel hier im 69. Jahr der Gefangenschaft und wusste nicht, wie die ihm besagten vier Weltreiche mit Jeremias 70 Jahren in Beziehung zu bringen seien. In seiner Herzenseinfalt zu Gott bestürmte er Gottes Gnadenthron im heißen Flehen, um endlich die befriedigende Klarheit zu erlangen. „Als ich noch so redete und betete, ... flog daher der Mann Gabriel ... und sprach: Daniel, jetzt bin ich ausgegangen, dich zu unterrichten“. Daniel erhält eine neue Offenbarung und damit eine der wichtigsten heilsgeschichtlichen Erklärungen.

Nicht um 70 Jahre handelt es sich jetzt, in denen Israel als „Reichsvolk“ ausgeschaltet ist, sondern „Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, so wird dem Übertreten gewehrt, und die Sünden abgetan, und die Missetat versöhnet, und ein Allerheiligstes gesalbt werden“ (Dan 9:24). Die von Jeremia prophezeiten 70 Jahre haben eine andere Bedeutung. Sie gingen buchstäblich in Erfüllung, indem unter Nehemia und Esra Israel einige Freiheit zugestanden wurden. Jedoch blieb Israel auch dann unter der Oberhoheit der Fremdherrscher. Die volks- und Reichsbedrückung hat damit keine Änderung erfahren.

Siebzig Jahrwochen

Die dem Daniel angezeigten 70 Wochen haben ein ganz anderes Zeitmaß. Was unter einer Woche zu verstehen ist, geht aus 3Mo 25:8 hervor: „Und du sollst zählen solcher Sabbatjahre sieben, dass sieben Jahre siebenmal gezählt werden, und die Zeit der sieben Sabbatjahre machen neunundvierzig Jahre.“ Es handelt sich also um 70 Jahrwochen = 490 Jahre. Damit empfängt Daniel eine Gesamtübersicht mit der Zielangabe, die er erwartet: „... und die ewige Gerechtigkeit gebracht ... und ein Allerheiligstes gesalbt werden.“

Diese Gesamtdarlegung erhält eine weitere Teilung,die die klare Einsicht ermöglicht. „So wisse nun und merke: Von der Zeit an ...“ (Dan 9:25-27). Ganz präzise werden die Angaben. Zunächst wird angezeigt, von welchem Zeitpunkt die Zeitrechnung beginnen soll: „So ausgeht der Befehl, das Jerusalem wiederum soll gebaut werden.“ Das geschah unter Darius, nachdem die von Jeremia geweissagten 70 Jahre um waren. Weiter wird gesagt, dass die 70 Jahrwochen durch drei besondere Ereignisse in drei Gruppen geteilt werden.

  1. 7 Jahrwochen für den Bau Jerusalems,
  2. 62 Jahrwochen bis auf den Gesalbten,
  3. 1 Jahwoche für den Bund und Bundesbruch des Antichristen mit Israel.

Die Erkenntnis über die Dreiteilung der 70 Jahrwochen ist von allergrößter Bedeutung. Die ersten 7 Jahrwochen sind sehr verständlich und werden mit den beiden Büchern Nehemia und Esra betätigt. Die zweite Gruppe von 62 Jahrwochen dürft ebenso leicht begreiflich sein zumal ausdrücklich gesagt wird, welcher Ereignis sie beschließt: Ausrottung des Gesalbten! Die dritte Gruppe, das ist die 70. Jahrwoche, ist nicht so leicht verständlich, schon weil sie zeitlich nicht gleich sich anschließt. Es darf hier keineswegs übersehen werden, dass Dan 9:26 ein Ereignis andeutet, das die 70. Jahrwoche von der 69. weit trennt! Wie heißt dieses Ergebnis? „... bis zum Ende des Streits wird’s wüst bleiben.“ Offenbar handelt es sich bei dieser Zeit des „Streites“ und der „Wüste“ um einen Zeitabschnitt in der Geschichte Israels, weil da von der Zerstörung der „Stadt“ und des „Heiligtums die Rede ist. Merken wir uns die Ausdrücke, die die Katastrophenzeit Israels kennzeichnen: Streit und Wüste! Diese Katastrophenzeit näher schildert, erübrigt sich, weil das „wüste“ Verhältnis Israels bis auf den heutigen Tag jedermann bekannt ist.

Israels wüste Zeit

Und doch müssen wir die für Israel wüste Zeit mit besonderer Sorgfalt ins Auge fassen, weil wir annehmen dürfen, dass Gott im Heilsgeschehen keine Lücke lässt, auch wenn ihm das Heils-Volk untreu wird. Ist das „Reichs-Volk“ als Heilsträger ihm untreu geworden, dann wird Gott andere Heilsträger finden. Wir dürfen es Gott zutrauen, dass er mit seiner Heilsverwirklichung nicht in Verlegenheit gerät.

Wie sieht die für Israel wüste Zeit vor und für Gott aus? Etwa auch wüst? Nimmermehr! Jesus kommt auf diese Zeit zu sprechen und sagt: „Und sie werden fallen durch des Schwertes Schärfe, und gefangen geführt unter alle Völker; und Jerusalem wird zertreten werden von den Heiden, bis dass der Heiden Zeit erfüllet wird“ (Lk 21:24). Jesus gibt dieser Zeit eine neue Benennung: „Heidenzeit“! und deutet damit an, dass in dieser Zeit unter den Heiden ein neues Heilsgeschehen offenbart wird.

Wir wollen nicht lange nach der Eigenart der Heidenzeit fragen, sondern gehen stracks zu dem Heidenapostel Paulus, um bei ihm die Heilsdeutung dieser Zeit zu erfahren. Dass Paulus für diese Deutung zuständig ist, hören wir aus seinem Munde: „dass mir ist kund worden dieses Geheimnis durch Offenbarung" (Eph 3:3). So wie Daniel durch die Gottesoffenbarung erfährt, dass über Israel eine „wüste Zeit“, d. h. eine Zeit des Geheimnisses im Heilsgeschehen Gottes eintreffen wird, so darf Paulus durch eine neue Offenbarung dieses für das „Reichs-Volk“ große Geheimnis lüften und stellt fest: „Das Geheimnis ist groß, ich sage aber von Christus und der Gemeinde!“ (Eph 5:32). Was ist das für eine Gemeinde? Die ins Wesenhafte herausgestellte, heranreifende, auf die Vereinigung mit der Reichsgemeinde wartende Leibes-Gemeinde!

Das ist die Ekklesia, die nach Eph 1:23 ist „sein Leib“, nämlich das Vollmaß des, der „alles in allen erfüllet“. Das ist die Ekklesia, die wir im Alten Testament in der persönlichen und individuellen Auswahlart festgestellt haben. Das ist die Ekklesia, die wir in den Glaubens- und Leidensmännern schattenhaft vorgebildet sahen, und die nun wesenhaft offenbar wird. Das ist die Ekklesia, die in den persönlichen Heilsträgern des A. T. ihr Wurzelland hatte und nun in der für Israel „wüsten Zeit“ ihr Wachstums- und Ausreifefeld findet. Das ist die Ekklesia, die schon vor dem Schattengebilde der Reichsekklesia war, ja schon lange vor ihr war (Kol 1:26).

Entwicklung der Leibes-Ekklesia

Nachdem die Reichsekklesia ausgeschaltet wird, d. h. nachdem ihre schattenhafte Vorbildung noch mehr schwindet, erscheint die Leibesekklesia auf dem Plan, jetzt aber in der Wesenhaftigkeit. Freilich erst wa chstümlich wesenhaft, d. h. sie ist noch nicht im Vollmaß, sondern in der Entwicklung hin zum Vollmaß.

Unverkennbar behält sie sowohl Christus als auch der Welt gegenüber die persönliche und individuelle Art. Vom herrschenden und nach Weltgeltung strebenden Wesen ist bei ihr keine Spur. Volksmäßige, reichsmäßige, dynastische, universalistische Bestrebungen sind ihr fremd. Monarchen, Residenzen, Gesetze kennt sie nicht. Ihr Verhältnis zur Welt ist gekennzeichnet mit den Worten: „Gäste und Fremdlinge“. Ihre Beziehungen zur Welt liegen auf dem heilsmäßigen Gebiet. Ihr Einfluss in der Welt ist evangelistischer Art. Ihre Waffen, mit denen sie unermüdlich kämpft, sind 'Wort und Geist!’

Mit ihren Heilswesen ist sie für die Welt aber auch sehr bedeutungsvoll, und zwar so sehr, dass sie vom Antichristentum und zuletzt vom Antichristen, als das „Aufhaltende“ (2Thes 2:7) stark empfunden wird. Ihr Dasein ist ungemein störend. Sie wirkt wie ein gefährlicher Hemmschuh, der den in voller Fahrt befindlichen modernen Fortschritts-Welt-Wagen aufhält.

Der Abschluss der Entwicklung der Leibesekklesia ist für sie selbst glorreich, für Christus lange erwartet, für die Welt befreiend. Durch die Entrückung wird die Welt von dem „Plagegeist“ erlöst. - „Erlösung von Christus!“

Über die Leibesekklesia in ihrer zeitlichen und ewigen Ausgestaltung kann hier nicht mehr gesagt werden. (Nähere Ausführungen darüber stehen in der Abhandlung: „Die Gemeinde Jesu Christi“) Bemerkt sei hier noch, dass die Entrückung der Leibesekklesia für die freie und ungestörte Entfaltung des Antichristen erforderlich ist.

Die Antichristen-Jahrwoche

Und nun kehren wir zu unserem Danieltext zurück und verfolgen die weitere Darstellung. Ganz unvermittelt folgt auf die Andeutung der „wüsten Zeit“ über Israel, die nun schon 1900 Jahre dauert, die Darlegung der noch ausstehenden 70. Jahrwoche, die zweifellos die Antichristen-Jahrwoche ist. Die Antichristenzeit ist welt- und heilsgeschichtlich so eigenartig und bedeutungsvoll, dass wir sie gesondert im nächsten Kapitel behandeln wollen.

Um Israels „wüste Zeit“ noch ganz zu Ende zu führen, ist es nötig, hier wenigstens anzudeuten, dass das zerstreute und verjagte Judenvolk am Ende derselben in Palästina sich sammeln wird, um dann wieder als Volk im Reich vereinigt zu sein, wenn für dasselbe die Stunde der wesenhaften Offenbarung eintreten wird. Die Heimkehr der Juden geschieht also noch in der für sie „wüsten Zeit“. Der Anfang hierzu ist gemacht.

Auch kann hier schon die Tatsache angedeutet werden, dass mit der Antichristenzeit das Antichristentum die ihm eigene, volle Wesenhaftigkeit annehmen wird. Das reich dieser Welt soll mit dem Reiche Christi das letzte Treffen haben, darum müssen beide Reiche volle Wirklichkeit annehmen. Die 70. Jahrwoche ist die Zeit der Wesensoffenbarung beider Reiche, sowohl des Christus, wie auch des Antichristus!

Merksatz: In der Zeit der vier Weltreiche, speziell am Anfang des vierten Weltreiches, wird die Reichsekklesia ausgeschaltet, d. h. ihre schattenhaften Umrisse verblassen, zufolge der lichtvollen Offenbarung der ins Wesenhafte übergehenden Leibesekklesia. Wie das neugeborene Kindlein, das seine Existenz schon im Mutterschoße hatte, tritt sie ins offenbare Dasein, wachstümlich, ausgestaltend, wirkend, beanspruchend, durchgreifend, zielstrebend, heranreifend, bis sie die Reife: „zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4:13) erreicht hat. - Das Vollmaß erhält sie nach der Erstlingsauferstehung und Entrückung bei der Leibeseingliederung am Richtstuhl Christi (2Kor 5:10). Der Augenblick ihrer wesenhaften Offenbarung ist nicht der Pfingsttag zu Jerusalem. Wer offene Augen hat, der sieht, dass der Pfingsttag noch ganz die Merkmale der Reichsekklesia trägt.* Die Leibesekklesia ist erst durch die Wirksamkeit des Paulus unter den Juden und Heiden (Heiden zur Hauptsache) erstanden.

*"Die Gemeinde in Jerusalem, eine prophetische Messiasgemeinde. Das zu Pfingsten verkündigte Evangelium wendet sich an das ganze Haus Israel. Pfingsten ist der Anfang einer Reihe wunderbarer Segnungen für Israel und die Völkerwelt.“

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7. Welt- und Heilsgeschichte zur Zeit des Antichristen