Und führe uns nicht in Versuchung

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Abschrift des Heftes: "Das Vaterunser“
von Friedrich Malessa, Samplatten (Ostpr.)

Philadelphia Buchhandlung August Fuhr, Reutlingen, 2. Aufl. 1952

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Inhaltsverzeichnis

Das „Vaterunser" in erbaulicher und prophetischer Deutung

7. Und führe uns nicht in Versuchung

A. In erbaulicher Deutung

Die sechste Bitte gibt einen wesentlichen Fortschritt an. Die Schuldvergebung der fünften Bitte darf nicht Theorie bleiben, sondern soll heilige Wirklichkeit werden. Die Schuld ist vergeben. Die Gemeinschaft mit Gott ist erstanden. Das Kindschaftsleben vor dem himmlischen Vater hat begonnen. Und nun bedarf es der Führung: „Und führe uns“.

Kindesleben ist anlehnungsbedürftig. Kindesleben bedarf der Lebensförderung. Denn es ist im Wachstum, in der Ausreife begriffen. Kindschaft ist restlos abhängig von der Vaterschaft. Nicht nur geburts- und lebensmäßig, sondern auch wachstums- und ausreifemäßig. „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15:5). Der Zweck des Kindeslebens ist nicht Kindschaft, sondern volle Sohnschaft. Der Wuchs des Kindeslebens hat das Ziel: „... bis dass wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachsenen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses des Christus“ (Eph 4:13).

Unser himmlischer Vater will nicht nur Kinder haben, die sich des Lebens freuen und mit ihrer Lebensfreude den Vater beglücken, sondern er will aus seinen Kindern Söhne habe, die seinen Heilsdienst stark und verantwortungsbewusst tragen. Im Sohnesstand sind seine Kinder nicht nur erbberechtigt, sondern auch dienstpflichtig. „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter“ (1Kor 3:9) und sind „Botschafter an Christi Statt“ (2Kor 5:20). Wie lebenswichtig ist das göttliche Geleit. Wie notwendig die Bitte: „Und führe uns.“

Bei einer Führung ist zweierlei zu beachten: Führer und Gefolgschaft. Dass Gott als Führer eine absolut autoritäre Haltung hat, steht außer Frage. In ihm allein liegt der Willensbeschluss und die Willensrichtung. Er allein hat die Bestimmung für das Unabänderliche und Änderliche. Er allein hat das Wort für die Dienstwaltung und Dienstgestaltung. Er allein begeht keinen Fehler. Er allein hat den Beschluss für den Anfang und das Ende der Geschehnisse. Er allein schuldet niemandem Rechenschaft. Er allein leidet keinen Widerspruch. Seine Maßnahmen kennen keinen Rückschritt, nur Fortschritt. Seine Maßnahmen sind nicht bestimmt von Ort und Zeit; sie sind allein begründet in ihm. Sein Auftrag ist unwiderruflich; sein Befehl bleibt. „Was er sich vorgenommen, und was er haben will, das muss doch endlich kommen, zu seinem Zweck und Ziel.“

Die Gabe des heiligen Geistes

Der ewige Vater ist gegenwärtig der absolute Führer durch seinen Geist. „... der wird euch in alle Wahrheit leiten“ (Joh 16:13). Sein Geist führt in seinem Auftrag. Sein Geist handelt nur nach seinem Willen, eben weil es sein Geist ist. Sein Geist ist aber als Führer nur da tätig, wo die große Geistesvoraussetzung ist: Vergebung der Schuld. „Tut Buße, und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, so werdet ihr empfangen die Gabe des heiligen Geistes“ (Apg 2:38). Die reinigende Wirkung des Blutes muss vorausgehen, wenn der Geist des Vaters neues Leben, Wiedergeburtsleben schaffen, und es dann führen soll. „Darum ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe es ist alles neu geworden“ (2Kor 5:17).

Die Haltung der Gefolgschaft entspricht der des Führers. Die Absolutheit ist auch ihr eigen. Ihr Verhältnis ist gekennzeichnet mit den Worten: „Gehorsam ist besser den Opfer“ (1Sam 15:22). Ihre Haltung wird charakterisiert mit der dritten Bitte, die der sechsten überstellt ist: „Dein Wille geschehe“. Die Worte Jesu sind ihr eigen: „Meine Speise ist die, dass ich tue den Willen des, der mich gesandt hat, und vollende sein Werk“ (Joh 4:34).

Welche Versuchung?

Nun spricht aber die sechste Bitte nicht nur die Führung aus, sondern bringt mit ihr einen Umstand in Verbindung, der uns sehr aufmerken lässt: „Und führe uns nicht in Versuchung.“ Kann ein Vater seine Kinder so führen, dass sie dem Versucher preisgegeben werden? Oder soll er etwa die Versuchung üben, die ihnen verhängnisvoll werden kann? „Niemand sage, wenn er versucht wird, dass er von Gott versucht werde. Denn Gott kann nicht versucht werden zum Bösen, und er versucht niemand. Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird“ (Jak 1:13.14). Wie sollte der Vater sein Kind, das er eben den Klauen des Versuchers und Verderbers entrissen hat, abermals in diese Verlegenheit bringen?. „Es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, dass er euch nicht lässet versuchen über euer euer Vermögen, sondern machet, dass die Versuchung so ein Ende gewinne, dass ihr’s könnt ertragen“ (1Kor 10:13). „Der Herr weiß die Gottseligen aus der Versuchung zu erlösen, die Ungerechten aber zu behalten zum Tage des Gerichts, zu peinigen (2Petr 2:9). „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallet“ (Mk 14:38). Eine Versuchung, „Die den Ungehorsam vollendet und die böse Lust zum Fall ausreifen lässt“, kann vom himmlische Vater nicht gewollt sein.

Aber es gibt auch eine „Versuchung, die den Gehorsam vollendet und unseren guten Willen stark macht.“ Denken wir z.B. an den Auftrag Gottes an Abraham, Isaak zu opfern. Denken wir an Jesus, „der versucht ist allenthalben gleich wie wir“ (Hebr 4:15). „Denn darin er gelitten hat und versucht ist, kann er helfen denen, die versucht werden“ (Hebr 2:18). Zu welchem Zweck wurde wohl Jesus noch versucht? „Und wiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch an dem, das er litt, Gehorsam gelernet“ (Hebr 5:8). Darum darf Petrus sagen: „Ihr Lieben, lasset euch die Hitze, so euch begegnet, nicht befremden (die euch widerfährt, dass ihr versucht werdet), als widerführe euch etwas Seltsames, sondern freuet euch, dass ihr mit Christo leidet, auf dass ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben möget“ (1Petr 4:12.13). Und Jakobus bekennt: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet; denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, welche Gott verheißen hat denen, die ihn lieb haben“ (Jak 1:12).

Welche Versuchung nennt unsere Bitte? Die Schrift spricht deutlich, dass Gott zum Bösen niemand versuchen kann. Also kommt für diese Versuchungsart die Bitte nicht in Betracht. Sie wäre in diesem Falle nicht nur überflüssig, sondern auch ungläubig. Wenn aber andererseits die Versuchung zur Glaubensstärkung erforderlich ist, so ist auch in dieser Hinsicht die Bitte unangebracht, denn sie bedeutet ein Ausweichen einer Notwendigkeit. Wie ist die Bitte zu verstehen?

Wie ist die Bitte zu verstehen?

Zwei Tatsachen können uns Klarheit geben.

  1. Die vorhergehende Bitte behandelt unsere Schuld. Sie ist wesensgleich mit der Schuld des Teufels. Von daher kommen wir und haben in diesem Zusammenhang die Art der Versuchung zu erkennen. Die Bitte spricht also von der gottwidrigen Versuchung.
  2. Die Bitte beginnt mit der Führung. Der himmlische Vater soll uns führen, jedoch nicht in die teuflische Versuchung hinein, das kann er auch nicht, sondern an ihr vorbei, oder besser, als ihr heraus!

Hier erhält die Bitte eine tiefe Bedeutung. Des Teufels Versuchung dauert, solange er die Versuchungsmöglichkeit hat. Unsere Versuchlichkeit besteht, solange wir Fleisch und Blut an uns tragen. Fleisch und Blut stehen aber im Bereich des Fürsten dieser Welt. Da muss die göttliche Führung einsetzen, die unverändert und unbeschadet durch die gefährlichen Klippen der Versuchung hindurchbringt.

Diese ständige göttliche Hindurch- und Herausführung aus den satanischen Versuchungen ist gleichzeitig glaubensstärkend, denn „alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber danach wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch geübt sind“ (Hebr 12:11). Der Vater führt seine Kinder im Lande der satanischen Versuchung hindurch und heraus und lässt sie nicht umkommen, denn er ist getreu, „der euch nicht lässet versuchen über euer Vermögen“. Und wenngleich Gott manchmal, wie bei Hiob, aus erzieherischen Gründen dem Teufel manchen Schlag gestattet (Hi 2:6), so bleibt den wunderbar Geführten doch das Bekenntnis: „Haben wir Gutes empfangen von Gott, und sollten das Böse nicht auch annehmen?“ (Hi 2:10). Herrlich, wer mit Paulus sprechen kann: „Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denen, die nach dem Vorsatz berufen sind“ (Röm 8:28).

Aus tiefer Heilserkenntnis kommt die Bitte: Und führe uns. Führe uns durch alle Versuchungen hindurch. Lass von deiner Führung auch dann nicht ab, wenn uns die satanischen Versuchungen zu schwer treffen. Führe uns dann erst recht heraus, und hinauf zu deinen Höhen, damit wir erlöst werden von allem Übel.

B. In prophetischer Deutung

Bei der prophetischen Betrachtung wollen wir von vornherein gelten lassen, dass es sich bei der sechsten Bitte nicht um göttliche Versuchung handelt, um die göttliche Führung durch die satanische Versuchung.

Zunächst haben wir zu erkennen, welche Versuchung die erste war. Die Urversuchung als solche, d. h. die Beweggründe zur Versuchung des Luzifer, können wir nicht bestimmt feststellen. Vermutlich war es das gottwidrige Selbstbewusstsein. Jedoch die Beweggründe der satanischen Versuchung unter den Menschen sind uns eher erkennbar, weil sie in unserem Lebensbereich liegen.

Warum wollte der Teufel den ersten Menschen versuchen? Um den Mittler Gottes (Reichsstatthalter) zu beseitigen. Denn er war sein größter (weil sein nächster) Gegner. Er war die personifizierte Kampfansage Gottes an den Teufel. Mit dessen Dasein war des Teufels Existenz bedroht. Der Existenzzerstörer sollte beseitigt werden. „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (1Jo 3:8). (Der zweite Adam vollbrachte, womit der Adam versagte.)

Die teuflische Versuchung war darum weniger aus Gründen der „Leistungsmehrung“, als vielmehr aus Gründen der Existenzwahrung. Und weil der Teufel zur Beseitigung des Menschen die einzige Möglichkeit in der Versuchung sah, hat er sie ausgiebig benutzt. Er musste hierin alles aufbieten, weil es um seinen Beistand ging. Merken wir uns die Tatsache: Die teuflische Versuchung hat existenzielle Gründe!

Die Versuchung gelang. Der Teufel hat seine Existenz nicht nur gerettet, sondern sie enorm fundiert und gesichert. - Wie hat doch der versuchte Mensch im Laufe der Geschichte des Teufels Existenz vertieft und vermehrt.

Und doch ist das kein endgültiges Gelingen. Der Teufel hat durch seine Versuchung nur den ersten Menschen (1. Adam) zu seinem Freund und Diener gewinnen können, aber nicht den zweiten Menschen (2. Adam). Der zweite Mensch hat die gottgewollte Feindschaft wieder aufgerichtet. „Ich will Feindschaft setzen...“ (1Mo 3:15). Noch mehr, er hat den Teufel überwunden und hat ihm die Macht genommen. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“ (1Kor 15:55).

Wen versucht der Teufel?

Aber der Christussieg ist in seiner Endgültigkeit noch nicht durchgeführt. Noch darf der Besiegte auf seinem Rückzug kämpfen; noch darf er - versuchen und verführen. Nicht den Christus, denn er ist unversuchlich geblieben, aber die - Christen. An denen ist er noch mit äußerster Energie beschäftigt. „Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge“ (1Petr 5:8). Sie zu versuchen ist ihm die Möglichkeit noch geblieben. Diese Möglichkeit nützt er bis zum Letzten! In den Christen will er den Christus treffen, ihn ohnmächtig machen, seine Kraft brechen. Mit dem „Leibe“ will er das „Haupt“ überwinden.

Wie vollführt er das? „Groß Macht und viel List, sein grausam Rüstung ist.“ Er lässt die „Christen“ an Gott „glauben“; er lässt sie an den historischen Jesus glauben; er lässt sie an den landläufigen Christus glauben. Aber er versucht und verführt sie im Glauben an den Christus Gottes! Da ist der Brennpunkt aller Versuchung! Der Teufel hat nichts dagegen, wenn eine geistreiche Religion ein faszinierender Kult, ein zeitgemäßer Christus besteht. Er hat aber alles dagegen, dass der Christus Gottes erkannt, erlebt und ihm ehrfurchtsvoll gedient wird. Das Beugen der Knie nach Phil 2:10.11 soll verhindert werden. Wenn es ihm gelingt, die Christen in der „Stunde der Versuchung“ (2Thes 2:1-12) zum Abfall von dem Christus Gottes zu bewegen, so hat er sein Teilziel erreicht.

Den Abfall versteht der Teufel sehr glaubwürdig und notwendig zu machen. Denn er beweist, dass die Christusforderung: Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis vernunftswidrig ist. - Was ist Schuld? Minderwertigkeitsgefühl!

Wenn die sechste Bitte jemals Bedeutung hatte (1Jo 2:18.19), heute bestimmt! Sie behält diese Bedeutung auch noch in dem Geschehen nach Offb 20:7.8. - Beter, trage diese Bitte deinem himmlischen Vater in heißer Sehnsucht vor, du hast es nötig.

Lies weiter:
8. Sondern erlöse uns von dem Übel