Das Gemeinschaftsideal

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Michael Hahn

Einführung in seine Gedankenwelt
mit einer Auswahl aus seinen Werken

Von Gottlob Lang (1921)
Quellverlag der Ev. Gesellschaft, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel davor:
Die Vollendung des Heils

Das Gemeinschaftsideal

(Quelle vor allem die Briefe im Anfang des Systems: Wie die Redenden und wie die Hörenden in den Gemeinden der erweckten Seelen beschaffen sein sollen, System 531ff.)

Es ist für Hahn feststehend, dass jedes Glied am Haupt Handreichung von andern Gliedern braucht, um seiner Vollendung entgegen zu reifen, und dass jedem in dem Maß seines Fortschritts nicht bloß Heiligungs-, sondern auch Bedienungsgaben verliehen sind. Deshalb hat er ein ganz bestimmtes Ideal religiöser Gemeinschaft, ohne welches das Gesamtbild unverständlich wäre.

Unter einem Haupt

Gemeinschaft beruht auf der gemeinsamen Verbindung mit dem Haupt, auf der Geburt vom gleichen Stammvater, gemeinsamen Grundzügen der Entwicklung und gemeinsamer Hoffnung. Sie ist deshalb etwas Gewachsenes, nicht Gemachtes; eine Versammlung ist noch lange keine Gemeinschaft. Die Sehnsucht nach einer großen Zahl hat Hahn nie geleitet. Wo echte Gemeinschaft ist, ist dann auch innige Liebe; Hahn zieht eine feine, aber deutliche Linie: Es ist etwas anderes um die „erbarmende“ Liebe, die wir jedem schuldig sind und die jeder verspüren soll, auch der, der auf ganz anderen Wegen geht; und um die „vereinigende“ Liebe, die die Kinder der oberen Mutter umschließt (I, Lebenslauf 155).

Der Verkehr mit den ersten Freunden hat selbst etwas von dieser besonderen, geistlichen und doch so natürlichen Liebe. Was für eine unergründliche Verbindung setzt es voraus, wenn er schreibt: „Unser Geist kann in die Ferne wirken, wenn er den Leib dazu nimmt, durch Schreiben und Beten, er kann aber auch in die Ferne fühlen und ziemlich den Zustand der Entfernten erforschen... mein Geist hat ein Gefühl davon, wie er dich zu behandeln hat.“ Die Tiefe der Einfühlung spiegelt sich auch in etwas Untergeordnetem: in den Überschriften der Briefe; nur einige Proben davon:

  1. In Christo geliebter und um das himmlisch Kleinod kämpfender und ringender Bruder!
  2. Unter der Kreuzesfahne Jesu ringender Bruder!
  3. Nach deinem Ursprung verlangender Seelengeist!
  4. An der Trübsal und am Königreich und der Geduld des Herrn teilnehmende Schwester!
  5. In dem Immanuel wertgeschätzter Wahrheitsforscher!
  6. In zärtlich reiner Liebe des Geistes Jesu geliebte Schwester!
  7. Teuer erkaufter, aber übelberichteter Freund!
Auch durch die Anrede an einen Abgefallenen, der ausgeschlossen werden muss, zitiert diese Liebe:

Von der Seite der Freude aber legen Zeugnis ab für die innige Verbindung die vielen handschriftlichen Sammlungen, in denen die Hartarbeitenden in ihren Feierstunden die Werke ihres Autors festhielten; namentlich aber die Fragen, die an ihn gelangten: über der intellektualistischen Neugier und moralischen Kasuistik erheben sie sich meist ins Zentrale des inneren Lebens, z.B. wie man Gott suchen, finden und mit ihm vereinigt werden könne; ob man auf der Reife des Christenstandes das mündliche Gebet noch brauche; ob man bei anhaltenden Gerichten um Verschonung bitten dürfe. Nicht wenige dieser Fragen zeigen auch, mit welch wachem Auge diese Kreise die Schrift lasen, z.B. was die Ursache sei, dass es heutzutage bei den Erweckten so viel langsamer gehe als bei den ersten Christen. Nicht bloß der Schreiber, auch die Empfänger haben ihren Anteil an der erstaunlichen Höhenlage dieser seelsorgerlichen Briefe.

Die Hahn’sche Gemeinschaft

Wenn man rein nur von den Hahnschen Schriften ausgeht, fragt man sich gelegentlich, wie es eigentlich zu einer „Hahnschen Gemeinschaft“ kommen konnte. Denn nicht bloß alles Fanatische und Einseitige, sondern überhaupt alles, was nach Partei, Satzung, organisatorischer Bindung schmeckt, war ihm zuwider. Seine Grundstellung war die: die wahren Kinder der Weisheit gehen in keiner Sekte und Partei auf, sondern halten sich vom inneren Kompass geleitet, von aller Enge frei; ja, noch schärfer: sie nehmen von allen Richtungen das Beste und verschreiben sich keiner. So in dem Lied: „Quäker und die Sep’ratisten“, das wir überschreiben können: Über den Gegensätzen, wo er sagt: ich bin kein Herrnhuter, kein Separatist – auch kein Pietist (S. u. S. 274). „Ich bin eigentlich christliche Religion, und meine Religion ist meines Herrn Religion, ich bete Gott im Geist und in der Wahrheit an und bin an keine Form, an keine Zeit und an keine Stätte gebunden, werde mich auch in Zukunft an nichts binden lassen.“ (Vgl. XIII, 355ff; 51. Brief, an einen Separatisten). Auf dieser Höhe fühlte er sich mit den Innigsten und Besten der verschiedensten Kreise eins; wenn er bei der Beschreibung der Braut Christi von den wenigen spricht, „die er so keck sei, für ein reines Brautglied zu halten“, so nennt er in edler Weite und Demut kein Glied aus seinem Kreis, sondern fügt in bunter Reihe aneinander: eine heilige Theresia, die französische Katholikin des sechzehnten Jahrhunderts, dann aus seinem Jahrhundert Tersteegen, den niederdeutschen Mystiker der reformierten Kirche, Pfarrer Machtolf (gest. 1800) von Möttlingen, einen der Väter des württembergischen Pietismus und den Theosophen Prälat Oetinger, „solchen Seelen mögen wir das Trinken nicht reichen“. (V, 2.Abt, 243; 27.Brief).

So lag es ihm ferne, als Gemeindegründer hervorzutreten oder als Sektenhaupt Seelen an sich persönlich binden zu wollen. „Ich wünsche, dass sich ja niemand nach mir einen Hahner nennen möchte“ (System 579); ja es schmerzt ihn, wenn er diese Bezeichnung hört. Er hält es allerdings für seine Pflicht, nicht bloß sein Recht, im großen Haus der Weisheit als Kind der oberen Mutter den jüngeren Geschwistern zu dienen und mit den älteren im Austausch zu stehen, aber „nicht in der Absicht, dass sie sich nach unserem Namen sollten nennen. Wir begehren keine eigenen Geschlechter zu bilden, und keine eigenen Haushaltungen anzufangen.“ (III, Kolosser 88; 33. Brief). Abgesehen von seiner persönlichen Demut weiß er etwas davon, dass das fixierte Recht eine Gefahr für die Kirche Christi ist: „Mein lieber Bruder, du weißt, ich bin bei Jahren, und schon lange bin ich mit den Gemeinschaften und Zusammenkünften bekannt, schon vieles habe ich auch schon darinnen getan und gewirkt; aber in den vielen Jahren konnte ich nie dazu kommen, Ordnungen zu machen, Befehle zu geben und Einrichtungen zu treffen, ungeachtet ich ein großer Freund der Ordnung, und der Liebhaber löblicher Einrichtungen bin. Denn sobald mir nur der Wunsch zu etwas kommt, fängt es mir an zu ekeln, und ist mir sehr geisteswidrig, weil es das Ansehen alsdann hätte, als wollte ich mehr sein als andere, und eine Sache besser wissen als sie. Und dieses Hervorragen-Wollen ist päpstisch, ist herrisch und wider den Kindersinn, als dem sanften, kindlichen Jesusgeist heterogenisch [ungleich] und zuwider.“

Dennoch – das letzte Zitat lässt es bereits anklingen – war die Bildung einer patriarchalisch, doch fest verfassten Gemeinschaft schon zu seinen Lebzeiten unterwegs, und Hahn spricht an anderen Stellen harmlos von „unserer Gemeinschaft“ (II, Galater 6; 31. Brief u. ö.). Die besondere Gedankenwelt und das Bedürfnis nach geregelter Weitergabe derselben; die Angriffe der Kirche und die Urteile anderer christlicher Bewegungen über Hahn und sein Werk; vor allem die Bedürfnisse des nachwachsenden Geschlechts, waren Faktoren, die den um Hahn gescharten Kreis sein Sonderleben stärker empfinden und deutlicher umgrenzen ließen. (Es ist im Kleinen ein ähnlicher Prozess, wie der freilich tragisch zugespitzte, der aus der freien Bruderschaft des Franz von Assisi den wohldisziplinierten dritten Orden entstehen ließ.) Und doch sind jene großen Gedanken von der, über die Organisationen übergreifenden Gemeinschaft der Heiligen, auch in der Geschichte der Bewegung nicht unwirksam geblieben; sie waren vor allem der Antrieb, das schützende Dach der Kirche nicht zu verlassen.

Das Wesen der Versammlung

Der Mittelpunkt der Gemeinschaft ist die „Versammlung“. Es gehört die niedrige Bauernstube mit den kleinen Fenstern dazu, durch die das Vorgärtlein hereinschaut, und man sollte in die scharfgeschnitzten tiefernsten Gesichter der Männer um den mit Erbauungsschriften belegten Tisch schauen können, um die Anschauung für die Begriffe zu haben.

Es gehört zum Wesen der Versammlung, dass nicht nur einer redet, sondern ein Austausch der Erfahrungen, eine gegenseitige Ergänzung stattfindet; jeder Lehrende soll auch ein Lernender bleiben. „Am alleredelsten dünken mich die Gemeinen, in denen das Reden an gar niemand gebunden ist, wo jeder reden kann, der einen Aufschluss bekommt, wo jeder fragen darf, und wo alle antworten können, wenn ihnen Licht geschenkt ist.“ (IV, Tim. 60; 3. Brief). Immerhin tritt jener aristokratische Zug nicht zurück, dem wir schon in den Weisheitsliedern begegnet sind: die im Verleugnen und in der Entwicklung des Wiedergeburtslebens am meisten Fortgeschrittenen, und nur sie, sind geeignet als Mittelsubstanzen Jesu, um das weiterzugeben, was sie unmittelbar empfangen haben; ihr Reden ist ein Zeugen, d.h. Erzeugen von Leben, und ist tinkturreich, voll wesenhaft verwandelnder Kraft. Die Gemeine fühlt im gleichen Geist, den sie beseelt, dass Gott durch sie redet. Da die Geistesrede nicht erlernt werden kann, ist Gelehrsamkeit (theologische Bildung) nicht nötig, um ein solcher „Stern in der Hand Jesu“ zu sein; ihr Besitz schließt aber nicht davon aus, und sie ist – in ihren Schranken – durchaus nicht gering zu schätzen.

Das, was an Lebenswirkungen in der Gemeine erwacht, strömt aus ihr zu dem in den Geist erhöhten Herrn zurück zu einem wohlgefälligen Opfer und heiligen Genuss. Mit einem kräftigen Bild: „Wenn der Herr Lebensbäume in seinem Garten schütteln, rütteln und bewegen kann, dass sie in geistvollen Reden oder Gebeten reife Früchte von sich geben, so isst er mit und lädt Engel und Geister ein: Esset, hier ist Leben!“ (XII, 701; 98. Brief).

Gemeindezucht

Je heiliger und geweihter die verborgene Würde einer Geistesgemeinschaft ist, desto bedenklicher sind ihre Entartungen, die Hahn genau kennt und oft psychologisch scharf schildert. In der Seele zuwider ist ihm alles Kopieren und Entlehnen des nicht selbst Erfahrenen, alles Sich-Anpassen an die Sprache und Denkweise eines Kreises, um durch die „Hof-Farbe“ sich angenehm zu machen. Ebenso alles voreilige Treiben im eigenen Geist, nachdem man erst eine Anleuchtung erfahren hat, um sich wichtig damit zu machen – das Bild des verlorenen Sohnes, der das Erbteil verprasste, im geistlichen Sinn. Für fruchtlos hält er auch alles geistliche Disputieren, bei dem nur die Rechthaberei und die Vernunft geübt, der Geist aber vertrieben wird. Um sich vor diesen Entartungen zu schützen, soll die lebendige Gemeinde nicht jeden Schwätzer und keinen Neuling zu Wort kommen lassen, auch auf die Gefahr hin, dass der in seiner Eitelkeit Gekränkte wegbleibt (Z.B. XIII, 196ff; 30. Brief).

Noch schlimmer ist, wenn auch in die Gemeinschaft der allgemeine „Durcheinander“ von Licht und Finsternis einreißt. „Kinder des Lichts können keine Liebhaber der Finsternis in ihrer Gemeinschaft haben; und nur dann wird eine Vermengung stattfinden, wenn jene selbst Finsternis beibehalten wollen.“ (XIII, 187; 29. Brief.) Es ist zu unterscheiden, wo das Licht mit der Finsternis ringt und als Last empfunden wird, da ist barmherziges Mittragen am Platz; wo aber einer die Finsternis liebt und hegt, da muss, wie in der Urchristenzeit Zucht geübt werden durch Ermahnung; und wer sich dieser beharrlich entzieht, wird ausgeschlossen. „Wir glauben freilich“, schreibt er einem unwürdigen Glied, „dass Gottes Gnade grösser ist als deine große und schwere Sünde (Worauf sich der Sünder berufen hatte und „frech in die Versammlung eingedrungen war“.), und dass du auch wiederangenommen werden, und Gnade erhalten kannst. Aber wahre Reue und Treue muss sich zeigen, und das nicht nur einen Augenblick und etliche Tage, sondern anhaltend.“

So ist der große Ernst Hahns auch in seinem Gemeinschaftsideal wirksam. Und nicht nur unreife und junge Brüder werden unter ihn gestellt, sondern der Briefwechsel zeigt erfreulich, dass auch ältere, bewährte Stundenhalter die Wahrheit, über einen noch unaufgehellten Punkt, gesagt bekommen in Weisheit und Demut. Es ist ergreifend zu lesen, wie sich Hahn zu solchem „Moderieren“ im Gebet an den Oberhirten die Vollmacht erfleht.

Über den Gegensätzen

(Liederband Nr. 516)

Quäker und die Sepratisten,
Wiedertäufer und was mehr,
Herrenhuter und Petisten*,
Alle sind nicht wahrheitsleer.
Und doch ist zu aller Zeit
Unter ihnen Unterscheid;
Die Gesinnung ist nicht eine,
und nicht aller Lehrsatz reine.
*(Pietist im Volksmund)
Jeder schreiet, das ist simpel*,
Jeder schreiet überlaut:
Hierher, hier ist Gottes Tempel,
Und wir sind des Heilands Braut!
Welchem stellt man dann mit Ruh‘
Seinen Beifall billig zu?
Welche von den viel Parteien
Kann mit recht so sagen, schreien?
*(Selbstverständlich)
Seele! keine unter allen,
Wenn sie andere veracht‘,
Kann dem Herzen wohlgefallen,
Das nach reiner Wahrheit tracht‘.
Alle Sekten sind nicht frei
Von Parteigeistheuchelei;
Alle hangen an Grundsätzen,
Die sie als parteilich schätzen.
Unter allen den Parteien,
Gibt es Seelen, die nicht mehr:
„Hie, hie Gottes Tempel“ schreien,
Die von dieser Torheit leer.
Diese, weil sie nicht so blind,
Blöde und sektierisch sind,
Diese heißt man Zioniten,
Die für alle fleh‘n und bitten.
Diese sind der Weisheit Kinder
Und das wahre Gotteshaus;
Diese geh‘n so wie vom Sünder
Auch von aller Sekte aus.
Diese sind des Herrn Gemein,
Jeder ist ein Lebensstein;
Diese, die das Herzblatt heißen,
Achten auf kein äuß‘res Gleißen.
Dies sind jener Mutter Söhne,
Die man Gottes Weisheit nennt,
Innerlich voll wahrer Schöne
Und wie Jesus selbst gesinnt.
Diese sind wahrhaftig frei;
Heuchelei und Sekterei
Hassen sie, wie ihre Mutter,
Denn sie lieben jeden Bruder.
Diese haben weite Herzen,
Obschon ihr Gewissen eng;
Tadelsucht macht ihnen Schmerzen
Und bringt sie in ein Gedräng‘.
Wo dies herrscht weicht jedes Mal
Jeder aus derselben Qual;
Denn es kann es keiner Tragen,
Sich ob Nichtigkeiten plagen.
Diese edle Art der Geister
Gibt es deutlich dem Gefühl,
Dass sie stehe wie ihr Meister,
Nach dem Schein nicht frage viel.
Wer die Wahrheit lauter sucht,
Merkt an dieser Bäume Frucht,
Dass die äußern Elementen*
Sie nicht so beseelen könnten.
*(Der Aufbau und die statutarischen Grundsätze einer Religionsgemeinschaft, s. u. V. 11.)
Der Parteien Einsatzungen
Sind Satzungen dieser Welt,
Sind der Zaun, woraus verdrungen
Jeder, welcher sie nicht hält.
Dass dies nicht vom Geist des Herrn,
siehet man schon in der Fern‘;
Denn er kann kein Papsttum leiden;
Er will selbst die seinen weiden.
Die Grundsätze einer Sekte
Sind das Erdenelement;
Und sie sind es recht perfekte,
Wie sie Paulus dorten nennt*.
Alle Art von Satzungen,
Jede Sprache der Zungen,
Sich dadurch zu unterscheiden,
Heißt die Herde päpstlich weiden.
Lebenskräfte, welche treiben
Hier in diesem Element,
Werden auch nicht ewig bleiben,
Wie man stets vermerkt und find’t.
Alles artet endlich aus
Und wird alt, wie jedes Haus,
Und wie die Religionen;
Obgleich viele dieser schonen.
Immer gibt’s in allen Stücken
Solche, die auch halten lang;
Die ihr Babel wieder flicken,
Wenn es will den alten Gang.
Aber endlich fällt es doch,
So wie jede Sekte noch;
Denn es wird auf dieser Erden
Ein Hirt, eine Herde werden.
O, es ist ein närrisch Zanken,
Hört man einen Sektenstreit.
Man hört Dinge, wie von Kranken,
Wo die Hitze überschreit.
Diese Torheit flieht ein Christ,
Der ein Kind der Weisheit ist.
Jesu Geist wir ihn beseelen,
Dass er sich nicht so wird quälen.
Er ist auch ein Herrenhuter,
Gründet sich auf Jesus Christ;
Er ist seine ob‘re Mutter,
Weil er seine Weisheit ist.
Aber er ist weit noch mehr,
Andrer Wahrheit nicht so leer:
Er glaubt, was die Sepratisten,
Insofern sie wahre Christen.
Er, der Sohn der ober‘n Mutter,
Ist insofern ein Pietist,
Und desselben wahrer Bruder,
Insofern er ist ein Christ.
Er hasst nicht Religion,
Läuft nicht wie ein Dieb davon*;
Doch lässt er sich auch nicht binden,
Er lässt sich in Freiheit finden.
*(Von entschiedener Bezeugung des Christenglaubens)
Nein, der Sepratisten Strenge
Findet er nicht Geistesfrucht;
Herrenhuter Ordnungsmenge
Nicht als wahre Geisteszucht.
Darum ist er keines nicht,
Er folgt Gottes wahrem Licht;
Lässt von Jesu Geist sich leiten
Und ins Reich des Herrn bereiten.
Er hängt nicht an äußern Dingen,
Darum ist er kein Pietist;
Lässt sich nicht in Häuser zwingen,
Außer es hab Jesu Christ
Ihn dazu gewiesen an,
Dann zeigt er, dass er wohl kann,
Und dass er ganz ungebunden;
Weil er wahre Freiheit funden*.
(Wenn er die Häuser (Kirchen) meiden müsste, wäre er ebenso unfrei, wie wenn er sie unbedingt braucht)
Diese edle Art von Seelen
Sind bei allen Sekten rar;
Doch in keiner wird es fehlen,
Dass nicht welche offenbar.
Eine hat vielleicht was mehr,
Obschon keine gänzlich leer.
Das wird man uns wohl erlauben,
Zu bekennen und zu glauben.
Aber, dass wir könnten sagen:
Diese oder jene ist’s;
Darum soll man uns nicht fragen,
Denn das wäre Trug des Lists.
Was wir denken, bleibt geheim,
Und es stecket wie im Keim*.
Von der Frucht in unsrem Hoffen,
Ist schon manches auch ersoffen.
*(Er hofft auf eine auch äußere Überbrückung der Gegensätze, wenn „eine Herde und ein Hirte ist“)
Was wir Neuerweckten raten,
Und fast allen insgeheim,
Wird, wie wir bisher es taten,
Fernerhin am besten sein:
Jeder merke auf den Herrn,
Dass er ihn erkennen lern‘;
Jeder lasse sich mit Freuden
Von dem Oberhirten weiden.
Niemand wähle sich ein Mittel,
Es sei, was es immer will,
Unter dem und jenem Titel,
Jeder leb‘ aus Jesu Füll‘.
Und gibt er ein Mittel her,
Brauche man’s zu seiner Ehr;
Suche aber keines selber,
Das wär dümmer, als wie Kälber.
Mittel soll man nicht verachten,
Nein, von Jesu nehmen an;
Aber selber darnach trachten,
Heißet gar nicht klug getan.
Dies ist Grund der Sekterei,
Und der Stoff zur Heuchelei,
Und nichts Gutes zu erwarten;
Denn es ist nicht Gottes Garten.
Jesu! zieh mich immer weiter
In die Lichts-Religion;
Dein Geist sei allein mein Leiter,
Bis vor deinen lichten Thron.
Lasse mich in dich allein
Immer mehr verliebet sein!
Halt mich fest in deinen Händen,
Du allein kannst mich vollenden.

Gebetslied der Gemeine Jesu

(Liederband Nr. 358)

Jesu, Bräutigam der deinen,
Sonne aller Herrlichkeit!
Wandle unter den Gemeinen,
Die du selber zubereit‘:
Komm zu uns, wir sind beisammen,
Glaubend all an deinen Namen.
Gieß doch Licht und Leben aus
Hier in dem Gemeinschaftshaus.
Komm, belebe alle Glieder,
Oberherrlich, heilig Haupt!
Treibe aus was dir zuwider
Und was deinen Einfluss raubt.
Lass sich deiner Klarheit Strahlen,
Gottes Glanz in uns abmalen,
Lass uns deine Gegenwart
Doch empfinden rein und zart.
Komme doch in deinen Garten,
Komm zu deiner Geistgemein;
Alle Glieder deiner warten,
Dring in alle Herzen ein.
Lass uns deine Nahheit spüren,
Innig woll‘st du und berühren;
Komm, du edler Lebensbaum,
Nimm du ein des Herzens Raum.
Lass in deinen Gottesgarten
Keine argen Füchse ein, (Hl 2:15)
Sonst verderben sie die zarten
Und noch jungen Weinstöcklein.
Treibe Jesu, Herzbekehrer,
Von uns aus den Friedensstörer,
Sei du selbst alleine da
Innig einem jeden nah.
Lass sich die Gemüter kehren
Nach dir, Glanz der Ewigkeit!
Lass den Seelengeist begehren
Wesen deiner Herrlichkeit!
Lass viel Licht und Leben fließen,
In die Herzen sich ergießen;
Spiegle dich in jedem Grund,
Der mit dir im Gnadenbund...
Komme doch in jede Seele,
In die kleinen Würzgärtlein,
Salbe jede mit dem Öle,
Mit dem Lebensausfluss dein.
Lass uns deines Geistes Gaben
In uns ausgeteilet haben,
Offenbar durchs Alle dich,
Heilig‘s Haupt, recht herrliglich.
Komm, genieße selbst der Früchte,
Die dein Vater hat gepflanzt,
Die da taugen in dem Lichte,
Die mit Wahrheit sind umschanzt.
Komm, genieße selbst der Gaben,
Die wir alle aus dir haben,
Sind sie doch aus dir, dem Herrn.
Drum genießest du sie gern.
Du hast selbst, Brunn aller Leben,
Lebenswasser in den Grund
Unsers Seelengeistes geben;
Dieses machte uns gesund;
Und es wird zu einer Quelle
In der gottgelass‘nen Seele,
Fließt in ihren Ursprung ein;
Dieser bist und wirst du sein.
Aller Einfaltsaugen warten
Jetzt auf deine Gegenwart;
Komme doch in deinen Garten,
Treibe weg den Widerpart.
Lass dich doch von innen hören,
Lebensfrucht gib uns zu zehren.
Reichtumsvoller Jesus Christ,
Sei uns allen, was du bist.
Wo dein mittelbares Wirken
Unter uns noch nötig ist,
Woll‘st du eine Seele stärken,
Die dazu dir, Jesus Christ,
Mag am allerbesten taugen,
Die mit ihren Einfaltsaugen
Nur auf dich alleine sieht,
Deinen Einfluss lauter zieht.
Wo ein Stern* in deinen Händen
Wird nach deinem Willen sich
Immer drehend ziehen, wenden,
Den erfülle völliglich;
Dass wir deinen Ausfluss sehen
Aus ihm in die Seelen gehen,
Bis ein jeder wächst heran,
Dass er dich ganz fassen kann.
  • (Das Bild ist genommen aus Offb 1:9; vgl. die Erklärung dazu:
„Sieben Sterne in den Händen Sah er um ihn sich wenden,
Wie Planeten um die Sonn;
Diese, der Gemeinen Lehrer,
Sind dem teuren Herzbekehrer Seine Herrlichkeit und Wonn‘!“ V, 1.Abt, 53; 8.Lied)
Leidend deinen Ausfluss fassend,
Lass Herr, jede Seele sein
Auf gelehrtes Zeugs nicht passend,
Das nur für den Kopf allein.
Nur Erfahrung wir begehren,
Nur Erfahr‘ne lass uns lehren,
Was du nicht kannst bringen bei
Ohne durch ein Mittel, frei.
Was aus dir in uns geflossen,
Fließe wieder in dich ein,
Was die Seele hat genossen,
Müsse deine Speise sein
Komme dann, dich zu vergnügen,
Lass dich alle Glieder kriegen,
Und verkläre dein‘ Gestalt,
Dass ein jeder dich erhalt‘.

Antwort des Freundes

Ja, Geliebte, ich will kommen,
Ich will gegenwärtig sein.
Herzen, die mich angenommen,
Will ich füllen ganz allein.
Wie sollt ich mich halten können,
Liebste Braut, dich zu erkennen?
Freilich komme ich zu dir,
Meine Seele ist gern hier.

Von einer wahren Gemeinschaft:

wie sie gefestigt und von den unlauteren Gliedern gereinigt werde (XII, 358ff; 51. Brief)

Immanuel!
Herzlich geliebter alter Bruder in dem selbigen!

Man hatte vor einigen Jahren schöne Aussicht und die beste Hoffnung zu einer edlen Gemeinschaft in eurem Wohnorte; aber ach! wie nahe schmilzt sie nach und nach zusammen! – Und was hilft uns eine zahlreiche Zusammenkunft und große Versammlung, wenn die eigentliche Gemeinschaft immer kleiner wird und sich eher mindert statt mehrt? Ist’s nicht wahr, was ich schreiben werde: Ist nicht die zahlreiche Versammlung mehr eine lästige, als eine erfreuliche und erquickliche Sache, weil da, wo keine brüderliche Unterredung und Herzens-Ergießungen, keine gliedliche Handreichung und Geistes-Mitteilungen sind, die Zusammenkünfte nur ein geformtes unnützes Machwerk sind, welches freilich um der Segenslosigkeit willen nicht in die Länge bestehen kann und wird. Was will ich aber mit allem dir sagen? wirst du denken; das will ich sagen: es freut mich, dass mein Bruder in deinem Orte noch einen Bruder an dir hat; denn wer kann gar ohne Bruderschaft sein und leben in dieser Welt, da doch jeder Handreichung bedarf! Wo keine herzlichen Unterredungen sind, da sind auch keine herzlichen Teilnahmen; und wie sollte man ein höfliches Bezeugen gegeneinander für jenes können gelten lassen, oder, was für eine Gemeinschaft sollte dies sein, wenn Brüder sich nicht gegeneinander erklären? So können sie wohl aneinander anstoßen und können sich reiben, können sich aber auch leicht ärgern. Sollte es nun in diesem Fall genug sein, dass sie einander nicht afterreden [verleumden, hinten herum über andere reden], wenn sie doch auf der andern Seite nicht durch Herzens-Unterredung das beseitigen, was sie über kurz oder lang trennen muss?

Wenn eine Seele keine Dinge tut und macht, verteidigt und beibehält, die sie aus der Lichts-Gemeinschaft Gottes hinaussetzen, so können wir ja keine Grundursachen finden, sie aus der Lichts-Gemeinschaft der Kinder des Lichts zu verweisen; wenn wir aber finstere unanständige Dinge an diesen und jenen entdecken, so haben wir uns zu erkundigen, ob es wirkliche Finsternisse sind; die sind sie aber erst dann, wenn der, der sie hat, nicht erkennen will, sie also nicht zur Last hat, mithin nicht abzulegen verlangt. Sind sie aber im Gegenteil ihm zur Last, so müssen wir an ihm tragen, das, womit er überladen ist, und darum anhalten [im Gebet], dass diese Last von ihm genommen werde, denn er ist ein Kind des Lichts, oder will es doch von Herzen gern werden. Sofern aber einer dem andern seine Last verbirgt, und keiner also dem andern tragen hilft oder auch nur zeigen will, wie soll da eine Geistes-Gemeinschaft stattfinden? Wer Licht liebt, der liebt auch den, der ihm im Licht die Finsternis zeigt. Fängt eine Seele an zu kränkeln, so weicht sie begreiflich aus der Lichts-Gemeinschaft Gottes, doch das nicht allein, sondern sie entzieht sich auch den Kindern des Lichts, da wo sie merkt, dass genauere Untersuchungen in Herzens-Unterredungen angestellt werden. Eine solche Ausweichende wird aber nicht nur von etlichen Lichts-Kindern erkannt, sondern bald fühlen es alle Glieder, dass sie eine auszehrende Krankheit hat; und wer sollte es geheim halten? – Daraus lernen wir den Nutzen redlicher Gemeine-Glieder erkennen; die lassen es nicht zu weit kommen; und sollte jemand dadurch vertrieben werden, was kann dabei verloren sein? Vielleicht nur etwas, das schon verloren ist oder doch sein will. Also nur fortgeleuchtet! so wird sich die Finsternis entfernen, und der Licht-Liebende wird Glied der Gemeinschaft werden; der Unlautere aber wird Seinesgleichen suchen und auch finden, zumal es auch genug, ja leider zu viel unlautere Gemeinschaften gibt...

Merke also das Übel, das die Lichts-Kinder trennt, merke die Ursache, warum man sich statt die Geistes-Gemeinschaft mit Versammlungen begnügen muss, und warum wir nur hin und wieder, hier und da, zerstreute wahre Gemeinschaftsglieder antreffen.

Welches ist aber nun der sichere Schluss, den wir machen und dann beschließen? Folgendes wird wohl gewiss sein: Es ist nicht leicht eine Zusammenkunft, die aus lauter Lichts-Kindern besteht; vielleicht gibt es welche. Wo gar keine sind, so lasse man dann die Sache gehen, wie es geht, und lasse die, die rechtschaffen sind, sich sammeln. So wird sich die Unlauterkeit immer mehr entfernen und verlieren. Haltet also in wahrer Liebe und Eintracht zusammen, ihr, die ihr euch miteinander betragen könnt, und befleiße sich ein jeder am meisten, im Licht zu wandeln. Entdeckt einer an sich oder andern etwas, das ihn lichtswidrig zu sein dünkt, so trage er es nicht heimlich, sondern sage es seinem Mitgliede aus erbarmender Liebe und lasse sich weder [durch] dies noch das zurück halten; denn geistliche Glieder müssen einander nicht natürlich betrachten oder natürlich behandeln, das wirst du selber bekennen und einsehen.

Und was ich dir also schreibe, das schreibe ich euch näher Verbundenen allen, indem ich euch samt mir, der Gnadenleitung unseres Herrn anbefehle. 1816.

Lies weiter:
Stellung zur Kirche