Das 10. Gebot

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Abschrift des Heftes: "Die 10 Gebote in heilsgeschichtlicher Deutung"
von Friedrich Malessa, Samplatten (Ostpr.) (1895-1981)

Veröffentlicht unter Zulassung der Militärregierung Juli 1948
im Kurt Reith Verlag Wüstenrot Württ.

Siehe weitere Abschriften
Inhaltsverzeichnis

Das 10. Gebot

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus, du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, noch seinen Knecht, noch seine Magd, noch sein Rind, noch seinen Esel, noch alles, was dein Nächster hat.

Das letzte Gebot behandelt die tiefste Fallstufe. Das Entwürdigendste für den Menschen ist die hemmungslose Begierde.

“... So taumle ich von Begierde zum Genuss
im Genuss verschmacht' ich nach Begierde“. (Goethe)

Was ist Begierde?

Sie ist in der Wurzel gesehen eine entstellte Tugend. Die Sünde hat aus den Tugenden die Untugenden bereitet. Jede Untugend hat darum noch einige verschüttete Reste der Tugend. Das Gebot erwähnte Begehren, oder wie andere Übersetzer sagen: Gelüsten, hatte es vor der Verderbnis mit dem ehrlichen Bestreben, oder auch mit dem reinen Wollen oder Verlangen zu tun. Ein gute Begehren und ein wahrhaftiges Verlangen sind durchaus göttlich und darum lebensnotwendig. Ohne dem wäre das Leben trieb- und kraftlos. Mit dem Fall des Menschen in das Ichwesen wurde jedoch aus dem ehrlichen Begehren eine Unglück bringende Begierde, und aus dem reinen Wollen oder Verlangen ein quälendes Gelüsten. Diese Dinge sind in der Ichwesenhaftigkeit schier unbegrenzt.

Um das Ichleben zu überwinden, muss zunächst das erste Gebot in Anwendung gelangen: „Ich bin der Herr!“ Der ewige Herr muss den vermeintlichen Herrn überwinden. Und dann muss das zehnte Gebot zur Erfüllung gebracht werden, weil im neuen Leben das reine Wollen und Verlangen naturnotwendig sind.

So kann die Erfüllung des letzten Gebotes erst beim neuen Menschen beginnen. Die Erfüllung des Gebotes muss an den Anfang des neuen Lebens gestellt werden. Dann gewinnt die Erfüllung einen beglückenden Verlauf. Jedoch für den alten Menschen ist das zehnte Gebot ganz unverständlich, sogar ärgerlich, weil es auf die schlimmsten Lebensnöte hinweist. Diese Tatsache lässt erkennen, warum das zehnte Gebot, gleich wie die anderen, unbeachtet bleibt und vielfach abgelehnt wird. Wo ist ein Mensch in dieser Welt, der seinem besser gestellten Nächsten nicht gleichgestellt sein möchte. Er hat das unbändige Begehren, eben soviel zu besitzen, koste es, was es wolle, auch wenn der Nächste alles dafür hergeben muss. Haben muss der alte Mensch, einerlei woher. Sein Besitzrecht ist doch weit wichtiger als das des Nächsten. Und wenn zur Erlangung des Eigenbesitzes die Benachteiligung, oder sogar der Untergang des Nächsten erforderlich ist, dann sei gepriesen sein Untergang. - Wir werden es immer wieder beobachten, dass der Erwerb irdischer Güter meistens auf Kosten und zu Lasten der Mitmenschen geschieht. Das ist zufolge des Ichwesens sehr begreiflich. Soll das Ich leben, dann muss das Du sterben.

Lebensnöte des zehnten Gebotes

Welche Lebensnöte weist das zehnte Gebot auf? Einige Bibelausleger sagen, das zehnte Gebot warne vor zwei Arten des Gelüstes:

  1. Erblust (Lass dich nicht gelüsten deines Nächsten Haus.)
  2. Sinnenlust (Lass dich nicht gelüsten deines Nächsten Weib.)

Diese Auslegung ist gewiss beachtenswert, denn zweifellos sind Erblust und Sinnenlust vom Gebot gemeint. Doch ist, nach dem Zusammenhang des Gebotes zu urteilen, das Gelüsten noch viel weiter und umfangreicher, denn es werden Dinge aufgezählt, die über den Rahmen der Erb- und Sinnenlust hinausgehen. Erwähnt sind: Knecht, Magd, Vieh und alles, was der Nächste hat. Alles, aber auch alles, was der Nächste besitzt, kann Gegenstand des Gelüstens sein. Mit diesem Totalüberblick ist die Verwerflichkeit des Gelüstens weit umfangreicher aufgewiesen.

So schwerwiegend die beiden angeführten Lustarten auch sein mögen, so reichen sie in ihrer Niedertracht an die anderen nicht heran. Denn die Lust zum Erben kann einem Nichterbberechtigten aus begreiflichen Gründen leicht aufkommen. Auch die Sinneslust nach Dingen, die der Nächste durch Fleiß und echte Strebsamkeit erworben hat, ist äußerst verwerflich, weil diesem Gelüsten die eigene Unlust zur Arbeit, deutlicher gesagt, Trägheit und Faulheit, oder sogar Verschwendungssucht zugrunde liegt. - Der Sünde der Begierde nach dem wohlerworbenen Eigentum des Nächsten geht die Sünde des Müßig- und Lasterganges voraus. Solcher Lüstling hat eine doppelte Versündigung, die ihn bis in die letzten Regungen seines Seins unwert macht.

Das ist wohl die tiefste Stufe, auf der der Mensch mit seiner eigenwilligen und mutwilligen Lebensnachlässigkeit und Lebensträgheit immer nach dem Besitz des Nächsten schielt; ihm demzufolge mit Neid und Missgunst begegnet, und stets seinen Untergang wünscht.

Charakterlos, würdelos und sehr sündig ist solch ein Mensch anzusprechen. Und - in welcher Anzahl läuft er heute noch herum? Wahrscheinlich ist er gegenwärtig mehr denn je vertreten. Sind die Neider und Missgünstlinge nicht in allen Ecken und Enden zu finden? Sind sie nicht auch in den Kreisen der Frommen vertreten?

War die Ursünde Begehren?

Ob das Begehren die Ursünde ist? Was hat einst den Luzifer bewogen, sich gegen seinen Schöpfer aufzulehnen? Hat er vielleicht zufolge seiner ihm gegebenen Lebensfreiheit sich in Neid und Missgunst verrannt? Deutet seine Versuchungsthese: „Ihr werdet sein wie Gott“ dieses an?

So sehen wir, dass die raffiniertesten und verabscheuungswürdigsten Übertreter des zehnten Gebotes nicht immer allein unter den Erbschleichern und Sinnenwollüstlingen zu suchen sind, sondern vielfach, wenn nicht sogar meistens unter den harmlosen, mit viel Freundlichkeit und Zärtlichkeit maskierten Neidern und Missgünstlichen. Sie stören die Lebenseinheit oft mehr als die Erstgenannten. Wohl deswegen, weil ihr Zerstörungswerk unter dem Deckmantel größter Tugendhaftigkeit bestehen und geschehen kann.

Hier wird der Heilige Geist anzusetzen haben, wenn Menschen geformt und gebildet werden sollen, die das zehnte Gebot erfüllungsmäßig im Herzen tragen. Der Geistesmensch muss von der Ursache befreit werden, die ihn zur sündigen Begierde treibt, die Neid und Missgunst nährt und stärkt. Die Grundursache heißt: Ichwesen! Hier muss das erste Gebot zuerst in Anwendung kommen und die Umkehrung aller persönlichen Werte schaffen. Der ewige Herr muss der absolute Herr des menschlichen Lebens werden. Dann fällt zwangsläufig das Begehren nach den niedrigen und widrigen Dingen, die Paulus mit Kot kennzeichnet, weg. Dann ersteht alles herrenmäßig zu einer göttlichen Erhabenheit und Würde. Dann ersteht das Trachten, wir können auch sagen: das Begehren nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Dann ersteht die „Lust am Herrn“, die zu einem priesterlich-königlichen Wesen führt. Zu diesem glückseligen Verhältnis will uns das zehnte Gebot führen.

Schlusswort

Zum Abschluss sei noch der Sinn der Zahlenordnung aufgewiesen. Die sinngemäße Zahlenordnung der zehn Gebote vermag uns den heilsgeschichtlichen Überblick zu vermitteln.

Die erste Gebotsgruppe (= drei) behandelt die H e i l s - S i t t e oder die grundlegende Heilsordnung. Gott und sein lang geplantes Vorhaben steht im Vordergrund. Der Mensch ist erwähnt, soweit ihn das Vorhaben Gottes betrifft. Das füllt die Gebote aus. Es hat darum den Anschein, als ob der Mensch mit dem Seinigen im Vordergrund stände. Das ist nicht der Fall. Der Mensch ist in den Geboten nur deswegen so viel genannt, weil Gott ihn nennt. Gottes Wille mit dem Menschen ist die Kardinalwahrheit der ersten drei Gebote.

Die nächste Gebotsgruppe ist die Sieben. Sie ist die göttliche Vollkommenheitszahl und schließt die Heiligkeit und Wahrheit, d. h. die Harmonie des Glaubenslebens ein. In der Sieben ist stets das Streben auf das Ziel hin feststellbar.

Die sieben Gebote (= vier bis zehn) enthalten abermals zwei Gebotsgruppen: Drei und vier. Die Dreier-Gruppe (vier bis sechs) behandelt die L e b e n s - S i t t e oder die persönliche Heilsordnung. Hier wird das persönliche Leben des Menschen geordnet. Und das durch Gott! Der göttliche Eingriff hat wiederum den Vorrang.

Die folgenden vier behandeln die G e m e i n s c h a f t s - S i t t e oder die gemeinschaftliche Heilsordnung. Das Gemeinschaftsleben wird göttlich geordnet. Da ist das gottgewollte Verhältnis von Mensch zu Mensch der Hauptfaktor. Wenn dann schließlich die gottvorherrschende Drei des persönlichen Lebens mit der gottgeordneten Vier des gemeinschaftlichen Lebens sich vereinigen, ersteht die gottgewirkte Harmonie des Gesamtlebens.

Vollmaßwert (Totalität) erhält das ganze Geschehen, wenn zuletzt die erste Drei mit der Drei und Vier (= zehn) sich findet. Dann ist das Heilsvollmaß nicht nur für eine Person oder eine Personengruppe, sondern für alle Menschen erreicht. Das ist das Ziel Gottes: „Er alles in allen“!

Wer in den zehn Geboten diesen Heilseingriff und diese Heilsvollführung sieht, der erkennt und erlebt das „Gesetz“ als Evangelium.