Der Gang des Gottesreiches durch die Menschheit: Unterschied zwischen den Versionen

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(Israel und die Völkerwelt)
(Unterschiede: Juden- und Heidenchristen)
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Zwar ist die Gemeinde Jesu nur eine. Und doch ist kein kleiner Unterschied zwischen dem Teil der Gemeinde, der aus Israel gesammelt wurde und wird, und zwischen dem aus der Völkerwelt herausgenommenen. Den ersten nennen wir den judenchristlichen Teil, den anderen den heidenchristlichen. Die einen waren frühere Juden, die andern frühere "Griechen" - so nannte Paulus den Hauptteil der im römischen Reich zusammengefassten Völkerwelt wegen der Vorherrschaft des griechischen Geistes - oder "Barbaren", womit nach griechischem Vorgang, aber ohne die griechische Geringschätzung, die dem griechischen Wesen nicht aufgeschlossenen Völker benannt wurden (Luther: "Ungriechen"). Siehe die Unterscheidungen in Röm 1:14-16. Die Unterscheidung zwischen Judenchristen und Heidenchristen war nicht bloß zur Zeit der Apostel brennend, sondern wird wieder brennend werden. Die Unterscheidung zwischen "Griechen" und "Barbaren" hat ihre Fortsetzung gefunden in der Kirchengeschichte, als zur alten Reichskirche die neuen Volkskirchen traten, und in der neueren Missionsgeschichte, wo zu den Kirchen der längst christianisierten Völker die werdenden Kirchen auf das Missionsfeld treten und um ihre Gleichberechtigung mit der alten Christenheit besorgt sind, auch wenn ihre Selbstständigkeitsdrang manchmal noch unreif und ungestüm ist.  
 
Zwar ist die Gemeinde Jesu nur eine. Und doch ist kein kleiner Unterschied zwischen dem Teil der Gemeinde, der aus Israel gesammelt wurde und wird, und zwischen dem aus der Völkerwelt herausgenommenen. Den ersten nennen wir den judenchristlichen Teil, den anderen den heidenchristlichen. Die einen waren frühere Juden, die andern frühere "Griechen" - so nannte Paulus den Hauptteil der im römischen Reich zusammengefassten Völkerwelt wegen der Vorherrschaft des griechischen Geistes - oder "Barbaren", womit nach griechischem Vorgang, aber ohne die griechische Geringschätzung, die dem griechischen Wesen nicht aufgeschlossenen Völker benannt wurden (Luther: "Ungriechen"). Siehe die Unterscheidungen in Röm 1:14-16. Die Unterscheidung zwischen Judenchristen und Heidenchristen war nicht bloß zur Zeit der Apostel brennend, sondern wird wieder brennend werden. Die Unterscheidung zwischen "Griechen" und "Barbaren" hat ihre Fortsetzung gefunden in der Kirchengeschichte, als zur alten Reichskirche die neuen Volkskirchen traten, und in der neueren Missionsgeschichte, wo zu den Kirchen der längst christianisierten Völker die werdenden Kirchen auf das Missionsfeld treten und um ihre Gleichberechtigung mit der alten Christenheit besorgt sind, auch wenn ihre Selbstständigkeitsdrang manchmal noch unreif und ungestüm ist.  
  
Es sind starke Verbindungen, die nicht nur die einzelnen Glieder der Gemeinde zusammenhalten, sondern auch die genannten beiden großen aus der Menschheitsgeschichte herausgewachsenen Teile: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater - s. Eph 4:4-6. Aber die Einheit hebt den Unterschied nicht auf. Die beiden Teile sind Brüder. Aber die Christenheit aus Israel ist der erstgeborene Bruder: der Zeit, der Arbeit, und in gewissem Sinne auch dem Vorrang nach.  
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Es sind starke Verbindungen, die nicht nur die einzelnen Glieder der Gemeinde zusammenhalten, sondern auch die genannten beiden großen aus der Menschheitsgeschichte herausgewachsenen Teile: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater - s. Eph 4:4-6. Aber die Einheit hebt den Unterschied nicht auf. Die beiden Teile sind Brüder. Aber die Christenheit aus Israel ist der erstgeborene Bruder: der Zeit, der Arbeit, und in gewissem Sinne auch dem Vorrang nach. Seit langem gibt es nur eine Christenheit aus der Völkerwelt. Es sind bis jetzt nur vereinzelte Israeliten, die seit dem heidenchristlichen Kirchen an, obwohl es ihnen schwer wird, darin heimisch zu werden, weil dieselben wenig Verständnis für das alte Gottesvolk haben. Aber niemals darf die Heidenchristenheit vergessen, dass ihre eigentliche Heimat Jerusalem ist; nicht bloß in dem Sinn, dass Jerusalem die Stadt des Kreuzes und des leeren Grabes ist - um dieses Grundes willen zog's und zieht's die Christenheit immer wieder nach Jerusalem, leider oft in recht äußerlicher Weise - sondern namentlich auch deshalb, weil dort die Gemeinde Jesu an jenem Pfingsten in die Erscheinung trat - unter Juden! <br/><br/>
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====<big>Gesetzestreue in der Gemeinde</big>====
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Judenchristen, hauptsächlich derjenige, der Israels ganze Geschichte in seiner Person durchlebt und darum so gut verstanden habt, Paulus, haben der Völkerwelt das Evangelium gebraucht und die heidenchristliche Gemeinde begründet und haben darüber von ihrem Volk gelitten. Die letztere ist der judenchristlichen Gemeinde für immer zum Dank verpflichtet, nicht nur wegen des Grundes, auf dem sie steht, sondern auch wegen des Neuen und Alten Testaments, das sie der ersten verdankt. Die neue judenchristliche Gemeinde, die sich aus dem gegenwärtigen Judentum unter großen Wehen noch herausbilden muss, hat ebenfalls wie die alte eine Arbeit an der Völkerwelt vor sich im 1000-jährigen Reich zusammen mit der verklärten Gemeinde. Die Arbeit wird vor sich gehen mit den Trümmern der einstigen Volkskirchen und im Kampf mit der antichristlich ausgearteten Völkerwelt und mit dem gleichgearteten Judentum; allerdings nicht mit der Schwere, wie sie christliche Arbeit im gegenwärtigen Zeitlauf an sich hat, sondern erleichtert durch die göttliche Zuchtübung. Aber Mühe wird es doch sein. Denn das Fleisch ist wider den Geist und gibt sich auch im Reich Gottes auf Erden nicht gerne unter den Gehorsam Christi gefangen.
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Zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde besteht auch ein Unterschied dieser Art: der erstere hatte eine lange Vorgeschichte. Er war kein neues Reis aus dem Stamm Israels, sondern die geradlinige Fortsetzung Israels, während das Judentum eine Entartung Israels  bedeutet. Darum konnten die Judenchristen unmittelbar an die Väter anknüpfen, namentlich an Abraham. Die Reihe der Väter stand vor ihnen als der Vorgänger im Glauben und Warten; wie jene einst warteten auf den kommenden König, so warteten sie auf den wiederkommenden, s. Hebr 11:1-12.
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Überhaupt in welchem Maße wurde der judenchristlichen Gemeinde die Bibel Israels, d. h. das Alte Testament, lebendig! Jesus war ja die Erfüllung und Fortsetzung der Geschichte Israels im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums, oder den Aufbau der Heilsverkündigung des Paulus in der jüdischen Gemeinde im kleinasiatischen Antiochien auf die Geschichte Israels (Apg 13) oder die Verwendung dieser Geschichte durch Stephanus bei seiner Verteidigung (Apg 7), oder die fortwährende Beziehung des Hebräerbriefs auf das Alte Testament, und zwar gerade in dessen gesetzlichen Teilen. Wie mag es sein, wenn der Teil des Volkes, der gegen das Ende dieses Zeitlaufs den Rückweg zu Christus findet, über die lange Zeit des Unglaubens  wieder anknüpft an die reiche Gottesgeschichte seiner Vorfahren! Es ist richtig: auch die Christenheit aus den Heiden hat Väter, die auf ihrem eigenen Boden gewachsen sind und die über das Grab hinüber den kommenden Geschlechtern Wegweiser sind durch die Jahrhunderte hindurch, und sie soll diese Väter nützen und ehren. Aber ihre Väter im eigentlichen Sinne, d.h. die, welche die heidenchristliche Gemeinde ins Leben riefen, gehörten nicht zu ihr selber, sondern zur Judenchristenheit; und was die erstgenannten Väter wirklich zu Vätern macht, das ist ihr Feststehen auf dem dort gelegten Grund. Sie verdienen diesen Ehrennamen nur, sofern sie weiterbauten auf dem von den Aposteln und Propheten gelegten Grund.
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Eine letzte Besonderheit der judenchristlichen Gemeinde ist ihre Stellung zu ihrem Volk und zum Gesetz. Wohl können auch heidenchristliche Kirchen eine heiße Liebe haben zu ihrem Volk und Volkstum und dürfen beide ja nicht gering achten; und doch ist die Stellung der judenchristlichen Gemeinde zu ihrem Volk eine andere; das Verhältnis geht noch mehr in die Tiefe. Das hängt mit der Geschichte Israels zusammen. Israel ist tief gefallen durch die Verstoßung und Ablehnung Jesu. Aber trotz seiner Sünde ist es Gottes Volk geblieben, und die ihm gegebenen Verheißungen sind nicht aufgehoben. Die Beziehungen der heidenchristlichen Kirchen zum Volkstum sind freilich auch von Gottes Regierung umfasst; aber doch sind es da mehr Bande der Natur, die Volk und Kirche zusammenschließen. Die judenchristliche Gemeinde aber wusste sich um Gottes und um Christi willen an ihr Volk gebunden. Auch uns macht es Not und Leiden, wenn trotz der Bande des Bluts und der Geschichte der dem Evangelium zugewandte Teil des Volkes in wichtigen Stücken nicht nicht mit dem Volksteil einig gehen kann, der seine eigentliche Bestimmung nicht durch das Evangelium erhält. Aber das Leiden der judenchristlichen Gemeinde, namentlich das inwendig, war größer, als Israels sich gegen Jesus entschied. Dieser Zwiespalt griff an das Herz: sie konnten Jesus nicht aufgeben und  konnten ihr Volk nicht lassen; beides war ihnen um Gottes willen nicht möglich. Das schuf den unaufhörlichen Schmerz, von dem Paulus in Röm 9:1-5 redet. Heidenchristen tun sich deshalb schwer, ganz die Treue zu verstehen,mit der die judenchristliche Gemeinde an der jüdischen Gemeinde hing; ihre Treue ist ein Abbild der Treue Jesu zu seinem Volk nach dem Fleisch.<br/><br/>
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====<big>Paulus zwischen Gesetz und Gnade</big>====
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Diese Treue findet eine besondere Ausprägung in ihrer Stellung zum Gesetz. Zwar war auch die Judenchristenheit vom Gesetz frei geworden, weil das Sterben Jesu das Ziel und Ende des Gesetzes ist (Röm 10:4), und der Heilige Geist die Stellung des Gesetzes eingenommen, und das Gesetz mit seiner bindenden Macht abgelöst hat. Dem Evangelium des Matthäus und dem Hebräerbrief, die beide auf judenchristlichem Boden entstanden und für Judenchristen bestimmt waren, ist diese Freiheit vom Gesetz als einer äußerlich bindenden Macht oder gar als einem Mittler des Heils deutlich anzumerken. Aber sie blieben trotzdem im Gesetz um ihres Volkes willen, um ihm den Zugang zu Jesus nicht zu erschweren. Die Stellung Israels zum Gesetz war freilich verkehrt. Aber wenn Israel bei der Gemeinde Jesu Geringschätzung des Gesetzes wahrgenommen hätte, dann hätte es sich sofort gegen das Evangelium verhärtet. Die Gemeinde handelte gegen den ungläubigen Volksteil so, wie Paulus die Starken gegen die Schwachen handeln lehrte (Röm 14). Paulus hat unter den Heiden gelebt, dem Aussehen nach, als ob ihn Israels Gesetz nicht mehr bestimmte, obwohl er dem Willen Gottes unterstellt blieb und sich willentlich unter Christus als unter das bestimmende Gesetz stellte; aber unter Juden hat er sich beim Angebot des Evangeliums soviel wie möglich in den Formen des Gesetzes bewegt (1Kor 9:23). Wie brachte er das fertig? 
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Ist ein solches Wechseln der Haltung nicht ein Charakterfehler? Wer es so nennen will, wird der Seele dieses Mannes nicht gerecht, der von heißer Liebe zu seinem Volk bewegt war, ob er nicht einige oder womöglich viele gewinnen könne, indem er ihnen einen Anstoß ersparte, der ihnen zum Glaubenshindernis werden konnte. Ein Charakterfehler liegt schon deshalb nicht vor, weil er sein Leben, ob er es nun gesetzesfrei oder im Rahmen des Gesetzes führte, stärker an Christus gebunden hat, als je ein gesetzestreuer Israelit das seine an das Gesetz. So ging Paulus, als er am Schluss seiner dritten Missionsreise die Gemeinde in Jerusalem besuchte, auf den rat und die Bitte des Jakobus und der Ältesten ein, sich innerhalb der judenchristlichen Gemeinde als gesetzestreu zu zeigen (Apg 21:20-26).  Der wunde Punkt lag nicht in der Willkür des Paulus, die vielmehr seiner in 1Kor 9 dargelegten Gesinnung entsprach, sondern in dem gesetzlichen Übereifer eines großen Teils der christlichen Gemeinde in Jerusalem, der eine gesetzesfreie Stellung nicht mehr verstand, und dem gegenüber es dem Jakobus für Paulus bange geworden zu sein scheint, ob dieser Teil der Gemeinde bereit sei, dem Heidanapostel die Bruderhand zu reichen.
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In diesem Punkt lag für die Gemeinde in Jerusalem in ihrer Gesetzestreue eine Gefahr: um der Liebe willen durften sie sich an das Gesetz binden; eine Gebundenheit an das  Gesetz um der Liebe zu den Brüdern willen widersprach ihrer Glaubensstellung zu Christo nicht. Aber eine ängstliche Bindung an das Gesetz, als ob das Gesetz die Gerechtigkeit schaffe, oder gar ein Stolz auf die gesetzliche Haltung hätte den Glaubensgrund verrückt. Ob das spätere Verschwinden der judenchristlichen Gemeinde nicht zum Teil daraus erklärt, dass anzunehmen ist, sie sei in gesetzliches Wesen zurückgefallen? Gerade die heiße Liebe zum eigenen Volk konnte blind machen für die von der Gesetzlichkeit drohende Gefahr für das Glaubensleben. Der Hebräerbrief kämpft gegen ein solches jüdisches Christentum, dem die Glaubensstellung, zumal in Leidenstagen, schwer fiel und zum Judentum zurück begehrte. Der Kampf wird in diesem Brief mit viel Liebe geführt, aber zugleich mit großem Ernst, weil jene Christen mit der zuerst inneren und dann äußeren Rückkehr zum Judentum alles verloren hätten. <br/><br/>
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====<big>Volkstum und Christentum</big>====
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Wir Heidenchristen haben allen Grund zur Teilnahme für die schwierige Lage jener alten jüdischen Christengemeinde, umso mehr als unsere Volkskirchen in ähnlicher Lage sind. Es ist in der Volkskirche nicht leicht, nach zwei Seiten die Treue zu wahren, gegen Jesus und gegen Volkstum und Volk. Gegen das Volkstum geht es noch leichter als gegenüber den tatsächlichen Erscheinungen des Volkslebens. Auch hier muss die Gefahr überwunden werden, der ängstlichen oder stolzen Treue zum Volk zuliebe der Treue zum Herrn der Kirche etwas abzubrechen.  Diese Gefahr ist bereits näher gerückt, und sie wird noch ernster werden. Der VOLKSkirche darf und soll eine heiße Liebe gehören um des eigenen Volkes willen, damit der Herr der Kirche zu seinem Recht komme. Rückt der Nachdruck von der Kirche auf das Volk, dann kann auch die Volkskirche dem Volk nicht mehr den höchsten Dienst leisten, nämlich es zur Bindung an Jesus anzuleiten, sondern sie wird in die Entwicklung des Volkslebens hineingezogen, auch wenn diese abwegig ist.
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Die schwierige innere Lage, in welche die judenchristliche Gemeinde durch ihre Gesetzestreue kam, und die zu einer Gefahr wurde für ihr inneres Leben, gibt Veranlassung, den letzten Fragen über das Gesetz nachzugehen. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf, ob diese Gesetzestreue richtig war, ob sie dem Willen des Herrn entsprach. Hätten die Apostel und ihnen nach die Gemeinde in Jerusalem in der Bindung an den durch Christus ihnen verliehenen Heiligen Geist nicht Gebrauch machen dürfen von der ihnen geschenkten Freiheit vom Gesetz, ohne Angst ihrem Volk gegenüber? Wäre dann der Gemeinde nicht manche innere Not erspart geblieben; und dem Paulus bei seinem Werk unter den Heiden nicht so viel Beunruhigendes  seiner Gemeinden durch falsche, mit dem Herzen im Judentum befangene Brüder? Wäre dann nicht von Anfang an eine engere Verbindung zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde erfolgt? -
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Die Stellung dieser Fragen ist noch nicht ihre Beantwortung. Auch die Apostel mussten ihre Freiheit vom Gesetz erst erkennen und in sie hineinwachsen. Der Heilige Geist leitet in die Wahrheit hinein, aber er tut es erkenntnismäßig; und dazu braucht es Zeit. Die Gewissen waren zuerst noch an die äußere Befolgung des Gesetzes gebunden, sie waren noch nicht zu der inneren Freiheit vorgedrungen, die Paulus nach schmerzlichem Zusammenbruch gewonnen hatte, als er den Weg des Pharisäertums bis zum bitteren Ende gegangen war. Aber diese Erkenntnis vom stückweisen Reifwerden zur Freiheit vom Gesetz hilft zur Beantwortung der obigen Fragen noch nicht. Denn dann liegt der Gedanke nahe, die Gemeinde in Jerusalem hätte allmählich entsprechend dem Fortschritt ihrer christlichen Lebenserkenntnis die Freiheit vom Gesetz praktizieren sollen, statt in ihrem Hauptteil in tiefere Bindung an das Gesetz hinein zu geraten.
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Die Antwort muss tiefer graben: weiß die Christenheit aus den Heiden, was Freiheit vom Gesetz bedeutet? In ihrer ganzen Tiefe weiß sie es nicht, weil sie die Bindung an das Gesetz nicht erlebt hat. Wüsste sie es ganz, dann würde sie erschrecken über das Maß der Freiheit vom Gesetz und über die Stärke der gleichzeitigen Bindung durch den Heiligen Geist. Die Christenheit versucht immer wieder einen Mittelweg zugehen: halb Freiheit, halb Gesetz - und wird damit keinem von beiden gerecht. Für den an Christus Gebundenen ist die Freiheit vollständig.
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Version vom 25. April 2020, 17:50 Uhr

Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor: 3. Der Beginn der neuen Menschheit

in Bearbeitung

1. Teil
Bis zum Ausgang des apostolischen Zeitalters

4. Der Gang des Gottesreiches durch die Menschheit

Auch nach Israels schwerer Verschuldung an Jesus hätte Israels Gang noch normal werden können. Noch hatte die Völkerwelt nicht vor Israel voraus; sie war mit Israel - wenn auch durch Israel gedrängt - mitschuldig geworden an der Ausstoßung des Christus. So blieb Israels Vorzugsstellung noch gewahrt. Israels Zurückstellung und die einstweilige Bevorzugung der Völkerwelt erfolgte erst später, als Israel - als Ganzes genommen - die Berufung zu seinem nun abwesenden König ablehnte. Seine erste Berufung zu Christus war durch ihn selber leibhaftig erfolgt. Obwohl auch damals Glauben, Vertrauen nötig war, wäre es damals für Israel doch leichter gewesen, sich mit seinem König zusammen zu schließen. Nun hatte die Kreuzigung die Entfernung des Königs, sein Verreisen, zu Folge gehabt. Jetzt erfolgte die zweite Berufung zum König. Aber die glaubende Unterstellung unter ihn war nun noch in höherem Maß als in seinen irdischen Tagen vom Glauben abhängig. Sie war schwerer geworden und konnte nur durch eine gründliche Umstellung, durch Buße, erfolgen. Die Einladung Israels war Aufgabe der Boten Jesu, die nach dem Abgang des Judas noch vor Pfingsten durch Zuwahl des Matthias ihre Zahl wieder auf 12 ergänzten.

Schon die Zwölfzahl war ein Zeichen, dass das gesamte Israel berufen sei, und zwar nicht nur das im heiligen Land ansässige, sondern auch das Israel in der Zerstreuung. Auf dieses Großisrael, dessen Mittelpunkt der in Judäa ansässige Teil war, ist Apg 2:9-11 hingewiesen: es erstreckte sich vom fernen Osten - Persien, Mesopotamien, Arabien - über Kleinasien in den Westen - Rom - und in den Süden - Ägypten und Lybien. Auf diese jüdische Diaspora hat Petrus ausdrücklich in seiner Pfingstpredigt die Berufung ausgedehnt (Apg 2:39). Denn unter denen, die ferne sind, können in diesem Zusammenhang nicht die Heiden verstanden werden; möglich it aber, dass Petrus auch an die verschollenen Stämme dachte, die Gott auf irgendeine Weise herbeirufen werde, wenn Israel den Ruf zu seinem König Folge leiste. In welchem Maße die Gemeinde in Jerusalem jüdische Glieder aus dem griechischen Sprachgebiet in ihrer Mitte hatte, geht aus Apg 6:1-6 hervor, sofern die dort berichtete Einrichtung des Armenpflegeramtes seinen Ursprung in der Zweisprachigkeit der ersten Gemeinde hatte, wie auch die zu diesem Amt gewählten Männer griechische Namen trugen.

Ablehnung durch das Judentum

Mit dem Sterben Jesu war der alte Bund Gottes mit Israel, der auf dem Gesetz beruhte, abgeschlossen. Aber Israel hielt starr am alten Bund fest. Das machte die Stellung der innerhalb Israels entstehenden Gemeinde Jesu zu Israel und ihren Gang innerhalb Israels schwer. Aber die Boten Jesu und die neue Gemeinde gaben weder der Volk noch seinen Führer in diesem Stück einen Anstoß, weil sie sich streng an das Gesetz hielten. Erst Stephanus hat den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Bund ans Licht gestellt. Das geht aus der Anklage hervor, die gegen ihn erhoben wurde, (Apg 6:11-14), wenn auch der Inhalt und die Zielsetzung der Aussagen des Stephanus von seinen Anklägern entstellt wiedergegeben worden ist. Er sagte ihnen, dass die Zeit des alten Tempels vorbei, und dass an die Stelle des Gesetzesbundes der neue Bund getreten sei. Die Apostel hatten nur zu Jesus gerufen, aber die bisherige Ordnung nicht angegriffen. Trotzdem waren sie vom Hohen Rat verwarnt worden und ein zweites mal der Verurteilung zum Tod nur durch die Bedächtigkeit Gamalies entgangen. Aber der Freimut des Stephanus brachte den Widerwillen der Führer Israels gegen die Bezeugung des Königsamts des Gekreuzigten über Israel auf die Spitze und führte die Hinrichtung des Stephanus herbei ohne Einhaltung des ordnungsgemäßen Rechtsweges. Eine Christusgemeinde aus Israel war zwar gegründet, aber sie verfiel der Ächtung. Israel als Ganzes in seinen Führern hat die Berufung zum Gekreuzigten abgelehnt. Das 70. Wochenjahr des Daniels (Dan 9:27) war zu Ende gegangen, ohne das Israels Freisein zum Dienst zustande gekommen wäre. Israels Fall war abgeschlossen, obwohl Jerusalem und der Tempel noch standen, obwohl die Gemeinde noch in Israels Mitte weilte, und obwohl das Angebot der Gnade noch nicht abgeschlossen war.

Mancherlei Erwägungen drängen sich an einem solchen Wendepunkt auf, Erwägungen, die weit über Israel hinausschauen und zu einer Schicksalsfrage werden auch für die Christenheit, zumal für das eigene Volk. Dann die göttliche Voraussicht des Falles und die Schuldzumessung für den Fall nebeneinander stehen? Nicht erst Jesus, schon die Propheten haben ja den zweiten Fall Israels, der in der Ablehnung der Vergebungsgnade für die Ausstoßung des Christus und in der Zurückweisung des Rufes zum Gekreuzigten und Auferstandenen bestand, vorausgesagt. Trotzdem hat Gott Israel, als der Fall feststand und zum Abschluss gekommen war, als schuldig behandelt. Ohne den Widerstreit lösen zu wollen, mit dem Paulus in Röm 9 und Röm 10 gerungen hat, sei das gleichzeitige Bestehen beider Tatsachen nebeneinander festgestellt, dass nämlich die Erfüllung einer Weissagung mit schlimmem Inhalt menschliche Schuld nicht ausschließt, sondern tiefe Schuld begründen kann. -

Eine andere Frage ist die, wenn Gott die Verwerfung der Heilsbotschaft voraussah, war dann die letztere ernst gemeint? Gewiss! Tatsächlich war das Angebot der Gnade auch nicht vergebens: ein Rest Israel hat zugegriffen (Röm 11:1-6). Die größte Errungenschaft des Evangeliums war Paulus. Der, der sterbend, ohne den Erfolg zu sehen, den Stachel gegen Paulus ansetzen musste, war Stephanus. Damals wurde Paulus wund. Stephanus starb nicht umsonst. Er entwand dem Pharisäismus denjenigen seiner Vertreter, der die ganze Bewegung bis zur letzten Folgerichtigkeit durchlaufen und in sich ausgebildet hat, und der dann den Mut hatte, den Zusammenbruch des ganzen stolzen Lebensgebäudes einzugestehen. Aber das Angebot des Evangeliums an Israel geschah nicht bloß um der Auswahl willen, sondern war ernst gemeint für das ganze Volk. Nicht leichten Herzens ließ Gott sein Volk in die lange Nacht hineingehen. - Eine andere Beobachtung von tiefem Ernst ist die, dass eines Volkes Zeit abgeschlossen sein kann, ehe der Abschluss mit einem äußerlich wahrnehmbaren Schlusspunkt in die Erscheinung tritt. Nach dem Tod des Stephanus währte es noch geraume Zeit bis Jerusalem fiel. Auch das Evangelium wurde noch nicht völlig weggenommen. Aber im Grunde war Israels Uhr auf lange Zeit abgelaufen. Nicht für immer, denn Gott wird die stehen gebliebene Uhr wieder in Gang bringen.

Und die Christenheit?

Blicken wir von diesen Gedanken hinüber zur Christenheit, zumal zur deutschen, so tauchen bewegende Fragen auf: steht über der Christenheit, die aus der Völkerwelt gesammelt ist, nicht auch die Weissagung, dass sie untüchtig werde, und, als Ganzes genommen, der antichristlichen Entwicklung nicht standhalten werden? Liegt hier nicht auch Schuld vor? Ist das Evangelium nicht auch ganz ernsthaft nahegebracht worden? Ist vielleicht die Zeit der Christenheit im Grunde bereits abgelaufen, obwohl die Betriebsamkeit groß ist, z.B. in den Versuchen, die christlichen Kirchen zu einer Einheit zusammen zu bringen? Ist der viele Betrieb vielleicht bereits ein Zeichen des inneren Todes? Wie steht es insbesondere mit unserm deutschen Volk, das ja überwiegend noch zur Kirche gehört? Die Fragen sollen nur gestellt nicht beantwortet werden. Aber dass solche Fragen überhaupt das Gemüt bewegen können, ist auch ein Zeichen der Zeit.

Stephanus' Ende als Wende

Kann der Steinigung des Stephanus solche Bedeutung zugemessen werden, dass damit Israels alte Geschichte nach öffentlichem Recht als abgeschlossen betrachtet werden kann? Um die Berechtigung dieser Auffassung darzulegen, sind einige Erörterungen erforderlich. Jene Tat war ein geschichtlicher Knotenpunkt: d. h. auf diesen Punkt läuft Israels früher Geschichte zu und von ihm geht der weitere Weg seiner Geschichte aus. Die Hinrichtung des Stephanus bracht die Stellung der Führer Israels zur Reife. Sie war den Aposteln und noch mehr der neuen Gemeinde gegenüber bisher noch schwankend geblieben. Außer dem Glauben an den Geächteten konnte niemand der Gemeinde Jesu etwas vorwerfen. Sie war den Aposteln und noch mehr der neuen Gemeinde gegenüber bisher noch schwankend geblieben. Außer dem Glauben an den Geächteten konnte niemand der Gemeinde Jesu etwas vorwerfen. Sie war gesetzestreu und blieb mit großer Treue innerhalb der alten Gemeinde. Sogar innerhalb des Hohen Rates wagte sich ein Schwanken hervor: steht hinter der Willensfestigkeit der Apostel, mit der sie bei der Verkündigung des Christus verharren, und hinter ihrem ganzen Werk vielleicht doch Gott? Dann wäre ein Vorgehen gegen die Boten Jesu ein Kampf gegen Gott! So sprach der Lehrer des Paulus, Gamaliel; und sein Wort rettete seinerzeit die Apostel (Apg 5:34-40). Was mag in der Seele dieses Mannes vorgegangen sein! Wenn ihn die Furcht vor Gott zu solchen Gedanken veranlasste und ihn ermutigte, sie in einem entscheidenden Augenblick in die Waagschale zu legen, dann war er der Erwägung nicht ganz unzugänglich, ob nicht der Gekreuzigte doch Israels König sei.

Vielleicht erleichterte diese nachdenkliche Stimmung auch der großen Priesterzahl, von der Apg 6:7 die Rede ist, den Zugang zur Gemeinde. Dieser kleine Zug der Erzählung zeigt übrigens wie treu die erste Gemeinde dem alten Gottesdienst ergeben war; denn die genannten Priester gaben den Tempeldienst nicht auf, sondern übten ihn als Jünger Jesu weiter. Die schwankende Stellung des Hohen Rats gegenüber der neuen Gemeinde hörte aber auf, als Stephanus vor ihm stand, und vollends nachdem seine Hinrichtung vollzogen war. Zum zweiten mal hatte der Hohe Rat Jesum verurteilt, das erste mal in seiner eigenen Person, das andere mal in seinem Jünger. Nun war seine Stellung festgeworden gegen Jesus, und sie blieb fest. Wenn es später, als Paulus vor dem Hohen Rat stand, zu einer Spaltung desselben kam, so entstand dieselbe nicht deshalb weil ein Teil auf Jesu Seite getreten wäre, sondern nur um eines Lehrsatzes willen (Apg 23:1-9). Stephanus hat in seiner Verteidigungsrede, die zur Anklage wurde, ein klares Bewusstsein davon gehabt, dass Jesu Hinrichtung nur das Ergebnis der Geschichte Israels sei, und dass die Haltung des Hohen Rats nur die geradlinige Fortsetzung der alten Halsstarrigkeit Israels sei (Apg 7:1-53). Stephanus sprach diese bittre Wahrheit aus und unmittelbar darauf bestätigten sie seine Aussage aus und unmittelbar darauf bestätigten sie seine Aussage durch seine Steinigung. Als Stephanus im Dienste Gottes redete, musste er als Gotteslästerer sterben - denn die Steinigung war der Tod der Lästerer.

Dahin haben Israels Führer das Volk geführt und das Volk ließ sich führen. Seine anfängliche Freude an der Gemeinde und die Ehrfurcht vor ihr schwand, und damit auch die Ernsthaftigkeit. Als Petrus enthauptet werden sollte, war es für das das jüdische Volk ein erwünschtes Schauspiel, auf das es begierig wartete. "Der Herr hat mich gerettet vor der ganzen Gier (Übersetzung: Menge) des jüdischen Volkes" (Apg 12:11). Welche Veränderung war in der Seele des Volkes vor sich gegangen! Der Ursprung lag tiefer. Änderungen in der Seelenverfassung haben oft einen sehr ernsten Hintergrund, sowohl bei einzelnen, als auch bei der Menge. Denn der Untergrund der Seele (als Unterbewusstsein) ist eine von der Unterwelt (der höllischen Geisterwelt) gerne benutzte Eingangspforte in den menschlichen Geist. Und menschliche Untreue ist vielfach der Grund, dass die Pforte sich öffnet.

Der Übergang zur Völkerwelt

Die Bedeutung der Hinrichtung des Stephanus wird übrigens nicht nur an ihrer verheerenden Wirkung auf Israel klar, sondern auch daran, dass sie den Übergang des Evangeliums zur Völkerwelt einleitete. Ihre nächste Folge war die Verfolgung der Gemeinde, unter Führung des Paulus, der damals noch Saulus hieß. Die Verfolgung wiederum trieb die Gemeinde aus Jerusalem hinaus und brachte auf diese Weise die Weitergabe des Evangeliums an einen weiteren Kreis zustande. Es fiel die Schranke zwischen Israel und Halbisrael, nämlich den Samaritern, die Jesus in seinen irdischen Tagen noch geachtet hatte. Und der Armenpfleger Philippus musste seine Arbeit in Samaria abbrechen, um dem heidnischen Fremdling, der Gott im Tempel zu Jerusalem gesucht hatte, den Weg zu Jesus zu zeigen. Noch war es kein Ganzheide; aber das Evangelium rückte der Völkerwelt näher. Da holte der Erhöhte selber, nicht im Gesicht, sondern in tatsächlicher Erscheinung, deren Glanz die Augen zum Erblinden brachte, seinen Verfolger, und Saul ließ sich holen und wurde zum Paulus. Er war von Anfang an zum Boten Jesu an der Völkerwelt bestimmt. Aber gleichzeitig musste er für sein eigenes Volk zum Zeichen werden, an dem dessen Abneigung gegen Jesus zur Verstockung ihm gegenüber ausarten sollte. Welch starkes Band von Stephanus zu Paulus hinüberging, wurde bereits gezeigt. Ananias, der Christ von Damaskus, durfte Helferdienste leisten, dass Paulus den Weg zum Glauben und zur Gemeinde Jesu fand. Aber sein geistlicher Vater ist nicht Ananias, sondern Stephanus (Apg 7:57 bis Apg 9:20).

Israel und die Völkerwelt

Israel und die Völkerwelt. Dieser Gegenstand der Weltgeschichte ging nun auf seine Spitze zu. Israel war als heiliges Volk von der Völkerwelt abgesondert, aber nur, um zumDienst Gottes an derselben zubereitet zu werden. Nun war die Zeit gekommen, da Israel als Volk Christi der Völkerwelt hätte behilflich sein sollen zum Eingang in das Reich Gottes. Das letzte Wochenjahr vor dem Antritt seines Berufs war zu Ende. Aber Israel war nicht bereit. Es hatte seinen König nicht erkannt und zweimal verworfen und gleichzeitig sich in sattem Stolz und eigener Gerechtigkeit von den Völkern innerlich verschlossen. Und das wahre Israel, d. h. die für Jesus gewonnene, in der Gemeinde zusammengeschlossene Auswahl aus Israel? Auch diesem rechten Israel fiel der Weg zu den Völkern schwer. Wie schwer wäre dem Petrus der Weg zu dem heidnischen Hauptmann nach Cäsarea gefallen, wenn er nicht vorher den dreimaligen Unterricht bekommen hätte, der ihm zeigte, dass er Heiden um ihrer Zugehörigkeit zur Völkerwelt willen nicht als unreine Leute ansehen und behandeln dürfe! Und dieser Gang erweckte in der Gemeinde zu Jerusalem keinen kleinen Anstoß, der erst schwand als Petrus nachwies, dass ihm der Gang befohlen, und dass die Verkündigung des Evangeliums im heidnischen Haus von der Wirkung des Heiligen Geistes begleitet war und mit dem Empfang des heiligen Gottes endete (Apg 10; Apg 11:1-18).

Einige Glieder der Gemeinde Jesu aus Israel brachten bald darauf den Heiden das Evangelium aus freiem Herzen. So entstand in Antiochien in Syrien die ersten heidenchristliche Gemeinde, mit der ihre judenchristlichen Begründer in herzlicher Liebe und Gemeinschaft verbunden waren, in der auch Paulus seinen ersten Wirkungskreis von längerer Dauer fand (Apg 11:19-30). Diese Männer verstanden den Beruf Israels, das Licht für die Heiden, der Segensträger für die Völkerwelt zu werden. Aber für die judenchristliche Gesamtgemeinde waren damit nicht alle Schwierigkeiten behoben. Sie musste sich vor zwei in sich zusammen hängenden Abwegen hüten und hat den richtigen Weg nicht in all ihren Gliedern eingehalten. Sie musste lernen, die heidenchristliche Gemeinde, wenn sie nur dem Geiste Gottes und Christi sich willig unterstellte, von der Bindung an die alte Lebensordnung Israels freizulassen und ihr trotzdem die Bruderhand zu reichen. Sie musste weiter lernen sich selber von der Gesetzesgerechtigkeit zu lösen, als ob ihr Anteil an Gott und Christus auf der Beobachtung des Gesetzes beruhte, und sich ganz auf die Glaubensgerechtigkeit stellen, d. h. die Gerechtigkeit erkennen und such aus dem Anschluss an Jesum, den Gekreuzigten und Auferstandenen. War ihr Friede und ihr Gewissen an Jesum gebunden und nicht mehr an das Gesetz, dann konnten sie ohne Schaden für ihr inneres Leben die Anordnungen des Gesetzes als heilig ehren und beibehalten.

Sie konnten ihre heidenchristlichen Mitbrüder als vollberechtigte Glieder Christi ehren, auch wenn diese dem Gesetz Israels nicht untergeben waren, wenn sie nur in der Lebensordnung Christi standen (1Kor 9:21) im Gehorsam gegen den in und unter ihnen wirkenden Heiligen Geist. Sie konnten dann auch in brüderlichen Verkehr mit den Heidenchristen treten unter Hintansetzung der den Verkehr erschwerenden äußerlichen Reinigkeitsordnungen, ohne deshalb ihr Gewissen zu beschweren. Sie hätten, nach Vollendung ihrer Aufgabe am fleischlichen Israel, in der Bindung des Glaubensgehorsams an Christus hineinwachsen können in die Freiheit vom Gesetz, dessen Ende Christus ist für alle, die ihm gehorsam geworden sind. Diese Stellung hat Stephanus eingenommen. Aber selbst Petrus fiel lange Zeit eine solche Stellung schwer, aus äußerer Ängstlichkeit (s. Gal 2:11-21), vielleicht auch aus innerer, weil sein Gewissen trotz der Bindung an Jesum noch nicht ganz gelöst war von der inneren Bindung an das Gesetz.

Unterschiede: Juden- und Heidenchristen

Die judenchristliche Gemeinde ist nicht in allen ihren Gliedern zu der durch Christum für seine Gemeinde erworbenen Freiheit durchgedrungen. Angehörige der Judenchristenheit haben der Heidenchristenheit schwere Gewissensnot bereitet durch die Forderung, der Anschluss an Jesus müsse ergänzt werden durch Eingliederung in das jüdische Volk durch die Beschneidung, weil sie sonst trotz des Glaubens an Christum verloren gehe (s. Apg 15:1-35). Paulus geriet auf diese Weise in tiefernste Kämpfe mit solchen Gliedern der judenchristlichen Gemeinde, die, vom Heiligen Land ausgehend, seine Gemeinden verwirrten und ihren Glaubensgrund verrückten. S. den Galaterbrief und Ausführungen wie Phil 3:1-11 und sonstige. Auch in ihrem eigenen inneren Stand war Gefahr, dass die Treue zu Israels gesetzlicher Lebensordnung nicht nur zu Spannungen führte mit der durch Christus erworbenen und im Besitz des Geistes betätigten Freiheit vom Gesetz, sondern auch zu einer Gefährdung des Glaubensverhältnisses zu Jesus. Zeuge davon ist die schon erwähnte brüderlich-ernste Auseinandersetzung zwischen Paulus und Petrus in Antiochien (Gal 2:11-21). Es wird gut sein, in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen der Gemeinde Jesu aus Israel und der aus der Völkerwelt einzugehen. Denn zwischen diesen beiden Teilen der Gemeinde Jesu besteht tatsächlich ein Unterschied, der auch in der Endzeit wieder an den Tag treten wird.

Zwar ist die Gemeinde Jesu nur eine. Und doch ist kein kleiner Unterschied zwischen dem Teil der Gemeinde, der aus Israel gesammelt wurde und wird, und zwischen dem aus der Völkerwelt herausgenommenen. Den ersten nennen wir den judenchristlichen Teil, den anderen den heidenchristlichen. Die einen waren frühere Juden, die andern frühere "Griechen" - so nannte Paulus den Hauptteil der im römischen Reich zusammengefassten Völkerwelt wegen der Vorherrschaft des griechischen Geistes - oder "Barbaren", womit nach griechischem Vorgang, aber ohne die griechische Geringschätzung, die dem griechischen Wesen nicht aufgeschlossenen Völker benannt wurden (Luther: "Ungriechen"). Siehe die Unterscheidungen in Röm 1:14-16. Die Unterscheidung zwischen Judenchristen und Heidenchristen war nicht bloß zur Zeit der Apostel brennend, sondern wird wieder brennend werden. Die Unterscheidung zwischen "Griechen" und "Barbaren" hat ihre Fortsetzung gefunden in der Kirchengeschichte, als zur alten Reichskirche die neuen Volkskirchen traten, und in der neueren Missionsgeschichte, wo zu den Kirchen der längst christianisierten Völker die werdenden Kirchen auf das Missionsfeld treten und um ihre Gleichberechtigung mit der alten Christenheit besorgt sind, auch wenn ihre Selbstständigkeitsdrang manchmal noch unreif und ungestüm ist.

Es sind starke Verbindungen, die nicht nur die einzelnen Glieder der Gemeinde zusammenhalten, sondern auch die genannten beiden großen aus der Menschheitsgeschichte herausgewachsenen Teile: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater - s. Eph 4:4-6. Aber die Einheit hebt den Unterschied nicht auf. Die beiden Teile sind Brüder. Aber die Christenheit aus Israel ist der erstgeborene Bruder: der Zeit, der Arbeit, und in gewissem Sinne auch dem Vorrang nach. Seit langem gibt es nur eine Christenheit aus der Völkerwelt. Es sind bis jetzt nur vereinzelte Israeliten, die seit dem heidenchristlichen Kirchen an, obwohl es ihnen schwer wird, darin heimisch zu werden, weil dieselben wenig Verständnis für das alte Gottesvolk haben. Aber niemals darf die Heidenchristenheit vergessen, dass ihre eigentliche Heimat Jerusalem ist; nicht bloß in dem Sinn, dass Jerusalem die Stadt des Kreuzes und des leeren Grabes ist - um dieses Grundes willen zog's und zieht's die Christenheit immer wieder nach Jerusalem, leider oft in recht äußerlicher Weise - sondern namentlich auch deshalb, weil dort die Gemeinde Jesu an jenem Pfingsten in die Erscheinung trat - unter Juden!

Gesetzestreue in der Gemeinde

Judenchristen, hauptsächlich derjenige, der Israels ganze Geschichte in seiner Person durchlebt und darum so gut verstanden habt, Paulus, haben der Völkerwelt das Evangelium gebraucht und die heidenchristliche Gemeinde begründet und haben darüber von ihrem Volk gelitten. Die letztere ist der judenchristlichen Gemeinde für immer zum Dank verpflichtet, nicht nur wegen des Grundes, auf dem sie steht, sondern auch wegen des Neuen und Alten Testaments, das sie der ersten verdankt. Die neue judenchristliche Gemeinde, die sich aus dem gegenwärtigen Judentum unter großen Wehen noch herausbilden muss, hat ebenfalls wie die alte eine Arbeit an der Völkerwelt vor sich im 1000-jährigen Reich zusammen mit der verklärten Gemeinde. Die Arbeit wird vor sich gehen mit den Trümmern der einstigen Volkskirchen und im Kampf mit der antichristlich ausgearteten Völkerwelt und mit dem gleichgearteten Judentum; allerdings nicht mit der Schwere, wie sie christliche Arbeit im gegenwärtigen Zeitlauf an sich hat, sondern erleichtert durch die göttliche Zuchtübung. Aber Mühe wird es doch sein. Denn das Fleisch ist wider den Geist und gibt sich auch im Reich Gottes auf Erden nicht gerne unter den Gehorsam Christi gefangen.

Zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde besteht auch ein Unterschied dieser Art: der erstere hatte eine lange Vorgeschichte. Er war kein neues Reis aus dem Stamm Israels, sondern die geradlinige Fortsetzung Israels, während das Judentum eine Entartung Israels bedeutet. Darum konnten die Judenchristen unmittelbar an die Väter anknüpfen, namentlich an Abraham. Die Reihe der Väter stand vor ihnen als der Vorgänger im Glauben und Warten; wie jene einst warteten auf den kommenden König, so warteten sie auf den wiederkommenden, s. Hebr 11:1-12.

Überhaupt in welchem Maße wurde der judenchristlichen Gemeinde die Bibel Israels, d. h. das Alte Testament, lebendig! Jesus war ja die Erfüllung und Fortsetzung der Geschichte Israels im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums, oder den Aufbau der Heilsverkündigung des Paulus in der jüdischen Gemeinde im kleinasiatischen Antiochien auf die Geschichte Israels (Apg 13) oder die Verwendung dieser Geschichte durch Stephanus bei seiner Verteidigung (Apg 7), oder die fortwährende Beziehung des Hebräerbriefs auf das Alte Testament, und zwar gerade in dessen gesetzlichen Teilen. Wie mag es sein, wenn der Teil des Volkes, der gegen das Ende dieses Zeitlaufs den Rückweg zu Christus findet, über die lange Zeit des Unglaubens wieder anknüpft an die reiche Gottesgeschichte seiner Vorfahren! Es ist richtig: auch die Christenheit aus den Heiden hat Väter, die auf ihrem eigenen Boden gewachsen sind und die über das Grab hinüber den kommenden Geschlechtern Wegweiser sind durch die Jahrhunderte hindurch, und sie soll diese Väter nützen und ehren. Aber ihre Väter im eigentlichen Sinne, d.h. die, welche die heidenchristliche Gemeinde ins Leben riefen, gehörten nicht zu ihr selber, sondern zur Judenchristenheit; und was die erstgenannten Väter wirklich zu Vätern macht, das ist ihr Feststehen auf dem dort gelegten Grund. Sie verdienen diesen Ehrennamen nur, sofern sie weiterbauten auf dem von den Aposteln und Propheten gelegten Grund.

Eine letzte Besonderheit der judenchristlichen Gemeinde ist ihre Stellung zu ihrem Volk und zum Gesetz. Wohl können auch heidenchristliche Kirchen eine heiße Liebe haben zu ihrem Volk und Volkstum und dürfen beide ja nicht gering achten; und doch ist die Stellung der judenchristlichen Gemeinde zu ihrem Volk eine andere; das Verhältnis geht noch mehr in die Tiefe. Das hängt mit der Geschichte Israels zusammen. Israel ist tief gefallen durch die Verstoßung und Ablehnung Jesu. Aber trotz seiner Sünde ist es Gottes Volk geblieben, und die ihm gegebenen Verheißungen sind nicht aufgehoben. Die Beziehungen der heidenchristlichen Kirchen zum Volkstum sind freilich auch von Gottes Regierung umfasst; aber doch sind es da mehr Bande der Natur, die Volk und Kirche zusammenschließen. Die judenchristliche Gemeinde aber wusste sich um Gottes und um Christi willen an ihr Volk gebunden. Auch uns macht es Not und Leiden, wenn trotz der Bande des Bluts und der Geschichte der dem Evangelium zugewandte Teil des Volkes in wichtigen Stücken nicht nicht mit dem Volksteil einig gehen kann, der seine eigentliche Bestimmung nicht durch das Evangelium erhält. Aber das Leiden der judenchristlichen Gemeinde, namentlich das inwendig, war größer, als Israels sich gegen Jesus entschied. Dieser Zwiespalt griff an das Herz: sie konnten Jesus nicht aufgeben und konnten ihr Volk nicht lassen; beides war ihnen um Gottes willen nicht möglich. Das schuf den unaufhörlichen Schmerz, von dem Paulus in Röm 9:1-5 redet. Heidenchristen tun sich deshalb schwer, ganz die Treue zu verstehen,mit der die judenchristliche Gemeinde an der jüdischen Gemeinde hing; ihre Treue ist ein Abbild der Treue Jesu zu seinem Volk nach dem Fleisch.

Paulus zwischen Gesetz und Gnade

Diese Treue findet eine besondere Ausprägung in ihrer Stellung zum Gesetz. Zwar war auch die Judenchristenheit vom Gesetz frei geworden, weil das Sterben Jesu das Ziel und Ende des Gesetzes ist (Röm 10:4), und der Heilige Geist die Stellung des Gesetzes eingenommen, und das Gesetz mit seiner bindenden Macht abgelöst hat. Dem Evangelium des Matthäus und dem Hebräerbrief, die beide auf judenchristlichem Boden entstanden und für Judenchristen bestimmt waren, ist diese Freiheit vom Gesetz als einer äußerlich bindenden Macht oder gar als einem Mittler des Heils deutlich anzumerken. Aber sie blieben trotzdem im Gesetz um ihres Volkes willen, um ihm den Zugang zu Jesus nicht zu erschweren. Die Stellung Israels zum Gesetz war freilich verkehrt. Aber wenn Israel bei der Gemeinde Jesu Geringschätzung des Gesetzes wahrgenommen hätte, dann hätte es sich sofort gegen das Evangelium verhärtet. Die Gemeinde handelte gegen den ungläubigen Volksteil so, wie Paulus die Starken gegen die Schwachen handeln lehrte (Röm 14). Paulus hat unter den Heiden gelebt, dem Aussehen nach, als ob ihn Israels Gesetz nicht mehr bestimmte, obwohl er dem Willen Gottes unterstellt blieb und sich willentlich unter Christus als unter das bestimmende Gesetz stellte; aber unter Juden hat er sich beim Angebot des Evangeliums soviel wie möglich in den Formen des Gesetzes bewegt (1Kor 9:23). Wie brachte er das fertig?

Ist ein solches Wechseln der Haltung nicht ein Charakterfehler? Wer es so nennen will, wird der Seele dieses Mannes nicht gerecht, der von heißer Liebe zu seinem Volk bewegt war, ob er nicht einige oder womöglich viele gewinnen könne, indem er ihnen einen Anstoß ersparte, der ihnen zum Glaubenshindernis werden konnte. Ein Charakterfehler liegt schon deshalb nicht vor, weil er sein Leben, ob er es nun gesetzesfrei oder im Rahmen des Gesetzes führte, stärker an Christus gebunden hat, als je ein gesetzestreuer Israelit das seine an das Gesetz. So ging Paulus, als er am Schluss seiner dritten Missionsreise die Gemeinde in Jerusalem besuchte, auf den rat und die Bitte des Jakobus und der Ältesten ein, sich innerhalb der judenchristlichen Gemeinde als gesetzestreu zu zeigen (Apg 21:20-26). Der wunde Punkt lag nicht in der Willkür des Paulus, die vielmehr seiner in 1Kor 9 dargelegten Gesinnung entsprach, sondern in dem gesetzlichen Übereifer eines großen Teils der christlichen Gemeinde in Jerusalem, der eine gesetzesfreie Stellung nicht mehr verstand, und dem gegenüber es dem Jakobus für Paulus bange geworden zu sein scheint, ob dieser Teil der Gemeinde bereit sei, dem Heidanapostel die Bruderhand zu reichen.

In diesem Punkt lag für die Gemeinde in Jerusalem in ihrer Gesetzestreue eine Gefahr: um der Liebe willen durften sie sich an das Gesetz binden; eine Gebundenheit an das Gesetz um der Liebe zu den Brüdern willen widersprach ihrer Glaubensstellung zu Christo nicht. Aber eine ängstliche Bindung an das Gesetz, als ob das Gesetz die Gerechtigkeit schaffe, oder gar ein Stolz auf die gesetzliche Haltung hätte den Glaubensgrund verrückt. Ob das spätere Verschwinden der judenchristlichen Gemeinde nicht zum Teil daraus erklärt, dass anzunehmen ist, sie sei in gesetzliches Wesen zurückgefallen? Gerade die heiße Liebe zum eigenen Volk konnte blind machen für die von der Gesetzlichkeit drohende Gefahr für das Glaubensleben. Der Hebräerbrief kämpft gegen ein solches jüdisches Christentum, dem die Glaubensstellung, zumal in Leidenstagen, schwer fiel und zum Judentum zurück begehrte. Der Kampf wird in diesem Brief mit viel Liebe geführt, aber zugleich mit großem Ernst, weil jene Christen mit der zuerst inneren und dann äußeren Rückkehr zum Judentum alles verloren hätten.

Volkstum und Christentum

Wir Heidenchristen haben allen Grund zur Teilnahme für die schwierige Lage jener alten jüdischen Christengemeinde, umso mehr als unsere Volkskirchen in ähnlicher Lage sind. Es ist in der Volkskirche nicht leicht, nach zwei Seiten die Treue zu wahren, gegen Jesus und gegen Volkstum und Volk. Gegen das Volkstum geht es noch leichter als gegenüber den tatsächlichen Erscheinungen des Volkslebens. Auch hier muss die Gefahr überwunden werden, der ängstlichen oder stolzen Treue zum Volk zuliebe der Treue zum Herrn der Kirche etwas abzubrechen. Diese Gefahr ist bereits näher gerückt, und sie wird noch ernster werden. Der VOLKSkirche darf und soll eine heiße Liebe gehören um des eigenen Volkes willen, damit der Herr der Kirche zu seinem Recht komme. Rückt der Nachdruck von der Kirche auf das Volk, dann kann auch die Volkskirche dem Volk nicht mehr den höchsten Dienst leisten, nämlich es zur Bindung an Jesus anzuleiten, sondern sie wird in die Entwicklung des Volkslebens hineingezogen, auch wenn diese abwegig ist.

Die schwierige innere Lage, in welche die judenchristliche Gemeinde durch ihre Gesetzestreue kam, und die zu einer Gefahr wurde für ihr inneres Leben, gibt Veranlassung, den letzten Fragen über das Gesetz nachzugehen. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf, ob diese Gesetzestreue richtig war, ob sie dem Willen des Herrn entsprach. Hätten die Apostel und ihnen nach die Gemeinde in Jerusalem in der Bindung an den durch Christus ihnen verliehenen Heiligen Geist nicht Gebrauch machen dürfen von der ihnen geschenkten Freiheit vom Gesetz, ohne Angst ihrem Volk gegenüber? Wäre dann der Gemeinde nicht manche innere Not erspart geblieben; und dem Paulus bei seinem Werk unter den Heiden nicht so viel Beunruhigendes seiner Gemeinden durch falsche, mit dem Herzen im Judentum befangene Brüder? Wäre dann nicht von Anfang an eine engere Verbindung zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde erfolgt? -

Die Stellung dieser Fragen ist noch nicht ihre Beantwortung. Auch die Apostel mussten ihre Freiheit vom Gesetz erst erkennen und in sie hineinwachsen. Der Heilige Geist leitet in die Wahrheit hinein, aber er tut es erkenntnismäßig; und dazu braucht es Zeit. Die Gewissen waren zuerst noch an die äußere Befolgung des Gesetzes gebunden, sie waren noch nicht zu der inneren Freiheit vorgedrungen, die Paulus nach schmerzlichem Zusammenbruch gewonnen hatte, als er den Weg des Pharisäertums bis zum bitteren Ende gegangen war. Aber diese Erkenntnis vom stückweisen Reifwerden zur Freiheit vom Gesetz hilft zur Beantwortung der obigen Fragen noch nicht. Denn dann liegt der Gedanke nahe, die Gemeinde in Jerusalem hätte allmählich entsprechend dem Fortschritt ihrer christlichen Lebenserkenntnis die Freiheit vom Gesetz praktizieren sollen, statt in ihrem Hauptteil in tiefere Bindung an das Gesetz hinein zu geraten.

Die Antwort muss tiefer graben: weiß die Christenheit aus den Heiden, was Freiheit vom Gesetz bedeutet? In ihrer ganzen Tiefe weiß sie es nicht, weil sie die Bindung an das Gesetz nicht erlebt hat. Wüsste sie es ganz, dann würde sie erschrecken über das Maß der Freiheit vom Gesetz und über die Stärke der gleichzeitigen Bindung durch den Heiligen Geist. Die Christenheit versucht immer wieder einen Mittelweg zugehen: halb Freiheit, halb Gesetz - und wird damit keinem von beiden gerecht. Für den an Christus Gebundenen ist die Freiheit vollständig.