Der Gang des Gottesreiches durch die Menschheit

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Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor:
3. Der Beginn der neuen Menschheit

4. Der Gang des Gottesreiches durch die Menschheit

Auch nach Israels schwerer Verschuldung an Jesus hätte Israels Gang noch normal werden können. Noch hatte die Völkerwelt nichts vor Israel voraus; sie war mit Israel - wenn auch durch Israel gedrängt - mitschuldig geworden an der Ausstoßung des Christus. So blieb Israels Vorzugsstellung noch gewahrt. Israels Zurückstellung und die einstweilige Bevorzugung der Völkerwelt erfolgte erst später, als Israel - als Ganzes genommen - die Berufung zu seinem nun abwesenden König ablehnte. Seine erste Berufung zu Christus war durch ihn selber leibhaftig erfolgt. Obwohl auch damals Glauben und Vertrauen nötig waren, wäre es damals für Israel doch leichter gewesen, sich mit seinem König zusammenzuschließen. Nun hatte die Kreuzigung die Entfernung des Königs, sein Verreisen, zur Folge gehabt. Jetzt erfolgte die zweite Berufung zum König. Aber die glaubende Unterstellung unter ihn war nun noch in höherem Maß, als in seinen irdischen Tagen, vom Glauben abhängig. Sie war schwerer geworden und konnte nur durch eine gründliche Umstellung und durch Buße, erfolgen. Die Einladung Israels war Aufgabe der Boten Jesu, die nach dem Abgang des Judas, noch vor Pfingsten, durch Zuwahl des Matthias ihre Zahl wieder auf 12 ergänzten.

Schon die Zwölfzahl war ein Zeichen, dass das gesamte Israel berufen war, und zwar nicht nur das im heiligen Land ansässige, sondern auch das Israel in der Zerstreuung. Auf dieses Großisrael, dessen Mittelpunkt der in Judäa ansässige Teil war, ist Apg 2:9-11 hingewiesen: es erstreckte sich vom fernen Osten - Persien, Mesopotamien, Arabien - über Kleinasien in den Westen - Rom - und in den Süden - Ägypten und Lybien. Auf diese jüdische Diaspora hat Petrus ausdrücklich in seiner Pfingstpredigt die Berufung ausgedehnt (Apg 2:39). Denn unter denen, die ferne sind, können in diesem Zusammenhang nicht die Heiden verstanden werden; möglich ist aber, dass Petrus auch an die verschollenen Stämme dachte, die Gott auf irgendeine Weise herbeirufen werde, wenn Israel den Ruf zu seinem König Folge leiste. In welchem Maße die Gemeinde in Jerusalem jüdische Glieder aus dem griechischen Sprachgebiet in ihrer Mitte hatte, geht aus Apg 6:1-6 hervor, sofern die dort berichtete Einrichtung des Armenpflegeramtes seinen Ursprung in der Zweisprachigkeit der ersten Gemeinde hatte, wie auch die zu diesem Amt gewählten Männer griechische Namen trugen.

Ablehnung durch das Judentum

Mit dem Sterben Jesu war der alte Bund Gottes mit Israel, der auf dem Gesetz beruhte, abgeschlossen. Aber Israel hielt starr am alten Bund fest. Das machte die Stellung, der innerhalb Israels entstehenden Gemeinde Jesu zu Israel, und ihren Gang innerhalb Israels schwer. Aber die Boten Jesu und die neue Gemeinde gaben weder der Volk noch seinen Führer in diesem Stück einen Anstoß, weil sie sich streng an das Gesetz hielten. Erst Stephanus hat den Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Bund ans Licht gestellt. Das geht aus der Anklage hervor, die gegen ihn erhoben wurde, (Apg 6:11-14), wenn auch der Inhalt, und die Zielsetzung der Aussagen des Stephanus von seinen Anklägern entstellt wiedergegeben worden ist. Er sagte ihnen, dass die Zeit des alten Tempels vorbei, und dass an die Stelle des Gesetzesbundes der neue Bund getreten sei. Die Apostel hatten nur zu Jesus gerufen, aber die bisherige Ordnung nicht angegriffen. Trotzdem waren sie vom Hohen Rat verwarnt worden, und ein zweites mal der Verurteilung zum Tod nur durch die Bedächtigkeit Gamalies entgangen. Aber der Freimut des Stephanus brachte den Widerwillen der Führer Israels gegen die Bezeugung des Königsamts des Gekreuzigten über Israel auf die Spitze, und führte die Hinrichtung des Stephanus herbei ohne Einhaltung des ordnungsgemäßen Rechtsweges. Eine Christusgemeinde aus Israel war zwar gegründet, aber sie verfiel der Ächtung. Israel als Ganzes in seinen Führern hat die Berufung zum Gekreuzigten abgelehnt. Das 70. Wochenjahr des Daniels (Dan 9:27) war zu Ende gegangen, ohne das Israels Freisein zum Dienst zustande gekommen wäre. Israels Fall war abgeschlossen, obwohl Jerusalem und der Tempel noch standen, die Gemeinde noch in Israels Mitte weilte, und das Angebot der Gnade noch nicht abgeschlossen war.

Mancherlei Erwägungen drängen sich an einem solchen Wendepunkt auf, Erwägungen, die weit über Israel hinausschauen, und zu einer Schicksalsfrage werden auch für die Christenheit, zumal für das eigene Volk. Dann die göttliche Voraussicht des Falles, und die Schuldzumessung für den Fall nebeneinander stehen. Nicht erst Jesus, schon die Propheten haben ja den zweiten Fall Israels, der in der Ablehnung der Vergebungsgnade für die Ausstoßung des Christus, und in der Zurückweisung des Rufes zum Gekreuzigten und Auferstandenen bestand, vorausgesagt. Trotzdem hat Gott Israel, als der Fall feststand und zum Abschluss gekommen war, als schuldig behandelt. Ohne den Widerstreit lösen zu wollen, mit dem Paulus in Röm 9 und Röm 10 gerungen hat, sei das gleichzeitige Bestehen beider Tatsachen nebeneinander festgestellt, dass nämlich die Erfüllung einer Weissagung mit schlimmem Inhalt menschliche Schuld nicht ausschließt, sondern tiefe Schuld begründen kann. -

Eine andere Frage ist die, wenn Gott die Verwerfung der Heilsbotschaft voraussah, war dann die letztere ernst gemeint? Gewiss! Tatsächlich war das Angebot der Gnade auch nicht vergebens: ein Rest Israels hat zugegriffen (Röm 11:1-6). Die größte Errungenschaft des Evangeliums war Paulus. Der, der sterbend, ohne den Erfolg zu sehen, den Stachel gegen Paulus ansetzen musste, war Stephanus. Damals wurde Paulus wund. Stephanus starb nicht umsonst. Er entwand dem Pharisäismus denjenigen seiner Vertreter, der die ganze Bewegung bis zur letzten Folgerichtigkeit durchlaufen, und in sich ausgebildet hat, und der dann den Mut hatte, den Zusammenbruch des ganzen stolzen Lebensgebäudes einzugestehen. Aber das Angebot des Evangeliums an Israel geschah nicht bloß um der Auswahl willen, sondern war ernst gemeint für das ganze Volk. Nicht leichten Herzens ließ Gott sein Volk in die lange Nacht hineingehen. - Eine andere Beobachtung von tiefem Ernst ist die, dass eines Volkes Zeit abgeschlossen sein kann, ehe der Abschluss mit einem äußerlich wahrnehmbaren Schlusspunkt in die Erscheinung tritt. Nach dem Tod des Stephanus währte es noch geraume Zeit bis Jerusalem fiel. Auch das Evangelium wurde noch nicht völlig weggenommen. Aber im Grunde war Israels Uhr auf lange Zeit abgelaufen. Nicht für immer, denn Gott wird die stehen gebliebene Uhr wieder in Gang bringen.

Und die Christenheit?

Blicken wir von diesen Gedanken hinüber zur Christenheit, zumal zur deutschen, so tauchen bewegende Fragen auf: steht über der Christenheit, die aus der Völkerwelt gesammelt ist, nicht auch die Weissagung, dass sie untüchtig werde, und als Ganzes genommen, der antichristlichen Entwicklung nicht standhalten werden? Liegt hier nicht auch Schuld vor? Ist ihr das Evangelium nicht auch ganz ernsthaft nahegebracht worden? Ist vielleicht die Zeit der Christenheit im Grunde bereits abgelaufen, obwohl die Betriebsamkeit groß ist, z.B. in den Versuchen, die christlichen Kirchen zu einer Einheit zusammenzubringen? Ist der viele Betrieb vielleicht bereits ein Zeichen des inneren Todes? Wie steht es insbesondere mit unserm deutschen Volk, das ja überwiegend noch zur Kirche gehört? Die Fragen sollen nur gestellt, nicht beantwortet werden. Aber dass solche Fragen überhaupt das Gemüt bewegen können, ist auch ein Zeichen der Zeit.

Stephanus' Ende als Wende

Kann der Steinigung des Stephanus solche Bedeutung zugemessen werden, dass damit Israels alte Geschichte nach öffentlichem Recht als abgeschlossen betrachtet werden kann? Um die Berechtigung dieser Auffassung darzulegen, sind einige Erörterungen erforderlich. Jene Tat war ein geschichtlicher Knotenpunkt: d. h. auf diesen Punkt läuft Israels frühere Geschichte zu, und von ihm geht der weitere Weg seiner Geschichte aus. Die Hinrichtung des Stephanus brachte die Stellung der Führer Israels zur Reife. Sie war den Aposteln, und noch mehr der neuen Gemeinde gegenüber, bisher noch schwankend geblieben. Außer dem Glauben an den Geächteten konnte niemand der Gemeinde Jesu etwas vorwerfen. Sie war gesetzestreu und blieb mit großer Treue innerhalb der alten Gemeinde. Sogar innerhalb des Hohen Rates wagte sich ein Schwanken hervor: steht hinter der Willensfestigkeit der Apostel, mit der sie bei der Verkündigung des Christus verharrten, und hinter ihrem ganzen Werk vielleicht doch Gott? Dann wäre ein Vorgehen gegen die Boten Jesu ein Kampf gegen Gott! So sprach der Lehrer des Paulus, Gamaliel; und sein Wort rettete seinerzeit die Apostel (Apg 5:34-40). Was mag in der Seele dieses Mannes vorgegangen sein! Wenn ihn die Furcht vor Gott zu solchen Gedanken veranlasste und ihn ermutigte, sie in einem entscheidenden Augenblick in die Waagschale zu legen, dann war es der Erwägung nicht ganz unzugänglich, ob nicht der Gekreuzigte doch Israels König sei.

Vielleicht erleichterte diese nachdenkliche Stimmung auch der großen Priesterzahl, von der Apg 6:7 die Rede ist, den Zugang zur Gemeinde. Dieser kleine Zug der Erzählung zeigt übrigens, wie treu die erste Gemeinde dem alten Gottesdienst ergeben war; denn die genannten Priester gaben den Tempeldienst nicht auf, sondern übten ihn als Jünger Jesu weiter. Die schwankende Stellung des Hohen Rats gegenüber der neuen Gemeinde hörte aber auf, als Stephanus vor ihm stand, und vollends nachdem seine Hinrichtung vollzogen war. Zum zweiten Mal hatte der Hohe Rat Jesum verurteilt, das erste Mal in seiner eigenen Person, das andere Mal in seinem Jünger. Nun war seine Stellung festgeworden gegen Jesus, und sie blieb fest. Wenn es später, als Paulus vor dem Hohen Rat stand, zu einer Spaltung desselben kam, so entstand dieselbe nicht deshalb, weil ein Teil auf Jesu Seite getreten wäre, sondern nur um eines Lehrsatzes willen (Apg 23:1-9). Stephanus hat in seiner Verteidigungsrede, die zur Anklage wurde, ein klares Bewusstsein davon gehabt, dass Jesu Hinrichtung nur das Ergebnis der Geschichte Israels sei, und dass die Haltung des Hohen Rats nur die geradlinige Fortsetzung der alten Halsstarrigkeit sei (Apg 7:1-53). Stephanus sprach diese bittre Wahrheit aus, und unmittelbar darauf bestätigten sie seine Aussage durch seine Steinigung. Als Stephanus im Dienste Gottes redete, musste er als Gotteslästerer sterben - denn die Steinigung war der Tod der Lästerer.

Dahin haben Israels Führer das Volk geführt, und das Volk ließ sich führen. Seine anfängliche Freude an der Gemeinde und die Ehrfurcht vor ihr schwand, und damit auch die Ernsthaftigkeit. Als Petrus enthauptet werden sollte, war es für das jüdische Volk ein erwünschtes Schauspiel, auf das es begierig wartete. "Der Herr hat mich gerettet vor der ganzen Gier (Übersetzung: Menge) des jüdischen Volkes" (Apg 12:11). Welche Veränderung war in der Seele des Volkes vor sich gegangen! Der Ursprung lag tiefer. Änderungen in der Seelenverfassung haben oft einen sehr ernsten Hintergrund sowohl bei einzelnen, als auch bei der Menge. Denn der Untergrund der Seele (als Unterbewusstsein) ist eine von der Unterwelt (der höllischen Geisterwelt) gerne benutzte Eingangspforte in den menschlichen Geist. Und menschliche Untreue ist vielfach der Grund, dass die Pforte sich öffnet.

Der Übergang zur Völkerwelt

Die Bedeutung der Hinrichtung des Stephanus wird übrigens nicht nur an ihrer verheerenden Wirkung auf Israel klar, sondern auch daran, dass sie den Übergang des Evangeliums zur Völkerwelt einleitete. Ihre nächste Folge war die Verfolgung der Gemeinde, unter Führung des Paulus, der damals noch Saulus hieß. Die Verfolgung wiederum trieb die Gemeinde aus Jerusalem hinaus, und brachte auf diese Weise die Weitergabe des Evangeliums an einen weiteren Kreis zustande. Es fiel die Schranke zwischen Israel und Halbisrael, nämlich den Samaritern, die Jesus in seinen irdischen Tagen noch geachtet hatte. Und der Armenpfleger Philippus musste seine Arbeit in Samaria abbrechen, um dem heidnischen Fremdling, der Gott im Tempel zu Jerusalem gesucht hatte, den Weg zu Jesus zu zeigen. Noch war es kein Ganzheide; aber das Evangelium rückte der Völkerwelt näher. Da holte der Erhöhte selber, nicht im Gesicht, sondern in tatsächlicher Erscheinung, deren Glanz die Augen zum Erblinden brachte, seinen Verfolger, und Saul ließ sich holen und wurde zum Paulus. Er war von Anfang an zum Boten Jesu an der Völkerwelt bestimmt. Aber gleichzeitig musste er für sein eigenes Volk zum Zeichen werden, an dem dessen Abneigung gegen Jesus zur Verstockung ihm gegenüber ausarten sollte. Welch starkes Band von Stephanus zu Paulus hinüberging, wurde bereits gezeigt. Ananias, der Christ von Damaskus, durfte Helferdienste leisten, dass Paulus den Weg zum Glauben, und zur Gemeinde Jesu fand. Aber sein geistlicher Vater ist nicht Ananias, sondern Stephanus (Apg 7:57 bis Apg 9:20).

Israel und die Völkerwelt

Dieser Gegenstand der Weltgeschichte ging nun auf seine Spitze zu. Israel war als heiliges Volk von der Völkerwelt abgesondert, aber nur, um zum Dienst Gottes an derselben zubereitet zu werden. Nun war die Zeit gekommen, da Israel als Volk Christi, der Völkerwelt hätte behilflich sein sollen zum Eingang in das Reich Gottes. Das letzte Wochenjahr vor dem Antritt seines Berufs war zu Ende. Aber Israel war nicht bereit. Es hatte seinen König nicht erkannt, ihn zweimal verworfen und gleichzeitig sich in sattem Stolz, und eigener Gerechtigkeit vor den Völkern innerlich verschlossen. Und das wahre Israel, d. h. die für Jesus gewonnene, in der Gemeinde zusammengeschlossene Auswahl aus Israel? Auch diesem rechten Israel fiel der Weg zu den Völkern schwer. Wie schwer wäre dem Petrus der Weg zu dem heidnischen Hauptmann nach Cäsarea gefallen, wenn er nicht vorher den dreimaligen Unterricht bekommen hätte, der ihm zeigte, dass er Heiden um ihrer Zugehörigkeit zur Völkerwelt willen, nicht als unreine Leute ansehen und behandeln dürfe! Und dieser Gang erweckte in der Gemeinde zu Jerusalem keinen kleinen Anstoß, der erst schwand als Petrus nachwies, dass ihm der Gang befohlen, und dass die Verkündigung des Evangeliums im heidnischen Haus von der Wirkung des Heiligen Geistes begleitet war, und mit dem Empfang des heiligen Gottes endete (Apg 10; Apg 11:1-18).

Einige Glieder der Gemeinde Jesu aus Israel brachten bald darauf den Heiden das Evangelium aus freiem Herzen. So entstand in Antiochien, in Syrien die ersten heidenchristliche Gemeinde, mit der ihre judenchristlichen Begründer in herzlicher Liebe und Gemeinschaft verbunden waren, in der auch Paulus seinen ersten Wirkungskreis von längerer Dauer fand (Apg 11:19-30). Diese Männer verstanden den Beruf Israels, das Licht für die Heiden, der Segensträger für die Völkerwelt zu werden. Aber für die judenchristliche Gesamtgemeinde waren damit nicht alle Schwierigkeiten behoben. Sie musste sich vor zwei in sich zusammenhängenden Abwegen hüten, und hat den richtigen Weg nicht in all ihren Gliedern eingehalten. Sie musste lernen, die heidenchristliche Gemeinde, wenn sie nur dem Geiste Gottes und Christi sich willig unterstellte, von der Bindung an die alte Lebensordnung Israels freizulassen, und ihr trotzdem die Bruderhand zu reichen. Sie musste weiter lernen, sich selber von der Gesetzesgerechtigkeit zu lösen, als ob ihr Anteil an Gott und Christus auf der Beobachtung des Gesetzes beruhte, und sich ganz auf die Glaubensgerechtigkeit stellen, d. h. die Gerechtigkeit erkennen und suchen aus dem Anschluss an Jesum, den Gekreuzigten und Auferstandenen. War ihr Friede und ihr Gewissen an Jesum gebunden und nicht mehr an das Gesetz, dann konnten sie ohne Schaden für ihr inneres Leben die Anordnungen des Gesetzes als heilig ehren und beibehalten.

Sie konnten ihre heidenchristlichen Mitbrüder als vollberechtigte Glieder Christi ehren, auch wenn diese dem Gesetz Israels nicht untergeben waren, wenn sie nur in der Lebensordnung Christi standen (1Kor 9:21), im Gehorsam gegen den in und unter ihnen wirkenden Heiligen Geist. Sie konnten dann auch in brüderlichen Verkehr mit den Heidenchristen treten, unter Hintansetzung der den Verkehr erschwerenden äußerlichen Reinigkeitsordnungen, ohne deshalb ihr Gewissen zu beschweren. Sie hätten, nach Vollendung ihrer Aufgabe am fleischlichen Israel, in der Bindung des Glaubensgehorsams an Christus hineinwachsen können in die Freiheit vom Gesetz, dessen Ende Christus ist für alle, die ihm gehorsam geworden sind. Diese Stellung hat Stephanus eingenommen. Aber selbst Petrus fiel lange Zeit eine solche Stellung schwer, aus äußerer Ängstlichkeit (s. Gal 2:11-21), vielleicht auch aus innerer, weil sein Gewissen trotz der Bindung an Jesum, noch nicht ganz gelöst war von der inneren Bindung an das Gesetz.

Unterschiede: Juden- und Heidenchristen

Die judenchristliche Gemeinde ist nicht in allen ihren Gliedern zu der durch Christum für seine Gemeinde erworbenen Freiheit durchgedrungen. Angehörige der Judenchristenheit haben der Heidenchristenheit schwere Gewissensnot bereitet durch die Forderung, der Anschluss an Jesus müsse ergänzt werden, durch Eingliederung in das jüdische Volk, durch die Beschneidung, weil sie sonst trotz des Glaubens an Christum verloren gehe (s. Apg 15:1-35). Paulus geriet auf diese Weise in tiefernste Kämpfe mit solchen Gliedern der judenchristlichen Gemeinde, die vom Heiligen Land ausgehend, seine Gemeinden verwirrten und ihren Glaubensgrund verrückten. S. den Galaterbrief und Ausführungen wie Phil 3:1-11 und sonstige. Auch in ihrem eigenen inneren Stand war Gefahr, dass die Treue zu Israels gesetzlicher Lebensordnung nicht nur zu Spannungen führte, mit der durch Christus erworbenen und im Besitz des Geistes betätigten Freiheit vom Gesetz, sondern auch zu einer Gefährdung des Glaubensverhältnisses zu Jesus. Zeuge davon ist die schon erwähnte brüderlich-ernste Auseinandersetzung zwischen Paulus und Petrus in Antiochien (Gal 2:11-21). Es wird gut sein, in diesem Zusammenhang auf den Unterschied zwischen der Gemeinde Jesu aus Israel, und der aus der Völkerwelt einzugehen. Denn zwischen diesen beiden Teilen der Gemeinde Jesu besteht tatsächlich ein Unterschied, der auch in der Endzeit wieder an den Tag treten wird.

Zwar ist die Gemeinde Jesu nur eine. Und doch ist kein kleiner Unterschied zwischen dem Teil der Gemeinde, der aus Israel gesammelt wurde und wird, und zwischen dem aus der Völkerwelt herausgenommenen. Den ersten nennen wir den judenchristlichen Teil, den anderen den heidenchristlichen. Die einen waren frühere Juden, die andern frühere "Griechen" - so nannte Paulus den Hauptteil der im römischen Reich zusammengefassten Völkerwelt, wegen der Vorherrschaft des griechischen Geistes - oder "Barbaren", womit nach griechischem Vorgang, aber ohne die griechische Geringschätzung, die dem griechischen Wesen nicht aufgeschlossenen Völker benannt wurden (Luther: "Ungriechen"). Siehe die Unterscheidungen in Rom 1:14-16. Die Unterscheidung zwischen Judenchristen und Heidenchristen war nicht bloß zur Zeit der Apostel brennend, sondern wird wieder brennend werden. Die Unterscheidung zwischen "Griechen" und "Barbaren" hat ihre Fortsetzung gefunden in der Kirchengeschichte, als zur alten Reichskirche die neuen Volkskirchen traten, und in der neueren Missionsgeschichte, wo zu den Kirchen der längst christianisierten Völker, die werdenden Kirchen auf das Missionsfeld treten, und um ihre Gleichberechtigung mit der alten Christenheit besorgt sind, auch wenn ihre Selbstständigkeitsdrang manchmal noch unreif und ungestüm ist.

Es sind starke Verbindungen, die nicht nur die einzelnen Glieder der Gemeinde zusammenhalten, sondern auch die genannten beiden großen aus der Menschheitsgeschichte herausgewachsenen Teile: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater - s. Eph 4:4-6. Aber die Einheit hebt den Unterschied nicht auf. Die beiden Teile sind Brüder. Aber die Christenheit aus Israel ist der erstgeborene Bruder: der Zeit, der Arbeit, und in gewissem Sinne auch dem Vorrang nach. Seit langem gibt es nur eine Christenheit aus der Völkerwelt. Es sind bis jetzt nur vereinzelte Israeliten, die seit dem heidenchristlichen Kirchen an, obwohl es ihnen schwer wird, darin heimisch zu werden, weil dieselben wenig Verständnis für das alte Gottesvolk haben. Aber niemals darf die Heidenchristenheit vergessen, dass ihre eigentliche Heimat Jerusalem ist; nicht bloß in dem Sinn, dass Jerusalem die Stadt des Kreuzes und des leeren Grabes ist - um dieses Grundes willen zog und zieht es die Christenheit immer wieder nach Jerusalem, leider oft in recht äußerlicher Weise - sondern namentlich auch deshalb, weil dort die Gemeinde Jesu an jenem Pfingsten in die Erscheinung trat - unter Juden!

Gesetzestreue in der Gemeinde

Judenchristen, hauptsächlich derjenige, der Israels ganze Geschichte in seiner Person durchlebt und darum so gut verstanden habt, Paulus, haben der Völkerwelt das Evangelium gebraucht, die heidenchristliche Gemeinde begründet und darüber von ihrem Volk gelitten. Die letztere ist der judenchristlichen Gemeinde für immer zum Dank verpflichtet, nicht nur wegen des Grundes, auf dem sie steht, sondern auch wegen des Neuen und Alten Testaments, das sie der ersten verdankt. Die neue judenchristliche Gemeinde, die sich aus dem gegenwärtigen Judentum unter großen Wehen noch herausbilden muss, hat ebenfalls, wie die alte, eine Arbeit an der Völkerwelt vor sich im 1000-jährigen Reich zusammen mit der verklärten Gemeinde. Die Arbeit wird vor sich gehen mit den Trümmern der einstigen Volkskirchen und im Kampf mit der antichristlich ausgearteten Völkerwelt, und mit dem gleichgearteten Judentum; allerdings nicht mit der Schwere, wie sie christliche Arbeit im gegenwärtigen Zeitlauf an sich hat, sondern erleichtert durch die göttliche Zuchtübung. Aber Mühe wird es doch sein. Denn das Fleisch ist wider den Geist, und gibt sich auch im Reich Gottes auf Erden nicht gerne unter den Gehorsam Christi gefangen.

Zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde besteht auch ein Unterschied dieser Art: der erstere hatte eine lange Vorgeschichte. Er war kein neues Reis aus dem Stamm Israels, sondern die geradlinige Fortsetzung Israels, während das Judentum eine Entartung Israels bedeutet. Darum konnten die Judenchristen unmittelbar an die Väter anknüpfen, namentlich an Abraham. Die Reihe der Väter stand vor ihnen als Vorgänger im Glauben und Warten; wie jene einst warteten auf den kommenden König, so warteten sie auf den wiederkommenden, s. Hebr 11:1-12.

Überhaupt in welchem Maße wurde der judenchristlichen Gemeinde die Bibel Israels, d. h. das Alte Testament, lebendig! Jesus war ja die Erfüllung, und Fortsetzung der Geschichte Israels im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums, oder dem Aufbau der Heilsverkündigung des Paulus in der jüdischen Gemeinde im kleinasiatischen Antiochien auf die Geschichte Israels (Apg 13), sowie die Verwendung dieser Geschichte durch Stephanus bei seiner Verteidigung (Apg 7), oder die fortwährende Beziehung des Hebräerbriefs auf das Alte Testament, und zwar gerade in dessen gesetzlichen Teilen. Wie mag es sein, wenn der Teil des Volkes, der gegen das Ende dieses Zeitlaufs den Rückweg zu Christus findet, über die lange Zeit des Unglaubens wieder anknüpft an die reiche Gottesgeschichte seiner Vorfahren! Es ist richtig: auch die Christenheit aus den Heiden hat Väter, die auf ihrem eigenen Boden gewachsen sind, und die über das Grab hinüber den kommenden Geschlechtern Wegweiser sind, durch die Jahrhunderte hindurch, und sie soll diese Väter nützen und ehren. Aber ihre Väter im eigentlichen Sinne, d.h. die, welche die heidenchristliche Gemeinde ins Leben riefen, gehörten nicht zu ihr selber, sondern zur Judenchristenheit; und was die erstgenannten Väter wirklich zu Vätern macht, das ist ihr Feststehen auf dem dort gelegten Grund. Sie verdienen diesen Ehrennamen nur, sofern sie weiterbauten auf dem von den Aposteln und Propheten gelegten Grund.

Eine letzte Besonderheit der judenchristlichen Gemeinde ist ihre Stellung zu ihrem Volk und zum Gesetz. Wohl können auch heidenchristliche Kirchen eine heiße Liebe haben zu ihrem Volk und Volkstum, und dürfen beide ja nicht gering achten; und doch ist die Stellung der judenchristlichen Gemeinde zu ihrem Volk eine andere; das Verhältnis geht noch mehr in die Tiefe. Das hängt mit der Geschichte Israels zusammen. Israel ist tief gefallen durch die Verstoßung und Ablehnung Jesu. Aber trotz seiner Sünde ist es Gottes Volk geblieben, und die ihm gegebenen Verheißungen sind nicht aufgehoben. Die Beziehungen der heidenchristlichen Kirchen zum Volkstum sind freilich auch von Gottes Regierung umfasst; aber doch sind es da mehr Bande der Natur, die Volk und Kirche zusammenschließen. Die judenchristliche Gemeinde aber wusste sich um Gottes, und um Christi willen, an ihr Volk gebunden. Auch uns macht es Not und Leiden, wenn trotz der Bande des Blutes und der Geschichte, der dem Evangelium zugewandte Teil des Volkes, in wichtigen Stücken nicht nicht mit dem Volksteil einig gehen kann, der seine eigentliche Bestimmung nicht durch das Evangelium erhält. Aber das Leiden der judenchristlichen Gemeinde, namentlich das inwendige, war größer, als Israel sich gegen Jesus entschied. Dieser Zwiespalt griff an das Herz: sie konnten Jesus nicht aufgeben und konnten ihr Volk nicht lassen; beides war ihnen um Gottes willen nicht möglich. Das schuf den unaufhörlichen Schmerz, von dem Paulus in Röm 9:1-5 redet. Heidenchristen tun sich deshalb schwer, ganz die Treue zu verstehen, mit der die judenchristliche Gemeinde an der jüdischen Gemeinde hing; ihre Treue ist ein Abbild der Treue Jesu zu seinem Volk nach dem Fleisch.

Paulus zwischen Gesetz und Gnade

Diese Treue findet eine besondere Ausprägung in ihrer Stellung zum Gesetz. Zwar war auch die Judenchristenheit vom Gesetz frei geworden, weil das Sterben Jesu das Ziel und Ende des Gesetzes ist (Röm 10:4), der Heilige Geist die Stellung des Gesetzes eingenommen, und das Gesetz mit seiner bindenden Macht abgelöst hat. Dem Evangelium des Matthäus und dem Hebräerbrief, die beide auf judenchristlichem Boden entstanden, und für Judenchristen bestimmt waren, ist diese Freiheit vom Gesetz als einer äußerlich bindenden Macht oder gar als einem Mittler des Heils, deutlich anzumerken. Aber sie blieben trotzdem im Gesetz um ihres Volkes willen, um ihm den Zugang zu Jesus nicht zu erschweren. Die Stellung Israels zum Gesetz war freilich verkehrt. Aber wenn Israel bei der Gemeinde Jesu Geringschätzung des Gesetzes wahrgenommen hätte, dann hätte es sich sofort gegen das Evangelium verhärtet. Die Gemeinde handelte gegen den ungläubigen Volksteil so, wie Paulus die Starken gegen die Schwachen handeln lehrte (Röm 14). Paulus hat unter den Heiden gelebt dem Aussehen nach, als ob ihn Israels Gesetz nicht mehr bestimmte, obwohl er dem Willen Gottes unterstellt blieb, und sich willentlich unter Christus als unter das bestimmende Gesetz stellte; aber unter Juden hat er sich beim Angebot des Evangeliums soviel wie möglich in den Formen des Gesetzes bewegt (1Kor 9:23). Wie brachte er das fertig?

Ist ein solches Wechseln der Haltung nicht ein Charakterfehler? Wer es so nennen will, wird der Seele dieses Mannes nicht gerecht, der von heißer Liebe zu seinem Volk bewegt war, ob er nicht einige oder womöglich viele gewinnen könne, indem er ihnen einen Anstoß ersparte, der ihnen zum Glaubenshindernis werden konnte. Ein Charakterfehler liegt schon deshalb nicht vor, weil er sein Leben, ob er es nun frei vom Gesetz, oder im Rahmen des Gesetzes führte, stärker an Christus gebunden hat, als je ein gesetzestreuer Israelit das Seine an das Gesetz. So ging Paulus, als er am Schluss seiner dritten Missionsreise die Gemeinde in Jerusalem besuchte, auf den Rat und die Bitte des Jakobus und der Ältesten ein, sich innerhalb der judenchristlichen Gemeinde als gesetzestreu zu zeigen (Apg 21:20-26). Der wunde Punkt lag nicht in der Willkür des Paulus, die vielmehr seiner in 1Kor 9 dargelegten Gesinnung entsprach, sondern in dem gesetzlichen Übereifer eines großen Teils der christlichen Gemeinde in Jerusalem, der eine gesetzesfreie Stellung nicht mehr verstand, und dem gegenüber es dem Jakobus für Paulus bange geworden zu sein scheint, ob dieser Teil der Gemeinde bereit sei, dem Heidanapostel die Bruderhand zu reichen.

In diesem Punkt lag für die Gemeinde in Jerusalem in ihrer Gesetzestreue eine Gefahr: um der Liebe willen durften sie sich an das Gesetz binden; eine Gebundenheit an das Gesetz um der Liebe zu den Brüdern willen, widersprach ihrer Glaubensstellung zu Christo nicht. Aber eine ängstliche Bindung an das Gesetz, als ob das Gesetz die Gerechtigkeit schaffe, oder gar ein Stolz auf die gesetzliche Haltung, hätte den Glaubensgrund verrückt. Ob das spätere Verschwinden der judenchristlichen Gemeinde nicht zum Teil daraus erklärt, dass anzunehmen ist, sie sei in gesetzliches Wesen zurückgefallen? Gerade die heiße Liebe zum eigenen Volk konnte blind machen für die von der Gesetzlichkeit drohende Gefahr für das Glaubensleben. Der Hebräerbrief kämpft gegen ein solches jüdisches Christentum, dem die Glaubensstellung, zumal in Leidenstagen schwer fiel, und zum Judentum zurück begehrte. Der Kampf wird in diesem Brief mit viel Liebe geführt, aber zugleich mit großem Ernst, weil jene Christen mit der zuerst inneren und dann äußeren Rückkehr zum Judentum alles verloren hätten.

Volkstum und Christentum

Wir Heidenchristen haben allen Grund zur Verständnis für die schwierige Lage jener alten jüdischen Christengemeinde, umso mehr als unsere Volkskirchen in ähnlicher Lage sind. Es ist in der Volkskirche nicht leicht, nach zwei Seiten hin die Treue zu wahren, gegenüber Jesus und gegenüber Volkstum und Volk. Gegen das Volkstum geht es noch leichter als gegenüber den tatsächlichen Erscheinungen des Volkslebens. Auch hier muss die Gefahr überwunden werden, der ängstlichen oder stolzen Treue zum Volk, zugunsten der Treue zum Herrn der Kirche etwas abzubrechen. Diese Gefahr ist bereits nähergerückt, und sie wird noch ernster werden. Der VOLKSkirche darf und soll eine heiße Liebe gehören um des eigenen Volkes willen, damit der Herr der Kirche zu seinem Recht komme. Rückt der Nachdruck von der Kirche auf das Volk, dann kann auch die Volkskirche dem Volk nicht mehr den höchsten Dienst leisten, nämlich es zur Bindung an Jesus anzuleiten, sondern sie wird in die Entwicklung des Volkslebens hineingezogen, auch wenn diese abwegig ist.

Die schwierige innere Lage, in welche die judenchristliche Gemeinde durch ihre Gesetzestreue kam, und diese zu einer Gefahr wurde für ihr inneres Leben, gibt Veranlassung, den letzten Fragen über das Gesetz nachzugehen. Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf, ob diese Gesetzestreue richtig war, ob sie dem Willen des Herrn entsprach. Hätten die Apostel und nach ihnen die Gemeinde in Jerusalem in der Bindung an den durch Christus, ihnen verliehenen Heiligen Geist, nicht Gebrauch machen dürfen von der ihnen geschenkten Freiheit vom Gesetz, ohne Angst ihrem Volk gegenüber? Wäre dann der Gemeinde nicht manche innere Not erspart geblieben; und dem Paulus bei seinem Werk unter den Heiden nicht so viel Beunruhigendes seiner Gemeinden durch falsche, mit dem Herzen im Judentum befangene Brüder? Wäre dann nicht von Anfang an eine engere Verbindung zwischen dem juden- und heidenchristlichen Teil der Gemeinde erfolgt? -

Die Stellung dieser Fragen ist noch nicht ihre Beantwortung. Auch die Apostel mussten ihre Freiheit vom Gesetz erst erkennen und in sie hineinwachsen. Der Heilige Geist leitet in die Wahrheit hinein, aber er tut es erkenntnismäßig, und dazu braucht es Zeit. Die Gewissen waren zuerst noch an die äußere Befolgung des Gesetzes gebunden, sie waren noch nicht zu der inneren Freiheit vorgedrungen, die Paulus nach schmerzlichem Zusammenbruch gewonnen hatte, als er den Weg des Pharisäertums bis zum bitteren Ende gegangen war. Aber diese Erkenntnis vom stückweisen Reifwerden zur Freiheit vom Gesetz hilft zur Beantwortung der obigen Fragen noch nicht. Denn dann liegt der Gedanke nahe, die Gemeinde in Jerusalem hätte allmählich, entsprechend dem Fortschritt ihrer christlichen Lebenserkenntnis, die Freiheit vom Gesetz praktizieren sollen, statt in ihrem Hauptteil in tiefere Bindung an das Gesetz hineinzugeraten.

Die Antwort muss tiefer graben: weiß die Christenheit aus den Heiden, was Freiheit vom Gesetz bedeutet? In ihrer ganzen Tiefe weiß sie es nicht, weil sie die Bindung an das Gesetz nicht erlebt hat. Wüsste sie es ganz, dann würde sie erschrecken über das Maß der Freiheit vom Gesetz, und über die Stärke der gleichzeitigen Bindung durch den Heiligen Geist. Die Christenheit versucht immer wieder einen Mittelweg zu gehen: halb Freiheit, halb Gesetz - und wird damit keinem von beiden gerecht. Für den an Christus Gebundenen ist die Freiheit vollständig. Aber die Bindung ist auch vollständig. Für die Gemeinde Jesu gilt nicht einmal das 3. Gebot in der bei uns üblichen Fassung, wonach es den Sonntag zum heiligen Tag macht. Paulus hat es als Übergang zur Knechtschaft beurteilt, und hat seine Arbeit als gefährdet angesehen, als die Galater anfingen, gewisse Tage und Feste als besonders heilig auszusondern und als solche auszuzeichnen (Gal 4:9-11). Es mögen jüdische Festtage gewesen sein, aber im Grunde gehört der Sonntag auch dazu. Und kommt die Heraushebung des Sonntags als selbstverständlich, und als unentbehrlich vor für den Bestand und die Erhaltung der Volkskirche, und wir tun recht damit. Aber eine gewisse Aufrichtung des Gesetzes ist es doch. Wir kommen ohne solches Gesetz nicht durch. Warum nicht?

Die Antwort sei gleich hier gegeben: weil wir noch nicht in der neuen Schöpfung leben. Wenn die gekommen ist, dann ist das Gesetz, als eine halb selbständige Mittelstelle zwischen Gott und der Gemeinde der Erlösten, nicht mehr nötig. Aber erst dann. Die volle Freiheit vom Gesetz erträgt nur die Gemeinde, die in vollem Sinn Gottes und Christi eigen geworden ist. Eine solche Gemeinde gibt es bereits in der alten Schöpfung; aber sie ist klein, und ringt selber noch mit dem alten Wesen. Ihr macht die Freiheit vom Sonntagsgesetz keine Not: denn ihre GANZE Zeit ist heilig, gottgeweiht, Tag für Tag, Stunde für Stunde, jeder Augenblick, nicht bloß der Sabbat oder Sonntag. Fällt ein Glaubender auch nur auf ganz kurze Zeit, vielleicht einige Minuten, aus der glaubensmäßigen Bindung an Christus - die aber durchaus nicht immer eine bewusste, gedankenmäßige zu sein braucht - heraus, dann sündigt er, auch wenn's am Werktag geschieht, auch wenn er nach dem gewöhnlichen Gesetzesbegriff gar nichts Unrechtes getan hat. "Alles, was nicht aus der glaubenden Verbindung mit Christus heraus geschieht, ist Sünde" (Röm 14:23).

Es ist ein furchtbarer Betrug des alten Menschen, dass er sich durch den Dienst des Gesetzes die Freiheit von Gott erkaufen will. Der Mensch wird inne, dass Gott auf ihn Anspruch hat, und er kann sich diesem Anspruch nicht entziehen, weil er sich seiner Abhängigkeit von Gott bewusst ist, und sich insgeheim vor Gott fürchtet, und das mit vollem Grund, ob seiner Sünde. Aber sich ganz Gott hingeben mit der ganzen Person, mit Übergabe aller Kraft, Zeit, aller Mittel, mit Auslieferung des ganzen Willens - das mag der Mensch nicht. Denn im Grunde ist er, wenn er es auch sich und andern nicht eingesteht, Gottes Feind, und würde sich ihm sofort entziehen, wenn er es könnte. Nun sucht er Gott abzuspeisen, indem er ihm einen Teil seines Geldes - z. B. den Zehnten, einen Teil seiner Zeit - z. B. Sabbat oder Sonntag, oder wenigstens die Stunde des Gottesdienstes, einen Teil seiner Freude - z. B. Verzicht auf das Essen oder im Fasten an gewissen Tagen, einen Teil seines Interesses und dergleichen opfert. Aber das Innerste der Person, die willentliche Hinwendung, Zuneigung, Liebe, Gehorsam, wird ihm entzogen. Als Mittel der Abfindung wird das Gesetz benutzt.

So hat Gott es nicht gemeint, als er das Gesetz gab. Das Gesetz sollte eine Anleitung sein, sich Gott ganz hinzugeben; und der Mensch benutzt es, um Gott einige Brocken zu geben, aber im übrigen in der Hauptsache sich ihm zu entziehen. So kann das Gesetz, das in Gottes Arme treiben soll, Mittel zur Gottlosigkeit werden. Wenn der Mensch aufrichtig wird, dann beugt ihn das Gesetz bis in den Staub, weil ihm an den Forderungen des Gesetzes sein Widerstreben gegen den heiligen Willen Gottes klar wird; bleibt er unaufrichtig, dann behauptet sich der Mensch gerade mit Hilfe des Gesetzesdienstes, erhebt sich vor Gott und pocht auf seine Leistungen, die einen Anspruch an Gott begründen sollen.

Befreiung vom Gesetz

Von hier aus wird klar, dass das Gesetz nur einen zeitweiligen Dienst in Gottes Haushaltung zu tun hat. Im Gesetz ringt Gott mit uns. Wenn er nicht mehr mit uns ringen muss, weil wir, wenn auch in aller Schwachheit, und mit uns selber noch im Kampf, willentlich sein eigen geworden sind, dann hat das Gesetz seinen Dienst getan und darf abtreten. Dann kann er den Heiligen Geist geben, den er keinem gibt, der ihm sein Innerstes, seinen Willen entzieht. Und der Heilige Geist stellt die unmittelbare Verbindung zwischen unserem Geist und Gott her, die zur dauernden und völligen, alle Lebensbereiche umfassenden Bindung an ihn wird; und er erhält und bewahrt ihn in dieser Bindung und Verbindung. Und den großen Dienst, dass er das Herz des Menschen aus der Feindschaft und dem Widerstreben gegen Gott umwendet zur Hinkehr zu Gott, den tut Jesus.

Wo die Befreiung vom Gesetz in der willentlichen Bindung an Gott im Heiligen Geist durch Jesum Wirklichkeit geworden ist, da hat die Neuschöpfung bereits begonnen. Mit Jesu Sterben und Auferstehen hat das Gesetz dem Grundsatz nach sein Ziel, und damit sein Ende erreicht; tatsächlich ist auch dem Grundsatz nach, am Kreuz der alte Mensch gestorben und hat mit der Auferstehung Jesu die neue Schöpfung begonnen. Aber erst im Keim. Die Gemeinde ist dem Gesetz entwachsen. Ihr inneres Leben gehört bereits der neuen Schöpfung an, der äußere Mensch freilich noch der alten. Innerlich ist die Gemeinde frei vom Gesetz. Aber weil sie in der noch nicht neu gewordenen Welt leben und wirken muss, ist sie äußerlich noch bis zu einem gewissen Grad an das Gesetz gebunden, und bindet sich selbst freiwillig an äußere Ordnungen, weil sie sonst in ihrer Wirkungsmöglichkeit beschränkt ist, und weil sie z. T. selber noch, um ihrer Schwachheit willen solcher Ordnungen bedarf. Diese sind oft wie ein zu eng gewordenes Kleid, wie ein Käfig. Aber der Geist darf über alle Einengungen und Schranken jetzt schon hinaus, und hinauf in freie Himmelshöhen, auch wenn der Leib noch in das Kleid, und der Vogel noch in den Käfig gebannt ist. Die liebende Rücksicht auf die schwachen Brüder, zu denen im Grunde genommen auch die Außenstehenden gehören, darf dabei eine große Rolle spielen, sofern die Rücksicht nur eine Einengung der äußeren Freiheit bedeutet und keine Verleugnung Christi.

So hat die Gemeinde in Jerusalem wohlgetan, dass sie sich gern und willig dem Gesetz Israels fügte, auch als sie sich der Befreiung vom Gesetz im Glauben bewusst wurde. Sie stand ja dem Gesetz ganz anders gegenüber als die Teile des Volks, die dem Gesetz ängstlich oder stolz dienten, und durfte das ruhig aussprechen wie seinerzeit Stephanus. Der ängstliche Dienst, der vom Tun des Gesetzes die Gerechtigkeit und damit das Heil erwartete, und der doch beider nie froh werden konnte, war ja für die Gemeinde Jesu überwunden. Paulus konnte darum bei der großen Auseinandersetzung mit Petrus in Antiochien, von der in Gal 2:11-21 berichtet, feststellen, dass sie in der Überzeugung einig waren, "dass der Mensch die Rechtfertigung nicht aus Gesetzeswerken erlangt, sondern sie nur in der glaubenden Verbindung mit dem Christus Jesu hat, und dass sie eben zu dem Zweck in die Glaubensstellung zu Jesus Christus eingetreten waren, um die Rechtfertigung aus dem Glauben Christi zu erlangen und nicht aus Gesetzeswerken, weil eine Rechtfertigung aus Gesetzeswerken für niemand erreichbar ist, der Fleisch ist". (Gal 2:16).

Auch die stolze Stellung zum Gesetz, die darauf einen Anspruch an Gott gründet, war der Gemeinde in Jerusalem verwehrt, weil sie im Glauben Jesu der Gnade teilhaftig geworden waren. Die Gnade Gottes, die ihnen durch das Sterben des Christus erwiesen war, konnten sie nicht durch Gesetzesstolz außer Kraft setzen oder gering achten (Gal 2:21). Außer diesen beiden verkehrten Haltungen war aber noch eine dritte Haltung möglich, nämlich die Bestimmungen des Gesetzes mit dem fortwährenden Glaubensblick auf Jesus in dem Bewusstsein, dass das ganze Gesetz als Wegweiser zu Christus, als Zuchtmeister, als Erzieher zu ihm hin gegeben war (Gal 3:24). In ihrem gesetzlichen Handeln hatten sie das schattenhafte Vorbild, im Glauben Christi gleichzeitig die wesenhafte Wirklichkeit. So konnte ihnen bei den vielen Opferhandlungen stets neu, mit großem Dank zum Bewusstsein kommen, dass das große, ein für allemal gültige Opfer bereits geschehen sei auf Golgatha; bei der sie sich der bereits erfolgten großen Hauptreinigung freuen, die ihnen durch die Einfügung in die Gemeinde Gottes in der Taufe zuteil geworden war, und der fortwährenden Reinigungskraft des ein für allemal vergossenen Blutes Christi.

Auch wir Heidenchristen können uns in die Empfindungen eines gläubigen Israeliten hinein versetzen, der am väterlichen Gesetz hängt. Denn auch für uns hat die Vertiefung nicht bloß in die 10 Gebote, sondern auch in die vielen Gesetzesvorschriften dauernden Wert, selbst wenn wir im Glauben an die buchstäbliche Erfüllung derselben nicht gebunden sind. Sie können dankbar machen für die Kreuzestat Christi und zugleich das Gewissen schärfen, indem sie auf so viele Dinge aufmerksam machen, die der Zucht des Geistes unterstellt werden müssen, nachdem für den Glaubenden die verpflichtende Macht des Gesetzes aufgehört hat. So kann Israels Gesetz auch für die, diesem dem Gesetz nicht unterworfenen Heidenchristen wichtige Hilfsdienste tun, um den alten Menschen kennenzulernen, wie er ist, und um in der Kraft des Geistes, und im Frieden Gottes sich der fortdauernden Aufgabe zu unterziehen, den alten Menschen auszuziehen.

Freude am Gesetz

Eigentlich kann erst dem Glaubenden das Gesetz lieb werden. Erst wenn das Gewissen frei, und doch wahrhaft gebunden wird, kann die Freude am Gesetz entstehen. Die ängstliche Haltung gegenüber dem Gesetz entsteht aus der Erkenntnis der Heiligkeit Gottes und der Schwierigkeit, diesem heiligen Willen gerecht zu werden. Diese Haltung kann es zur Zustimmung bringen, aber nicht zur Liebe, weil der Mensch in seiner Hilflosigkeit keinen Weg aus der Not heraus sieht. Noch weniger ist der Gesetzesstolz zur Liebe fähig, weil es dem Stolzen letzten Endes nicht um Gott, sondern um sich selbst geht. Hier hatte die aus Israel gesammelte Gemeinde Jesu eine große Aufgabe: das Gesetz Gottes wirklich zu verstehen, und im Gesetz den heiligen Gott zu lieben. Der leichte Sinn dem Gesetz gegenüber, der sich wenig darum kümmert, hatte sich in Israels Geschichte genügend ausgelebt; der ängstliche Sinn, der das Gesetz ehren wollte, aber es als schwere, fast untragbare Last empfand, war auch zur Geltung gekommen; der stolze Sinn hatte das Gesetz missbraucht, und sich auf diese Weise an Gott vergriffen. Nun blieb noch der schlichte, einfältige Sinn dem Gesetz gegenüber übrig, der sich am Gesetz als am Ausdruck des guten Willens Gottes freute und es dankbar benutzte, um daran im Glauben an den Christus, und unter der Leitung des Geistes seine Bindung an Gott festzumachen.

Die Stellung der Gemeinde Jesu aus Israel ist an der Wende der Zeiten, und an der Trennungslinie der Welten. Sie gehört noch zum alten Bund und doch schon zum neuen; sie sieht gleichzeitig rückwärts und vorwärts. Darum ist sie auch in der Endzeit dazu bestimmt, die alte Welt in die neue hinüberzuleiten. Sie kann das, weil sie alt und neu zugleich ist. Die Stellung der heidenchristlichen Gemeinde Jesu ist anders: sie ist ganz nach vorwärts und aufwärts gerichtet, und sowie sie diese Richtung aus dem Auge verliert, kommt sie in Gefahr. Sie ist nicht aus einer göttlichen Geschichte heraus gewachsen, wie die Urgemeinde in Jerusalem. Ihr Hintergrund ist das Heidentum, ob es nun primitiv ist oder gebildet. Sie kann sich auf keine irdischen Stützen stützen, auf keine Organisation, auch nicht auf menschliche Gedanken, nicht einmal auf das Volkstum, so heißt Liebe, ihre Glieder dem Volkstum entgegenbringen dürfen, welchem sie entstammen. Stützt sie sich darauf, so entgleiten ihr die Stützen, und sie verliert sich an die natürlichen Gemeinschaften oder Organisationen, auf welche sie sich stützt. Die heidenchristliche Gemeinde ist in dieser Welt und Zeit heimatloser als die Gemeinde Jesu aus Israel, obwohl die letztere einsamer zu sein schien, und obwohl sie, wenn sie wieder erstehen wird, als die verlassenere erscheinen wird. Darum ist auch der Ausgang nicht verwunderlich, den die erstere am Ende des gegenwärtigen Zeitlaufs in der Welt haben wird: die Offenbarung sagt, dass sie ausgeschieden, geächtet, ausgestoßen werden wird, während die neuerstandene Gemeinde aus Israel hinübergerettet werden soll in das Reich Gottes auf Erden. Aber zum Dienst Gottes sind sie beide im kommenden Zeitlauf berufen, die Gemeinde aus Israel als eine bodenständige, die aus den Heiden als eine aus dem Tor verklärte.

Israel im 1000-jährigen Reich

Die alte Gemeinde aus Israel ist verschwunden. Wenn die neue entsteht, fährt sie auf den Bahnen der alten Gemeinde fort. Sie wird die Liebe zum Gesetz als zur göttlichen Lebensordnung Israels erneuern, zunächst noch ohne klaren Glauben an ihren König, aber sie wächst diesem Glauben entgegen, und wächst unter der antichristlichen Trübsal in ihn hinein. Sie wird auch im Reich Gottes auf Erden ihren Dienst tun ohne Verleugnung israelitischen Wesens, aber als eine glaubende Gemeinde. Die Menschheit zum Beginn des 1000-jährigen Reiches wird zur Freiheit vom Gesetz gar nicht reif sein. Sie bedarf im Gegenteil der Zucht des Gesetzes, um zum Glauben reif zu werden. So wird Israels Tempel und Israels Gesetz noch einmal eine Wiederauferstehung erleben mit einem weiteren Geltungsbereich als zuvor. Nicht um die Welt jüdisch zu machen, sondern um sie aus der furchtbaren Zerrüttung der kommenden antichristlichen Zeit herauszuleiten und den Boden zu bereiten, für den willentlichen Anschluss der Völkerwelt an ihren König und Herrn. Der volle Anschluss wird auch da nicht erreicht, wie Offb 20:7-9 zeigt. Aber die Welt wird reifen für das letzte Gericht, und Gott kann die, mit der Auferweckung Jesu angebahnte Schöpfung in die Wege leiten.

Der Ausgang des apostolischen Zeitalters

Die Gemeinde Jesu aus Israel ist die Mutter der heidenchristlichen Gemeinde. Und als ihr Vater kann Paulus bezeichnet werden. Welch unauslöschbaren Dank die letztere diesem Manne schuldet, davon ist schon mehrmals die Rede gewesen. Ihre Muttergemeinde ist zwar nicht Jerusalem, sondern Antiochien. Aber Antiochien steht auf den Schultern Jerusalems. Dort in Antiochien bildete sich eine Glaubens- und Lebensgemeinschaft von früheren Juden und Heiden von großer Tiefe und Freudigkeit. Dort wuchs Paulus in seine Tätigkeit hinein. Von dort ging er, zuerst unter dem Vorantritt des Barnabas, und später selbstständig, mit der Botschaft des Evangeliums in die griechische Welt jener Zeit hinein, mit dem allmählich reifenden Gedanken, das Evangelium bis an die westliche Grenze des römischen Reichs, nach Spanien zu tragen (Apg 13.ff.). Seine Tätigkeit ist im einzelnen hier nicht zu schildern; es ist nur zu erwähnen, dass die Heidenchristenheit bis auf den heutigen Tag immer wieder ihre Jugendtage durchleben darf, nicht bloß an der treuen Schilderung des Lukas in der Apostelgeschichte, sondern auch an den Briefen des Paulus. Was diese Briefe für den Gang der Christenheit bedeutet haben, ist heute schon offensichtlich, man denke nur an Männer wie Augustin und Luther; und wie vielen sie den Weg zum Glauben gezeigt haben, dass es aus dem Glauben des Paulus in den eigenen Glauben hinüberging, und aus dem Anfängerglauben in tieferen, reiferen Glauben hinein, dass wird die Ewigkeit ausweisen.

Dabei ist Paulus ein treuer Israelit geblieben und Zeuge des Evangeliums seinem eigenen Volk geworden. Am Schluss seiner dritten Missionsreise in Jerusalem, gerade noch den Händen seiner Volksgenossen entrissen, war er nur von dem einen Wunsch beseelt, ihnen in letzter Stunde die Augen zu öffnen (Apg 22:23). Es war das letzte Angebot an sein unglückliches Volk. Gerade an seinem treuesten Sohn hat sich Israel vollends verhärtet. Dass er nicht unter Israels Händen starb, verdankte er den Römern. Als Israel einige Zeit nachher Hand an Jakobus, den Bruder des Herrn legte, der außer der Tatsache, dass er Jünger Jesu, und Führer der Gemeinde in Jerusalem war, gar keinen Grund zum Hass gegeben hatte, wegen seiner vollendeten Gesetzestreue, da war Israels Frist vollends abgelaufen. Und rasch ging es selbst in sein Verderben hinein. Im Jahr 70 fiel Jerusalem durch Rom. Was der Kaiser Titus noch übrig ließ, das vollendete der Kaiser Hadrian etwa 60 Jahre später. Aber maßgebend für den Zusammenbruch Israels ist das Jahr 70 n. Chr. Es ging wörtlich in Erfüllung, was Jesus weinend beim Einzug in Jerusalem, kurz vor seinem Tod vorausgesagt hat (Lk 19:43.44). Jerusalems Fall war Gottes Antwort auf die Ablehnung des Evangeliums durch Israel, die bereits durch die Verstoßung Jesu vorbereitet war.

Jerusalems Fall

Jerusalems Fall hatte Folgen auch für die Gemeinde Jesu. Zwar war die Gemeinde zu Jerusalem nicht in den Jammer der Belagerung und Zerstörung hineingezogen worden. Jesu Wort Mt 24:15-20 hat sie gerettet. Aber sie wurde nach 70 von den jüdischen Führern in Bann getan. Aus spärlichen Nachrichten zu schließen, hat sie unter ihren Volksgenossen viel gelitten. Sie hörte später als selbstständige Kirche auf. Ein Teil ging in der heidenchristlichen Gemeinde auf, ein Teil fiel mehr und mehr in jüdisches Wesen zurück, ein Teil erhielt sich gesondert, aber mit Verzerrung seiner christlichen Art. Es scheint sogar vom verderbten Judentum eine Linie hinüber zu gehen zu Mohammed, so dass der Islam anzusprechen wäre als ein verdorbenes Reis aus christlichem Stamm. Was kann aus dem Heiligsten werden!

Bis zum Fall Jerusalems war auch die heidenchristliche Gemeinde hin und her im römischen Reich begründet, im Anfang mehr angefeindet vom Judentum als vom Reich gefährdet. Aber bereits unter Kaiser Nero ist in Rom Christenblut geflossen. Der Schutz, den Paulus auf seinen Reisen manchmal vom römischen Staat genossen hatte, hörte auf. Paulus und Petrus besiegelten ihre Botschaft durch den Zeugentod. Johannes allein lebte als Augen- und Ohrenzeuge Jesu noch weit über das Jahr 70 hinaus. Die beiden letztgenannten Apostel haben den Schluss ihrer Lebensarbeit gewidmet, der letzte Dienst, den die Gemeinde Jerusalems der Kirche aus der Völkerwelt leistete. Die letzte Gabe dieser Gemeinde aus der Hand des Johannes, zunächst an 7 Gemeinden im vorderen Kleinasien, aber tatsächlich ein Vermächtnis an die ganze Kirche, war die Offenbarung. Wir folgen dabei Nachrichten aus der alten Kirche, die dies letzte Buch der Bibel in die Zeit des Kaisers Domitian datieren, ans Ende des ersten Jahrhunderts. Doch ist die Zeit der Abfassung nicht maßgebend für seinen Inhalt, dass es nämlich das Schlusswort der Schrift ist, das aus der Zeit der alten Christenheit über die Jahrhunderte hinüberweist auf das Ende dieses Zeitlaufs, und auf die Vollendung des Reiches Gottes in Herrlichkeit. Nun musste die Gemeinde aus der Völkerwelt ihren Weg alleine gehen. Die Urgemeinde stand ihr nicht mehr zur Seite. Das Jahr 70 bildete, obwohl es durch kein besonderes Einzelereignis innerhalb der Gemeinde gekennzeichnet ist, auch für sie einen Meilenstein.

Wir blicken zurück. 30 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung trat Rom seine Weltmachtstellung an. 70 Jahre nach Christo trat es Israel zu Boden. Israel hatte sich gegen Rom erhoben, dessen letzte Statthalter sich freilich viel hatten zuschulden kommen lassen. Vier Jahre währte der Kampf. Furchtbar waren die Tage der Einschließung Jerusalems von Ostern bis zum August 70. Jesus hatte recht, als er die Töchter Jerusalems zum Weinen über ihre Kinder aufgefordert hat. Das erste Mal war Jerusalem Babylon unterlegen, nun unterlag es Rom. Beide vollstreckten Gottes Gericht. Trotzdem war es ein Zeichen für das Emporkommen der Weltmacht. Und hinter dem furchtbaren Trauerspiel stand die Macht der Finsternis. Als Rom noch nicht lange seine Herrscherrolle angetreten hatte, war das Gottesreich gekommen. Wäre es nach Gottes heiligem, ursprünglichem Willen gegangen, dann hätte das Gottesreich damals schon das Ende des Weltreichs werden können. Als aber Israel sich an seinem König, und am Evangelium so schwer versündigte, da sank das alte Gottesvolk im die Tiefe, und die Weltmacht kam nach oben. Vom Standpunkt der weltlichen Geschichtsschreibung aus ist Jerusalems Fall trotz der Mühe, die er dem römischen Reich gemacht hat, ein verhältnismäßig unwichtiges Ereignis. Dagegen vom Standpunkt des Reiches Gottes aus gesehen bedeutet das Jahr 70 n. Chr. einen tiefen Einschnitt. Es ist einer der Knotenpunkte der Weltgeschichte.

Ist es bedeutungslos, dass Rom diesen Höhepunkt gerade 100 Jahre nach seinem Eintritt in seine Herrscherstellung erreichte? Nein. Gottes Walten hat seine Zeiten und Stunden. Auch die Zeiten, die der Macht der Finsternis zur Verfügung stehen, sind zugemessen.

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Vom apostolischen Zeitalter bis zur Gegenwart

1. Das weissagende Wort als Wegweiser