Lebensbild von M. Hahn

Aus Bibelwissen
Wechseln zu: Navigation, Suche

Michael Hahn

Einführung in seine Gedankenwelt
mit einer Auswahl aus seinen Werken

Von Gottlob Lang
Quellverlag der Ev. Gesellschaft, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis des Buches

Lebensbild von Michael Hahn

1. Teil

Das Jahr, vor dem Schwaben der Welt einen Schiller schenkte, hat auch einen Großen hervorgebracht, dessen Lebensflamme in ganz anderer Richtung lohte, als die des großen Gedankendichters, und der ihm doch bei erschwerten Bildungsbedingungen an feurigem Geistesflug, wie viele glauben, nicht nachstand. Am 2. Februar 1758 wurde in Altdorf (am Rand des Schönbuchs) bei Böblingen dem Bauern Johann Georg Hahn und Regine, geborene Hahn, ein Knabe geboren, Johann Michael („Michele“). Seine Kindheit war nicht leicht, denn die Mutter, von der er wahrscheinlich das zarte besinnliche Gemüt hatte, starb von dem Vierjährigen weg, und die zweite Gattin des biedern Vaters war ihm, wie die Lebensbeschreibung kurz sagt, in Wahrheit eine Stiefmutter. In einer gesunden, doch engumgrenzten Welt wuchs er auf; manche Stunde, die der Schule gehört hätte, musste er beim Viehhüten zubringen, wo er phantasievoll die biblischen Geschichten in Örtlichkeiten der Umgebung hineinversetzte. Nach den Schuljahren erlernte er auf Befehl des Vaters das Metzgerhandwerk, das ihm innerlich zuwider war; er übte es auch nie aus, sondern arbeitete als Haus-Sohn auf dem Gut seines Vaters. Die Gesellschaft der jungen Leute, in die ihn neben der Sitte auch der Wunsch des Vaters verwies, zog ihn an, und er war beliebt, da er stattlich aussah und schön singen und pfeifen konnte. Und doch, wenn er in ihr aufgehen wollte, hielt ihn etwas zurück, brannte eine innere Unruhe in ihm, in der er später eine bewahrende Macht göttlicher Weisheit erkannte. Und wenn er später in begreiflicher Empfindung der Gegensätzlichkeit der Jugendperiode schwarze Schatten fallen ließ („Menschen, ihr glaubt‘s kaum, es ist wie ein Traum, wie so bös ich war“) – ähnlich wie ein Augustin – so fehlt es nicht an Stellen, wo er dankbar ausspricht, dass er von schweren Sünden bewahrt geblieben ist.

Es scheint, dass in seinem siebzehnten Jahr ein Karfreitagsgottesdienst, wo er mit der Gemeinde das Lied sang: „Der am Kreuz ist meine Liebe“, ihm den überwältigenden Eindruck gab, seine Liebe gehöre Gott und Gott allein. Aber es war keine durchschnittliche Bekehrung, denn jetzt wurde eigentlich erst das Heer religiöser Fragen flüssig, die wohl schon länger in ihm schlummerten. Wer oder was Gott sei – wie er, den er sich nicht anders als menschenartig vorstellen konnte, allgegenwärtig sein könne? – beschäftigte ihn vor allem; alle Regungen, die gegen jene reine Gottesliebe kämpften, bereiteten ihm Schmerz; dahinter standen die sittlichen Probleme der Entwicklungsjahre, die er mit besonderem Ernst durchempfand und durchkämpfte. Er kam bis zum Zweifel an aller Wahrheit und den Gefühl verdammt zu sein; er beneidete den Vogel in der Luft und das Tier im Feld und kam sich wie im Kerker vor. Drei Jahre dauerte das Hangen und Bangen, bis ein Erlebnis von umwälzendem Charakter über ihn kam. Als er eines Tages auf dem Acker allein Gerste häufelte (1778?), überkam ihn ein intensives Zusammenschauen aller Dinge in Gott, eine Offenbarung aus einer höheren Welt „mehr von innen heraus als von außen hinein (System 355), die ihn mit unvergleichlicher Seligkeit durchdrang, „als sei die Welt lauter Paradies und voll Heiligen Geistes“. Noch einmal wiederholte sich das Erlebnis (1780?) und hielt bei sieben Wochen an. Hören wir Hahn selbst, wie er über dies Scheideziel seiner inneren Entwicklung sich ausspricht; so oft er daran rührt, liegt ein besonderer Glanz auf seinen Worten (2 III Kolosser 9 ff):

„Frühzeitig hat Gottes Gnade an mir gearbeitet, früh mich gesucht, gelockt und gezogen. Schon im dreizehnten und vierzehnten Lebensjahr meines Daseins fühlte ich das starke kräftige Gotteswirken, ob ich es schon nicht kannte. Aber auch von dort an waren drei Hauptfeinde auf mich aufmerksam und gaben sich alle ersinnliche Mühe: Augenlust, des Fleisches- und der Sinnen-Lust regten sich und suchten mir in tausenderlei Gestalten reizbar zu werden; allein je mehr sie sich bestrebten, je mehr war mir Keuschheit und Jungfrauschaft, Reinigkeit und ein unbeflecktes Leben vorzüglich wichtig, daher ich früh an meinen Schöpfer gedachte, und obgleich meine wohlgebildete Gestalt und nach morgenländischer Art blühende Natur viele Liebhaben fand, und manchen zur Versuchung worden, gab es doch die göttliche Weisheit nicht zu, dass ich wäre gefesselt und eigentlich verderbt worden, obschon auch das Schöne und Vortreffliche Eindruck auf mich machte. Indessen kam es aber doch erst zu einer gründlichen Erweckung und noch mächtigeren Gnadenarbeit Gottes bei mir im achtzehnten und neunzehnten Jahr. Da wurde es erst ganz entschieden, dass ich Gottes sein und bleiben wollte; nur nahm ich Anstand, ob ich nicht zu lange gewartet hätte, ob mich Gott wohl auch noch würde annehmen, da er mich vorher so oft gewollt, gesucht und gelockt, und ich mich doch eigentlich nie ganz und recht ergeben, sondern oft auch mich in eitlen Dingen ergötzt hatte? Worauf aber die Unruhe im Gewissen immer zulegte, bis ich mich ganz ergab und nun dachte: es ist die Frage: ob Gott dich auch noch will, wenn du nur nicht schon verstockt und verworfen bist? Von da an blieb ich 3 Jahre in der abscheulichsten finstersten Höllenqual, weil ich dachte: von nun an sollte sich gar nichts Ungöttliches mehr regen und bewegen. Da aber das Böse noch heftiger sich regte, geriet ich in die größte Dunkelheit, dass ich dachte, ich sei die unseligste und unglücklichste Kreatur auf Erden. Während dieser Zeit hatte ich bei allem ernsten Gottesgesuch doch hunderttausend Zweifel und war voller Ungewissheit und Unglauben. Von meiner zarten Jugend an konnte ich nichts ohne Bedacht lassen, ein feuriges oft quälendes Gottsuchen war in mir, denn ich wollte wissen: wie Gott, wo Gott, was Gott und wer Gott sei? Ich dachte, ich suchte, ich las die Schrift, ich forschte im Gewissen und im Buche der Natur, konnte aber nicht ins Reine kommen, wie Gott allwissend und allgegenwärtig sein könnte; die Begierde war je länger je stärker Ihn zu kennen und zu finden, und wenn ich immer kein Genüge fand, sank ich in größere Zweifel zurück, und dann durfte sich nur ein Sündengefühl dazugesellen, so war ich fast dem Verzweifeln nahe und dachte oft: ach, dass ich doch ein Dasein haben muss! Wie unglücklich bin ich doch, dass ich bin! Ach warum kann ich doch nicht auch nicht sein! – In diesem Zustand blieb ich noch einige Jahre hindurch (und wenn ich die früheren auch noch dazurechne, da es in etwa schon also war, konnte ich 7 Jahre herausbringen, allein ich will nur 3 bis 4 rechnen), bis endlich meine Seele merklich erleuchtet ward.

Zum ersten Mal hielt die Erleuchtung bei drei Stunden an, und da sie einige Zeit hernach wieder kam, dauerte es bei 7 Wochen fast ununterbrochen, und so kam es hernach oft wider. Hieraus ist nun klar, dass ich Gott gefunden, und dass meine Fragen beantwortet wurden; denn ich sah in die innerste Geburt und allen Dingen ins Herz, und mir war, als wäre auf einmal die Erde zum Himmel geworden, und als ob ich die Allgegenwart Gottes schaute; mein Herz war gleich der ausgedehnten Ewigkeit, darinnen sich Gott offenbart. Und da ich vorher an den wichtigsten Schriftstellen (gemeint sind wahrscheinlich die Visionen in Hes 1 und Offb 4) am meisten Vergnügen fand und die auch am meisten Gedanken und Verlangen nach Gott erweckten, ward ich auch über dieselben am allergründlichsten erleuchtet und belehrt; daher rührt es auch, dass ich euch Freunden so gerne von den tiefsten Gottes-Wahrheiten schreibe, denn meine Seele lebt je länger je mehr darinnen.

Früh habe ich also an meinen Schöpfer gedacht, weil er noch früher an mich dachte und mich zog und lockte, suchte und endlich fand; denn seine vorlaufende Gnade arbeitete so merklich und kräftig an mir, als ob sie nur mit mir allein zu tun hätte; ich wurde überredet und folgte endlich schwach, und o! wie oft hab ich indessen gedacht: ach dass ich früher und auch treulicher gefolgt hätte! Was würde die Gnade zu ihrem Lob aus dir gemacht haben! Ganz ist es ihr mit dir nicht gelungen, obgleich auch nicht ganz missraten. Jetzt würde freilich auch das nicht mehr herauskommen, was doch noch herausgekommen ist.“

Zur näheren Beschreibung und Abgrenzung dessen, was er seine Zentralschau nennt, diene noch folgende Antwort an einen „Gelehrten“ (Bezeichnung für Theologen): „Nie habe ich den Herrn oder einen seiner Gottesgesandten persönlich gesehen oder gesprochen; ich hatte auch nie ein solch Gesicht oder eine Traumvision oder Offenbarung; sondern was ich erkenne und weiß, ist mir mitgeteilt worden, nicht schlafend, sondern wach, nicht entzückt, sondern im Leibe gegenwärtig, wissend, wo ich gewesen, also bloß zentralisch und von innen heraus erleuchtet, dass gleichsam aus der schwarzdicken, mitternächtigen Wolke meiner verdorbenen Menschennatur von innen zuerst ein elektrisches Feuerlicht zu sehen war, und in demselben eine Geburtsquelle, ein vierfaches Rad, wovon das eine nicht anders erschien, als wenn es aus vier Lebewesen bestände (Hes 1). In diesem wunderbaren Rad erblickte ich das Original der Menschheit, und also die Herrlichkeit des Herrn, und noch tiefer die Kräfte der Aktion und Reaktion. Hier erkannte ich also den Ursprung und Anfang aller Kreatur, und aus dem Zentrum, darein mein Geist versetzt war, sah ich die auseinander sich windenden und sich entwickelnden Schöpfungsstufen und Abstufungen aller Welten und Geschöpfs-Gattungen... (XII, 1.Abt., S 578ff)

Was er in jenen sieben Wochen erlebte, schrieb er nieder, nächtelang, bis die Hand starr wurde – und verbrannte das Geschriebene. Warum, ist nicht bekannt; er wird zuerst das Bedürfnis gehabt haben, die Eindrücke loszuwerden, und doch sich gescheut haben, das innerlichst Erlebte der Neugierde oder gar Kritik fremder Augen auszuliefern. – Wir sind freilich dadurch in der Lage, dass alles, was Hahn von seinen Erlebnissen erzählt, sozusagen aus zweiter Hand stammt, und dass wir nicht unterscheiden können, was aus der Zentralschau stammt und was aus fremden Einflüssen geformt wurde. (In Betracht kommt vor allem Jakob Böhme). –

Der Rückblick auf seine ganze Entwicklung (der erst aus dem Jahre 1815 stammt) hat ein zweites Motiv anklingen lassen, das für Hahns innere und äußere Entwicklung bestimmend wurde: den Hang zur Jungfrauschaft, zum reinen, d.h. der Geschlechtsbetätigung sich enthaltenden Leben, der, seltsam genug, auf rein protestantischem Boden, als ursprünglicher religiöser Drang der vollständigen Hingabe an Gott in ihm erwachte. Erst später gelang es ihm, diesen Hang mit einer verständlichen Schätzung der Gabe der Geschlechtsvermehrung auszugleichen; doch hat er nie ein unzartes Wort über die Ehe geschrieben.

Diese inneren Ereignisse wirkten nun sehr stark auf sein äußeres Erleben ein. Hemmungslos gab er sich damals dem Drang von innen hin; wenn es über ihn kam, fiel er auf dem Acker, im Stall zwischen den Pferden auf die Knie. Er lebte sehr zurückgezogen und asketisch, trank z.B., für einen schwäbischen Bauern unerhört, nur Wasser und Milch; es trieb ihn in die Privaterbauungsstunden seines Orts, er begann auch aus innerem Drang von dem zu zeugen, was ihm in der Erleuchtung gezeigt war, und sein rücksichtsloser Ernst zog viele an, so wenig er aus sich machte. Wir dürfen uns ihn übrigens auch in diesen Jahren starker innerer Entwicklungskämpfe in der Berufsarbeit nicht anders als unermüdlich fleißig denken; das Feldgeschäft, zumal beim damaligen Betrieb, gab ja viel Raum zur Pflege des Innenlebens.

Es konnte nicht anders sein, als dass er mit zwei Mächten in Konflikt kam, denen gegenüber er sich bisher passiv verhalten hatte: mit dem Elternhaus und mit der kirchlichen Obrigkeit.

In den Augen seines Vaters hatte der Michele etwas getan, was auf dem Dorf zum Allerschlimmsten gehört: er war als Sonderling aufgefallen und in den Mund der Leute gekommen. Und dass sich des behäbigen Bauern Sohn zu den armen, gedrückten Leuten auf die Stundenbank setzte! Diese Bedürfnisse macht man doch in der Kirche ab. Er drohte ihm zuerst mit dem Soldatenstand. Einmal richtete er es so ein, dass Hahn dem Herzog Karl auf Einsiedel (Jagdschlösschen bei Tübingen) Pferde vorreiten musste; als der Herzog an dem schmucken Jüngling Wohlgefallen zeigte, bekam es der Vater mit der Angst zu tun und schickte ihn heim; denn das konnte unerwünschte Folgen haben. Hahn selbst gesteht – was geht doch in einem jungen Herzen alles durcheinander –, dass die Neigung , ein schöner Husar zu werden, das Letzte war, das ihn am weltlichen Leben noch anzog. – Dann sollte er eine gute Partie machen, das Mädchen bewahrte ihm mehrere Jahre eine stille Neigung – er war nicht zu bewegen. So blieb, als selbst der Pfarrer des Orts sein Wesen als übertrieben erklärte, nur das Mittel der Gewalt. Die kleinen boshaften Nadelstiche der Stiefmutter wurden so wenig gespart wie die Schläge des Vaters. Als der Zwanzigjährige einmal so geschlagen wurde, dass die Nachbarn siebzig Streiche zählten und er den Hals nimmer regen konnte, flüchtete er zu dem Großvater und nahm dann im nahen Döffingen 1778 eine eine Stellung als Knecht an; ein Jahr später sehen wir ihn bei dem frommen, aus der Landeskirche ausgetretenen Herrn von Leiningen auf dem Ihingerhof. Auch dort erzeugte die Strenge seines Wesens in seiner Umgebung einen Gegensatz, der im Verborgenen umso mehr schwelte, je mehr er durch seine Persönlichkeitskraft in seiner Gegenwart niedergehalten wurde. Leiningen wies ihn ins Isenburgische zu Leuten seines Schlags, also Separatisten – wahrscheinlich wäre er als kleines Sektenhaupt untergegangen. Er gab aber, als der junge Mann wenig Lust bezeigte, dem Vater Hahn den Rat, ihm ein Zimmer einzurichten und ihn ungehindert handeln zu lassen. Heimgekehrt trat er an das Sterbebett der Stiefmutter, die nun in der Angst des Todes ihn um Verzeihung bat und den Vater zu Gleichem veranlasste. Bezeichnend ist seine Antwort: „O Vater, es soll euch alles verziehen sein; es hat mir nichts geschadet, sondern mich näher zu Gott getrieben.“ – Die dritte Gattin, Agnes, heiratete den Vater nur unter der Bedingung: wenn er dem Michele die Freiheit lassen wolle, ungehindert nach seiner Überzeugung Gott zu dienen. So hatte er von da an eine Zeit der Ruhe. Über diese Kämpfe in der Familie schweigt sich Hahn in seinen Werken taktvoll aus.

Länger andauernd war die Bedrückung durch die Gelehrten, durch die der staatlichen Machtmittel sich ohne Bedenken gegen die Schwarmgeister bedienende kirchliche Obrigkeit seiner Zeit. Zwar waren die Privatversammlungen der Laien, die sogenannten Stunden, seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts üblich, führten aber meist unter der Leitung des „gottesfürchtigen Schulmeisters“ (Edikt von 1743) ein zurückgezogenes Dasein. Ein Zulauf aber, wie ihn dieser junge Mann hatte, und die eigenartigen Gedanken, die er hegte und aussprach, waren nie erhört, und die bürgerliche und kirchliche Behörde spielten sich in die Hände, ihm das Handwerk zu legen.
Schon Pfarrer Helfferich in Döffingen nahm einen geringfügigen Formverstoß zum Anlass, ihm sein ganzes Christentum als Schwärmerei und Irrtum zu erklären und ihm die Gotteskindschaft zu bestreiten. Darauf beziehen sich die Verse:

Als ich den Bildner von innen ließ machen,
Nahm gute Meinung der Menschen nicht an,
Hörte ich geistliche Wetter bald krachen,
doch haben diese nicht Schaden getan:
Jeder, der meiner sucht werden zu mächtig,
Wurde mir plötzlich von selber verdächtig.
Ähnlichkeit Jesu im Leben und Leiden
War das Verlangen des Geistes in mir
Hatte ich Leiden so hatte ich Freuden,
Ich war im Geiste vereinigt mit dir.
Wollte man mir Gottes Kindschaft bestreiten,
Konnte man nur zur Gewissheit mich leiten.

Ein Pfarrer aus der Nähe seines Heimatorts unterzog ihn einem dreitägigen Verhör und zierte einen der ersten Jahrgänge des Schwäbischen Merkur mit einem Schmähartikel über den Phantasten. Mehrmals wurde er vor das gemeinschaftliche Oberamt in Lustnau zitiert, wo der durch ein Andachtsbuch bekannte Prälat Roos ihn ernstlich verwarnte. Der Dekan in Herrenberg (dorthin kam er öfter zu seiner verheirateten Schwester) forderte seine Pfarrer auf, ihn beim Stundenhalten arretieren und aufs Oberamt führen zu lassen. – Die Oberämter scheinen nicht recht gewusst zu haben, was mit ihm anfangen und manche Verhandlung hatte schwäbisch-patriarchalischen Anstrich. Als er nach einer in Deckenpfronn am Schwarzwaldrand gehaltenen Stunde unter Geleit nach Calw verbracht wurde, fragte ihn der Regierungsrat, was er denn gesagt habe? Er habe das Gleichnis vom Schatz im Acker ausgelegt. Ja das sei doch nichts Besonderes. Darauf Hahn: es werde auch nur darum etwas Besonderes, dass man ihn wie einen apostolischen Märtyrer herumschleppe. – Der Herrenberger Oberamtmann fragte ihn, ob er schon wieder eine Stunde gehalten habe. Er erwiderte raschbeschlagen: wenn er bei seiner Schwester auf Besuch komme, so sei es der Fall, dass man von allerlei rede. Wenn dann auch noch manche andere Personen kommen um ihn zu besuchen, so könne er ihnen doch nicht ausbieten; und wenn das Gespräch sich dann auf etwas Erbauliches leite, so könne man dies keine Stunde nennen, sondern einen halben Tag! Lachend entließ ihn der Oberamtmann.

Auch vor dem Konsistorium hatte er sich zu verantworten, wo seine Sache glücklicherweise nicht einem Bürokraten, sondern einer edel ausgeprägten Erscheinung inniger Frömmigkeit, Karl Heinrich Rieger, anvertraut wurde. Dieser bekam von Hahn den Eindruck, er sei eines von den Originalen, wie sie nur Jahrhunderte hervorzubringen pflegen. Er schlug ihm vor, zu studieren; Hahn antwortete: wenn er studieren würde, so würde er an eine Gemeinde gebunden sein; auf diese Art sei er ungebundener und könne mit seinem von Gott geschenkten Licht allgemeiner leuchten. Wer weiß, ob sein Geist unter der rationalistisch-suprarationalistischen Theologie gebildet oder verbildet worden wäre? Rieger gab ihm den Rat mit, sich mehr im Schriftsinn und mit Schriftworten auszudrücken, was vielleicht eine gewisse Umfärbung seines Stils zur Folge hatte, und scheint ihm noch mehrmals freundlich zügelnd geschrieben zu haben.

Ist Hahn nie ernstlich beeinträchtigt worden, so waren seinem zartfühlenden Gemüt die Plackereien und Verhöre peinlich; die ursprüngliche Freudigkeit zu religiöser Aussprache wich einem Druck der Angst; das Gefühl, dass auch bei Wohlgesinnten ein Verdacht auf ihn laure, lähmte ihn. Mehrmals entzog er sich allem durch Reisen, die ihn nach Nürnberg und sogar zu Lavater und Pfenniger in die Schweiz führten.

Wir lassen einige Dokumente aus der Kampfeszeit folgen. Der sechsundzwanzigjährige Bauer verfasste zwei Briefe zur Verteidigung wegen Misskennung. Richtet sich der erste an einen Gegner (man könnte sogar an den Verfasser des Merkur-Artikels denken), so ist der Adressat des zweiten unverkennbar Pfarrer Helfferich in Döffingen.

Offene Erklärung gegen eine Standesperson

und gründliche Verteidigung wegen Misskennung

Gott gebe uns viele und mancherlei Gnade, mein lieber Herr N.N., derweil wir daran, wie sie wohl selber wohl wissen, reichlich und täglich benötigt sind!

Ich halte es nicht für unnötig, auch einmal an Sie zu schreiben, zumal ich mir dieses vorgenommen habe, da ich bei Ihnen war. Es scheint, es habe sich Ihre Gesinnung gegen mich noch nicht geändert; ich muss aus allen Nachrichten von Ihnen schließen, dass Sie noch nicht anders von mir denken. Mir ist leid, dass ich Ihnen, als einem Kind Gottes, so viel Unannehmlichkeit mache; jedoch denke ich, die Schuld liege mehr auf Ihnen als auf mir. Ich denke, Sie seien nur allzu vorsichtig, und wer weiß die Absichten, als Gott. Ich kann zwar Schlüsse machen; weil ich aber kein Arges wider meinen Nächsten und Bruder denken soll und will, so schreibe ich nur dies: Prüfen Sie sich selbst, ob’s nicht also sei, ob Ihnen der Gedanke noch nie gekommen sei: Es würde dem M. (Michele) nichts schaden, wenn er einen Fall machte und er davon wieder aufstünde, nur dass sein Wirken verhindert und er verdächtigt würde. Prüfen Sie sich, ob nicht Hass und Missgunst zum Grunde liege? Vielleicht missgönnen Sie das, was mir Gott aus Gnaden und auf sehr vieles Bitten gegeben, und auf ernstliches Suchen hat finden lassen. Sogar kann ich dies sicher schließen aus dem, was ich von Ihnen vernehme. Ist’s Ihnen nicht bekannt, dass ich den Geist nicht dämpfen soll? Und hat’s nicht Gott also verordnet, dass ich sein Werk kann treiben? Warum sollen sie es verhindern? Sie sollen auch eines Laien Schrifterklärung nicht verachten und sie ungeprüften nicht anderen verdächtig machen. Ist’s denn nicht immer also gewesen, dass die edelsten Weisheitslehren den gemeinen [gewöhnlichen] Leuten von Gott sind anvertraut worden? Wenn die Zeit kommen wird, dass ich mit meinen Schriften bekannt und offenbar werden soll, so sollen sie nicht verachtet, sondern geprüft werden. Und weil sie nicht ohne allen Fehl, wie andere Schriften auch nicht, sein werden, so soll man nur das Gute behalten und den bösen Schein meiden. Ich sage Ihnen, dass ich großen Schaden habe und große Unruhe fühle, wenn ich nicht bald aufsetze [aufschreibe], was mir gezeigt wird; es ist, als ob es mir genommen wäre; so ich aber folge, wird mir immer mehr gegeben. Ich will mein Pfund nicht vergraben oder im Schweißtuch halten, ich werde mich auch so leicht nicht schrecken lassen; und ob Sie mir stark sein [widersehen] wollen, wird Ihnen der Geist auch stark genug werden. Und warum verbieten sie denn meinem Vater, mir Zeit zu lassen zu schreiben, da mir doch der Herr dieselbe schenkt? Gesetzt [angenommen] es wollte mein Vater das tun, so würde mir der Schlaf nicht lieber sein des Nachts, als das Werk des Herrn zu treiben, wiewohl mein Vater tun wird, was der Herr will, und ich auch. So machten sie es auch billig [zu Recht]. Ich vermute nicht, dass Sie der Geist Gottes mich zu verfolgen antreibe. Ich rate Ihnen, als ein armer Laie: Beten Sie von meinetwegen den Herrn an, fragen Sie ihn, wie sie mich anzusehen und zu behandeln haben; ich glaube, Gott ist für mich; wehe dem, der gegen mich boshafter Weise sein will; der Herr streitet für mich, seinen Israel; die Pforten der Hölle werden mich noch nicht überwältigen, Sie auch nicht. Ich glaube zwar nicht, dass Sie aus Bosheit tun, was Sie tun; ich sage, nur etwas von Neid kann dabei sein. Ich halte sie doch für einen lieben Bruder. Machen [ziehen] sie doch auch Schlüsse von einem auf das andere. Werden sie denn von jemand hören, dass ich nicht in allem als ein Christ wandle? Nicht sage ich dieses mir, sondern dem Herrn, der mich führt und regiert zum Preis. Ich bin sehr schwarz von Immen [aus mir selbst, Hld 1,5; Röm 7,18;]: aber doch halte ich mich dafür, dass ich der Sünde gestorben sei, und dass ich Gott in Christo lebe. Dass ich meine innere Finsternis im Lichte Gottes erkenne, ist mir kein Beweis, dass ich kein Kind des Lichts sei, sondern ein sicheres Kennzeichen, dass ich im Lichte wandle und mit dem Licht in Gemeinschaft stehe. Was mir das Licht zu erkennen gibt, das bekenne ich, das lasse ich zum Kreuz verurteilen, so werde ich gereinigt von der Untugend oder Finsternis.

Möchte aber jemand sagen: das wäre mein Hauptfehler an mir, dass ich nicht arbeite, so sage ich, dass dieses nicht also sei, ich verderbe [vertue] keine Viertelstunde, ich wirke Tag und Nacht; ob nicht immer Leibliches, doch viel Geistliches. Ich schone mein Fleisch nicht, bin nicht weichlich; so [wenn] ich arbeite, geht’s sehr schnell, weil die übrige Zeit mein ist. Ich rede hier die Wahrheit; ich erkenne den Wahrhaftigen und bin in dem Wahrhaftigen, und mithin der Lüge gestorben.

Man wird die Zeugnisse von mir von niemand als mir selber am gewissesten erhalten. Ich flattiere [schmeichle] nicht, es liegt mir auch nicht daran, ob ich wohl oder übel bei jemand dran sei. Glauben Sie mir, dass ich sehr bedenklich meinethalben bin, denn Gott offenbart mir solche Dinge, die ich nicht leicht einem Menschen sagen werde. Ich habe schon oft gegen ihn Einwendens gemacht, sagend: wenn ich nicht wüsste, dass er allwissend wäre, so glaubte ich, er wäre zum Unrechten mit solchen Gaben gekommen. Und weiter, so ich nicht wüsste, dass er für mein Heil wie für seine Ehre sorgte, so glaubte ich, er hätte mir eine Falle hiermit gelegt. Ich sagte oft: O Abba, was bin ich, oder wie kann ich doch dieses tun, was du willst getan haben! Ich bin doch wegen der noch in mir sich findenden Eigenheit [was noch zum alten Menschen gehört] unseliger als jeder Vogel in der Luft, jeder Fisch im Wasser, jeder Wurm im Erdreich; kann ich doch nicht so rein absichtig [ohne Nebenabsichten] wirken, als ich soll. Er sagt: Ich werde dich, gleichwie bisher, zu allem vorbereiten, ich habe dich so verordnet, rede mir nicht drein. Da ruhe ich dann wieder. Es ist mir oft bang, das glauben Sie mir: mein alter Mensch, und zwar die Vernunft, bildet sich nicht viel Gutes ein, Leiden wird mir genug prophezeit von der Vernunft; ich höre [beachte] sie aber nicht, ich denke: du falsche Prophetin bist von der Welt und redest von der Welt wie alle Welt. Wer noch Welt ist, der hört dich; ich aber nicht also, ich will mit Christo eine kleine Zeit leiden, zumal da der Geist der Herrlichkeit über mir ruht. Ich muss leiden, von wem ich wolle, so ist es mir eben gut, und dient zum Besten. (Röm 8:28)

Ich gehe weiter und sage Ihnen, dass ich solche hohe Gaben nicht eigentlich gesucht habe, jedoch wollte ich rechte Erkenntnis Gottes haben, und durchaus nicht im Tode der Unwissenheit liegen bleiben. Ich war mit einer ungetrübten und unverständigen Einfalt nicht zufrieden, ich rang, bis ich zu einer geübten, wohlwissenden, verständigen Einfalt kam in Christo. Da musste ich mich mit aller Vielheit und Mannigfaltigkeit schlagen im Durchpassieren; viele Sünden, ja alle, steckten in mir. Da galt es mir, und noch; je tiefer ich aber fahre mit dem Geist im Geist in die Tiefe, lerne ich doch immer mehr auf den Friedenskompass merken, der ist gerad [zeigt in die richtige Richtung]. Ich darf aber nicht die Gedanken ausschweifen lassen, ich muss subtil fühlen. Ich versichere Sie, das ich anders keine Schrift will von mir gelesen haben, als ich sie von andern lese (nicht als blind hinzunehmende Autorität); ich will gar niemand lehren, ich lerne auch von niemand. So in einer Schrift etwas vorkommt, das ich erfahren habe, so ist’s Amen! wo nicht, so will ich nichts wissen. Was sich mir spiegelhaft zeigt, das suche ich wurzelhaft vom Herrn zu erlangen. In Zeit von sieben Wochen ging alle Tiefe vor einem Jahr in mir auf, sodass nicht leicht etwas Tiefes geschrieben werden kann, das nicht durchgegangen in mir, es wird auch immer heller. Gott bewahre mich nur, dass ich mich nicht schrecken lasse, es verbärge sich mir alles. Glauben Sie nicht, dass ich, was ich Ihnen schreibe, aus Hochmut geschrieben habe; ich muss dies tun, Sie lernen mich sonst nicht kennen und tun vieles unwissend, und da bedaure ich Sie herzlich. Doch noch eines; ich meine, sie sollten auch schließen: wenn das Werk von Gott ist, werde ich es nicht dämpfen, will auch nicht dawider streiten, als wider Gottes Werk; ist’s aber von den Menschen, so wird’s schon bald damit aus sein. Ich kann Sie versichern, dass es mir eben so wohl als Ihnen um die Wahrheit zu tun ist; ich will nicht wider, sondern für den Herrn und sein Reich sein. Sie auch, ich weiß das; aber viele sind in Sachen dafür und in Sachen dawider, da muss man merken. Ich meines Teils grabe tief, und weise auch andere dazu an; ich will nicht allein weit kommen, ich gönne es auch andern. Ich habe noch weit, das weiß ich; doch bin von dem Herrn ergriffen und jage dem Kleinod nach und leugne nicht, dass ich einen reichlichen Eingang ins Reich Christi suche. Ich denke: wer nicht setzt, gewinnt nicht.

Was will ich sagen? so will ich sagen: wer nicht geht aus dem Haus, verirrt [sich] freilich nicht; wer nicht tief geht und mit dem Entlehnten haust [statt selbst zu graben], der kann wohl weniger irren, aber er mag [muss] das Entlehnte heimgeben wenn er dort ist, wird auch dort nicht so viel zu bedeuten haben. So der Tiefgehende redlich ist, so wird’s ihm nicht fehlen, auch dort nichts schaden. Doch kennt der Herr einen jeden und hat nicht alle zu Pfeilern und großen Balken an seinem Hause verordnet. Er bewahre mich nur in der Einfalt und Demut. Ich habe mich genug erklärt für diesmal in meiner Gesinnung; es wird freilich mancher Gedanke nicht gesetzt sein, den ich gesetzt [geschrieben] glaube, weil ich gar schnell schreibe. So ist es in allen meinen Schriften, weshalb ich auch dieselben selber alle nochmal durchgehen und umschreiben muss. Ich begehre nichts mit Denken zu erzwingen, wie es kommt, so schreibe ich, so schnell ich kann, es taugen deshalb meine Schriften jetzt nicht für jedermann. So geht es mir auch in der Versammlung: es ist nicht alles so ausgeschmückt, so ich im Feuer rede. Doch weiß ich wohl, was ich auf das Papier setze und was ich in der Versammlung rede. Sie haben vielleicht bisher von mir geglaubt: ich wisse nicht, was ich sage oder setze. Es sei also, ich will nichts wissen, der Herr rühre mich zu seinem Lobe. So viel können Sie schon schließen, dass etwas in mir vorgehen muss, da ich mich mit gar nichts Irdischem einlasse; ich habe aber sehr zu achten auf den, der sich in einen Engel des Lichts verstellt. Mein Friedenskompass dient mir sehr wohl im Fahren, wie oben gedacht worden. So mein Herz und Sinn in Christo verwahrt ist, geht es gar gut. Ist’s, dass dies nicht ist, so zeigt sich Unfrieden in mir zu aller Zeit, da fahre ich nimmer. Mein lieber H, haben sie Geduld mit mir, ich schreibe mehr, als ich geglaubt habe, da ich anfing. Ich bin letzten Osterfeiertag beim H. Pf. In D. (wohl Döffingen) gewesen; er war auch falsch von mir berichtet [informiert], wurde aber wieder gut und widersprach mir nicht auf ein Wort. So er aber wieder Geschwätz annehmen wird, wird’s nicht lang anhalten. Er sagte unter anderen seiner Reden, die Wahrheit habe Christum an das Kreuz gebracht, so man die Gewalt hätte, würde es mir auch also gehen. Das lässt sich leicht vermuten, mich befremdet es nicht, es ist nichts Seltsames für mich. Ich liebe Sie, mein lieber H, so auch alle Kinder Gottes. Im sanften stillen Geist trage ich alles. Schreiben Sie mir auch wieder ein paar Zeilen zurück. Der sei mit Ihnen, welcher auch bei und mit mir ist. Amen. 1784.

Verteidigung wegen unbegründeter Beschuldigungen

Der, welcher ist, war und kommt, Jehovah, teile sich Ihnen wesentlich mit durch Jesus, in dem Gott und dessen Fülle leibhaftig wohnt, so werden sie mit Gnade und Frieden gegrüßt sein für den Neujahrswunsch und Gruß von mir. Mein lieber Herr Pfarrer, am letzten Christfeiertag war ich nicht ohne Segen und Vergnügen bei Ihnen in Döffingen, doch wurde meine Erwartung nicht erfüllt: Ich erhielt einen Verweis statt einer Ermahnung und Belehrung. Gott wird’s wissen, warum ich von seinen Kindern, welche Standespersonen sind, so behandelt werde. Ich bin verunsichert, man spricht nicht offen mit mir, man nimmt keine Erklärung von mir an; oft verlangt man keine. Ich weiß nicht, wie und auf welche Art man mich kennen lernen will? Anders als durch Aussprache wird’s unmöglich geschehen mögen. Auch muss man die Verschiedenheiten der Gaben Gottes, seine verschiedenen oder mannigfaltigen Weisheitsarten und Geisteskräfte in denselben sowohl aus der Schrift, als aus der Natur erkennen, und nicht einseitig und begrenzt denken, sonst wird’s wieder nicht möglich sein. Ich bliebe verschlossen, wenn ich dies fühlte.

Nun meine ich damit nicht, dass man begehren soll, mich kennen zu lernen; nur das ist der Grund, warum ich so schreibe: man gibt mir die Schuld, ich sei zurückhaltend, wo ich nicht sollte, und behandle die Leute über mir als Narren. Gott bewahre mich vor solchem luziferischen Stolz. Kinder Gottes, sonderlich Standespersonen werden billig von mir geliebt und geehr, denn sie wachen und beten, so viel ich glaube, sehr viel für mich, sie besorgen einen grossen Fall von mir, weil sie Exempel von allerhand tiefgehenden Personen haben, welche ich auch habe. Da ich dann Mensch bin und Sünde habe, so ist das, was besorgt wird, nichts unmögliches, und ich lasse mich dann billig warnen und ermahnen; nur sehe man nicht an, als ob es schon geschehen wäre. Ich schätze mich zwar nicht, doch mit erneuertem Sinnen prüfe ich den vollkommenen Gotteswillen; meines eigenen Geistes Treiben ist alsdann wohl von dem Wirken des Geistes zu unterscheiden. Wenn ich das Eigenleben liebte und mich scheute, das Leben im Tod zu suchen, so würde ich bald darniederliegen. Ich muss mich als einer, der zu viel tun würde, mancher Dinge enthalten im Nachjagen der Heiligung, sonst fehlte ich schon im Ansatz. Auf dies muss ich achten während ich walle [wandle], weil ich sonst falle: Meine Natur ist vor allem böse, und was andere partikulär [anteilmäßig] in sich haben, das habe ich ganz. Gott weiß das, er zeigt es mir; er wird, wenn ich vollendet bin, mit mir als einem Meisterstück prangen können vor den Vollendeten. Ich gehe weiter, mein lieber Herr Pfarrer! Es ist mir gesagt worden, man habe gleich am andern Tag bei Ihnen von mir geredet, indem H. von H. zu ihnen gekommen sei, welcher mir begegnete. Er habe dann gesagt, es sei mein Eigensinn und Trotz, dass ich schon seit Tagen keine Versammlung besuche und keine Stunde halte, da ich doch Gnade dazu habe. Das vermuten und glauben sie nun, ohne meine Gründe zu wissen, von welchen einer auch dieser ist: Da ich das letzte Mal bei H. war, sagte er, es stehe mir, als einem noch sehr jungen Menschen gar nicht zu, in der Versammlung zu reden, sondern zu hören und wohl hintenan zu sitzen; verachtete also meine Jugend, während von andern mein Reden verlangt wird, wenn ich in die Versammlung komme. Auch kann ich mich unmöglich immer enthalten, wenn ich etwas erklären könnte. So muss ich dann wegbleiben und umso mehr im Stillen schreiben, wiewohl dies auch nicht immer mit Ruhe geschieht. Deshalb gehe ich oft auch an andere Orte. Gott segnet sein Wort, das ich aus Ihm, durch Ihn, zu Ihm und von Ihm rede, was auch nicht immer rein genug geschieht, wie es geschehen sollte. Ich mache noch viele Fehler, das ist wahr, und es wäre eine stolze Frechheit, wenn ich mich über sie, als einen alten Christen, hinausgewachsen zu sein glaubte, sind doch meiner Jahre im Christentum vielleicht nicht der 3te oder gar 4te Teil. Der Herr hat die Geisterwaage, das ist seine Sache. So viel ist gewiss; wir müssen eilen und mit der oberen Kirche wachsen, wenn wir mit zur Hochzeit des Lammes kommen wollen. Man kann uns nicht mehr so lange unterrichten, weil es nicht so lange mehr ist [währt]; es muss schnell gehen zu unserer Zeit. So viel glaube ich und eile, aber nicht genug. Gott, der Sie bis ins Alter in den Armen getragen, wird Sie durch Christus in sein Reich hineintragen. Schreiben Sie mir auch wieder ein paar Worte zurück. 1784.

Die Briefe zeigen neben ungeheuchelter Bereitschaft zum Lernen doch vor allem, dass er sich seine innere Linie auch nicht um einen Zoll verrücken ließ und ein starkes Bewusstsein seiner Sendung hatte. Aus manchen Stellen spricht ein Stück schwäbischer Hartnäckigkeit, gemildert durch echte Christendemut.

Mehr in die Tiefe seines persönlichen Ringens lässt uns eine Stelle aus einem Schreiben an den Konsistorialrat Rieger blicken, das aus dem Jahre 1786 stammt:

„Gleich am Anfang glaubte ich Stufen der Seligkeit, die auf verschiedene Treue erfolgen würden. Das bewirkte dann, dass ich nie untreu sein wollte, ob ich schon oft untreu war. Ich wurde scharf drangenommen wegen Untreue, und diese Schärfe lernte ich lieben; diese Rechte des Gerechten lernte ich anbeten, denkend, Gott wolle mich ihm zu einem brauchbaren Sohn machen in seinem großen Hause. Ich dachte: ist der Ernst in Gott so gross, dass du es fühlst, so soll er auch in dir gross sein; ich dachte: sonst wirst du durch Betrug der Sünde verstrickt und nach und nach aus der Lichts-Gemeinschaft mit Gott ausgestoßen. Ich erschrak über das Wort: Verflucht sei, wer des Herrn Werk lässig treibt! [Jes 48,10] Ich wollte keiner von den Verfluchten sein. Mir kam oft das Wort Jesu in den Sinn: Das Himmelreich leidet Gewalt, und die ihm Gewalt antun, die reißen es zu sich [Mt 11,12]; und wieder: Ringet darnach, durch die enge Pforte einzugehen (Lk 13,24); und weiter die Worte der Schrift: Jaget nach der Heiligung [Hebr 12,14]; tut umso mehr Fleiß, eure Berufung und eure Auswahl festzumachen [2Petr1,10]. Darum jage ich nach dem vorgesteckten Ziel, dem Kleinod [Phil 3,14], und doch nicht genug; darum ich auch die Sache meinerseits nie übertrieben habe. So viel ist gewiss, dass ich manches übertrieben Scheinendes getan, Dinge, die andere nicht, oder wenige nur wenig getan haben; darum ich auch gewarnt wurde von vielen. Allein [jedoch] wenn ich folgen wollte, so kam ich in die grausamste Qual und Unruhe und verlor die gegebene Kraft und Willigkeit, und mir fiel ein: wissen denn die Menschen dein Ziel besser, als der, der es gesteckt hat? Kann dieser oder jener es dir am besten zeigen, wie es zu erreichen sei? Darum fing [hinderte] mich niemand, ich dachte: du willst laufen in dem dir verordneten Weg, auf dass du zu deinem Ziel kommst, du willst nicht auf andere sehen, die Salbung wird dich lehren, wie es wahr ist. Da wurde ich mit allen Menschen zufrieden, ob sie auch nicht kämpften und liefen wie ich, ich aber durfte mich nach niemand richten. Die Übertriebenheiten fielen weg mit den übertriebenen Unarten, als Beispiel: Weil ich als ein sehr junger Mensch viel Augenlusttriebe hatte und das was schön ist liebte, griff ich die Augen an, riss sie aus, d.h. wendete sie ab, sah auch das nicht an, was ich hätte ansehen dürfen. Ich sah also bewusst fast gar nichts an, bis ich mit anderen Augen zu sehen imstande war, bis ich in allem Gott fand; dann erst durfte ich die Verhüllung wegtun. – So war’s auch mit den Zungensünden. Scherzen, spotten, leichtsinnige Worte reden, war oft meine Sache; diese zu überwinden erforderte, eine Zeitlang so wenig wie möglich zu reden, dass ich zur Last wurde. Endlich lernte ich mit einer neuen Zunge reden. Und so in allen Stücken.“

2. Teil

Der Zulauf zu den Versammlungen und die Zahl der persönlichen Besuche nahmen einen immer größeren Umfang an, obwohl einige Mal bekanntgegeben wurde, dass jeder auswärtige Besucher arretiert werde. Sein Wirkungskreis dehnte sich auch aus; so hatte er z.B. 1787 in Gültstein, wo eine Erweckungsbewegung eingesetzt hatte, ein Arbeitsfeld. Es war ja schwere Speise, was er bot, nicht treiberisches Wirken auf momentane Bekehrung oder gefühlige Nervenreizung, sondern religiöse Erkenntnis vom Lichts-Grund in theosophischem Gewand. Dabei kam er dem Bedürfnis der Tiefangelegten entgegen, die sonst so oft leer ausgingen. Hahn machte gar keine Propaganda für sich, er ließ sich eher ungern aus dem „eigenen Weinberg“ (der Arbeit an sich selbst) herauslocken, um andere Seelen zu pflegen; und vielleicht zog gerade diese im Anfang herbe Zurückhaltung viele an. Sachte, ganz organisch, bildete sich aus der Versammlung eine Gemeinschaft, ein Kreis solcher, deren innerer Entwicklung sich der gleiche Stempel aufdrückte, und die von gleicher Nahrung lebten, die sich mit vollem Recht Bruder und Schwester nennen konnten.

Aber – es kam auch zu Trübungen. Auch die fromme Welt fand Gelegenheit, Hahn etwas anzuhängen, als er einen Schritt tat, der vielleicht von seiner Weltfremdheit zeugt. Schon länger hatte er gewünscht, die Briefe und Lieder, die er hinausgab, in Abschrift zurückzubehalten, und er nahm für diese Arbeit eine federgewandte kränkliche „Schwester“ zu sich. Solche Geistesfreiheit – des Einunddreißig-jährigen – war man in pietistischen Kreisen nicht gewohnt, und nicht nur das gemeinschaftliche Oberamt mischte sich drein, auch bei den Stundenleuten, bei den eigenen Anhängern, gab es Schwätzerei und Unwillen, der sich in einem schriftlichen Vorhalt angesehener Brüder entlud. Das war für Hahn der Anlass, sich zwei Jahre in die Stille zurückzuziehen, ohne nachzugeben, aber auch ohne Verbitterung. Eng schloss sich in dieser Zeit ein kleiner Zirkel zusammen, vor allem wurde er mit dem Schneider Anton Egeler, dessen Bruder und Mutter, der Kommundienerswitwe in Nebringen, lebenslang verbunden. –

Im März 1794 starb Hahns Vater, und damit begann für ihn eine Periode größerer Freiheit, da ihm nun das väterliche Erbteil ausbezahlt wurde. Er zog nach Sindlingen bei Herrenberg, wo er schon früher freundliche Aufnahme gefunden hatte. Die Besitzerin des dortigen Schlösschens, die verwitwete Herzogin Franziska, wollte ihm wohl; in ihrem Mund denken wir uns das Wort, das von einer Standesperson zitiert wird: es sei so eigen, wenn der Mann den Mund aufmache, werde einem so weit ums Herz. Neben einer Teilpacht an der Schlossdomäne beschäftigte sich Hahn winters mit Uhrmachen, das er schon vor dem Tod des Vaters als stillen Erwerb erlernt hatte. Seit 1803 war er nach allerlei Notbehelfen im Besitz einer eigenen Wohnung, die zuerst Anton Egeler, dann, als es diesem zu unruhig wurde, Martin Schäffer von Unterjettingen teilte.

Dort in den Herzoglichen Anlagen denken wir uns am liebsten am Sonntag die Landleute zur Erbauungsstunde zusammenströmen. Es ist wohl glaubhaft, dass er das gesungene Lied oftmals aus dem Stegreif gedichtet habe. Und wie war seine Seelsorge begehrt! Den tiefsten Eindruck macht doch immer die Tatsache, dass er als Führer ein Ringender, an sich selbst Arbeitender blieb; in einem Brief an eine zudringliche Besucherin, schreibt er im letzten Lebensjahr: [wenn alle, die etwas mit Gott zu bereden haben, zu mir kommen wollten:] wie könnte ich mich dann bekehren! Nach der Stunde übergibt ihm der eine oder andere Besucher ein Brieflein, in dem Beratung in einer Herzensangelegenheit oder Aufklärung über eine dunkle Bibelstelle gewünscht wird. Wer aber einen Antwortbrief oder gar ein Lied „der Autors“ hat, macht andere zu Mitwissern; fleißig abgeschrieben gehen sie von Hand zu Hand wie eine Offenbarung. – Nach der Stunde sind die Auswärtigen Hahns Gäste, und sein volles, freundliches und doch majestätisches Gesicht kehrt sich jedem mit gleicher Liebe zu. Wir sehen zwischen bescheidenen Jünglingen und gedrückten Frauen (in jenen Hungersjahren) die Erben seines Geistes: den weltabgekehrten tiefernsten Anton Egeler; den dem praktischen Christenleben zugekehrten Schulmeister Kolb, den originellen Weingärtner Johannes Schnaitmann; keine Kopien, sondern kleine Ganze vom großen Ganzen. Wenn von andrer geistlicher Arbeit innerhalb oder außerhalb der Kirche die Rede ist, spricht er achtungsvoll, aber wenn er von der Engherzigkeit hört, die den Brüdern das Forschen verbietet mit billigen Sprüchen: man solle beim Heiland, solle in der Einfalt bleiben, da flammt das sanfte Auge: „Sie mögen Christen sein, aber mit diesen Gedankenlosen, die aus dem Glauben ein heiliges ‚Ich weiß nicht was‘ machen, komme ich in dieser Welt nicht überein und auch in der andren nicht sogleich.“

Haben Besucher lange verweilt, so sieht man tief in die Nacht hinein die Lampe brennen; er brauch seine Zeit zu den sorgfältig überlegten Briefen und zu apostolischem Ringen und Flehen für seine Gemeinde.

„Habt ihr bei Tage keine Zeit,
So nehmt die Nacht dazu –
Dort in der langen Ewigkeit
Hat euer Leib auch Ruh.“

Die Angst ist verschwunden, eine Freudigkeit ist an ihre Stelle getreten, genährt an der Anhänglichkeit seiner Glieder, die er nur von einem Übermaß sklavischer Verehrung zurückhalten muss; aber ein anderer Druck liegt auf ihm: die für seinen starken Körperbau gefährliche Umschaltung der ganzen Lebensweise macht sich in viel körperlichen Unpässlichkeiten bemerkbar; 1813 brachte ihn eine Krankheit an den Rand des Grabes, von der sich seine Kraft nimmer ganz erholte. Aber er reiht auch diese Hemmungen in den Sinn seiner Lebensführung ein, und mit einem Unterton überlegenen Humors stelle er in dem Lebensrückblick, von dem wir oben ein Stück lasen, seine beiden Begleiter zusammen: „Ob ich schon alle Tage etwas arbeiten kann, verschlimmern sich doch meine Umstände immer mehr. Und dies ist mir keine geringe Demütigung, aber vielleicht eine heilsame Begleitung durch die Welt, und eine beschützende Gesellschaft. Gott wird sehen, dass ich nicht ohne sie genugsam verwahrt wäre; allein unangenehm ist es doch, indem man bei solcher Begleitung nichts gilt, und oft hingeführt wird, wo man nicht hin will.

Seitdem ich an Lebensjahren älter werde, habe ich die sorgfältige Begleitung auf dem Wege, die keinen Tag von mir weicht; ich sehe sie oft groß an, denn sie ist mir nicht immer angenehm, weil sie mich nichts gelten lässt, und ich immer Wege gehen muss, die ich nicht will; da hilft alle meine Vorstellung, all mein Bitten und Ansuchen nichts, wenn ich angenehmere Wege vorschlage, denn es ist, als ob meine Begleitung auf raue Wege bedacht wäre; indessen hat sie es bisher doch so gemacht, ich denke: sie wird dazu Befehl haben, dass ich fortpilgern und im Reiche Gottes fortarbeiten könnte; darum habe ich gesagt: ich wisse nicht, ob ich die Arbeit, die ich jetzt anfange, auch werde vollenden können, denn die Unpässlichkeit, meine Begleitung, könnte den Befehl haben oder bekommen, mich rauere Wege zu führen, wo ich darniederliegend fortpilgern müsste, welches mir noch unangenehmer sein würde.

Bis in mein 40stes Jahr begleitete mich, wie ich letzthin meinem lieben Bruder schrieb, eine oft sehr demütigende Angst und Furcht, der ich nicht loswerden konnte. Es hatten freilich die vielen Verfolgungen der Gelehrten viel Schuld daran, denn ihnen war ich ein Dorn in den Augen, sie trieben auf, was sie konnten; ich suchte mich aufs fleißigste vor ihnen zu hüten, allein ich konnte ihnen nicht ganz ausweichen, durch meine Aufträge und Verrichtungen kam ich immer in Berührung mit ihnen; und wie diese Art von Menschen immer gewesen, so war sie es auch gegenüber mir, sie wollte mich misskennen [falsch beurteilen] und wusste mit sorgfältig lauerndem Neid auch immer etwas zu erlauern, sie stellte auch lauter Laurer auf, die dann ihre Zuflucht zur Lüge nahmen, und so wurde ich eingeschüchtert, und darum begleitet mich schon ca. 20 Jahre Angst, weil ich Frieden liebte, ein Friedenskind war.

Ich habe aber unter der Zeit einsehen gelernt, wie solche Angst, welche mir oft sehr zur Last und äußerst unangenehm war, doch trefflich gedient hat, und dass mir diese Begleitung eine Bewahrung vor viel Unfall und mancher Ausartung war; gerade das Demütigende war mir so heilsam, was ich jetzt so deutlich erkenne, und auch schon damals, aber nicht so klar, erkannte. Es war, als ob der Herr zu mir gesagt hätte: der Schatz, den du in deiner elenden Hütte trägst, bedarf der Verwahrung, und da du selbst dessen gefährlichsten Dieb, nämlich die Eigenheit in dir hast, brauchst du eine stete Demütigung zur Begleitung, und dies ist und soll sein die Angst. Ich wurde von frechen Seelen, besonders von Separatisten wegen dieser Begleitung verachtet, denn sie glaubten, diese mich verächtlich machende Begleitung sollte ich wegjagen; allein ich erkannte, dass, da sie keine solche Begleitung haben, sie auch keinen solchen Schatz in sich trugen; denn wo das eine ist, ist auch das andere. Meine unangenehme damalige Begleitung hatte auch den Nutzen, dass sie eine Decke war über den Schatz, den ich in mir trug, den der Herr in mich gelegt hatte, ohne dass ich ihn selbst recht kannte; denn, wie eben die Menschen sind: wenn mich nicht ein gewisser Spottmantel bedeckt und man keine solche menschliche Schwächen an mir wahrgenommen hätte, so wären sie mehr auf mich als den Schatzträger, als auf den Schatz hineingefallen. Indessen gab es doch immer welche, die meine Begleitung nicht ärgerte, die umso mehr aufmerksam gemacht wurden auf mich, und noch mehr auf den Schatz, den ich trug und tragen durfte. Und von dieser Partei seid auch ihr, meine Freunde, denen ich so manche Briefe und Lieder schreibe. Ihr hab euch durch meine Begleitung nicht abschrecken lassen, aber oft habt ihr sie mit eurer Zudringlichkeit und Anhänglichkeit vermehrt, ohne dass ihr es gedacht und geglaubt habt. Doch bisher hat uns der Herr geholfen, Dank ihm auch für seine unangenehme Begleitung!!! Diese Begleitung war Bewahrung, und war mir darum gegeben; sie machte mich doch auch oft den Neidischen erträglich, auch stolze Geister erkannten es manchmal für Weisheit, wenn ich sachte und bescheiden ans Werk ging, um das Werkzeug, das ich sein sollte, länger zu sein, und so mehr auszurichten; denn was übertrieben wird, kann nicht lange getrieben werden; und bei den schwachen Seiten, die der Neid entdeckte, bekam ich Lust zum Leben unter ihm und konnte so länger existieren; denn es war seine Freude, Schwächen an mir zu entdecken und mich zu bekehren; ich ließ ihn machen, aber ausrichten konnte er freilich nichts; den Schatz den ich trug, lernte er nicht kennen, und das war gut für mich, denn sonst hätte er mich noch tiefer gehasst und mir noch mehr Ungelegenheit gemacht; ich fürchtete und hütete mich vor ihm, und auch hierin kam mir meine Begleitung trefflich zustatten, ja, auf viele Arten und Weisen habe ich erfahren, dass sie mir sehr nützlich war und sehr diente.

Ungefähr seit dem 40sten Jahr hat mich nach und nach jene Begleitung verlassen, und an ihre Stelle traten andere, nämlich allerlei Unpässlichkeiten. Wie so nach und nach die Ersteren sich verloren, traten diese nach und nach immer mehr an ihre Stelle, und ich darf sagen: meine Flüsse, die ich habe, sind mir wahre Satansengel, die mich oft mit Fäusten schlagen; sie sind unangenehme Pfähle in meiner Natur, und suchen mich stets zu hindern, aber ich fühle auch, dass sie mir als Demütigung zur Begleitung beigegeben sind, damit ich mir nichts soll einbilden, dass ich den Schatz darf tragen, und er mir zum Tragen anvertraut worden ist; und so ist mir das, was einerseits freilich eine große Last ist, dennoch sehr heilsam; ich werde doch oft inne, dass diese mir beigegebene Begleitung unter höheren Befehlen steht und sich nach den Vorschriften meines Herrn zu richten hat; darum sehe ich sie nicht immer so ganz scheel an. Meine Begleitung ist Ursache, dass ich mehr zuhause bleibe, dabei befinde ich mich freilich immer tüchtiger zu dem, was ich tun soll; und, Freunde! ich hätte euch viele Briefe nicht schreiben können, wenn ich eurem Begehren hätte entsprechen und euch mehr besuchen können; nein, das sollte nicht sein, das hätte mir geschadet, zu der Sammlung wäre ich nicht gekommen; vielleicht wäre ich bei häufigerem Reisen weniger unpässlich, aber dann stellte sich vielleicht auch die alte Begleitung wieder ein. Es fragt sich nur: welche ist die beste, und auf welche Weise kommt für mich und andere am meisten heraus? – Wer meine Briefe nicht zu lesen bekommt, hat freilich keinen Segen von meiner Gabe, weil ich nicht an ihm wuchere, außer er komme je und je zu uns in die Versammlungen. Aber was ist das unter so viele? – Seht, Freunde, darum schreibe ich, und auch das, was ich hier schreibe, nehmt an, als ob‘s zum Kolosserbrief gehörte, ob es schon eigentlich nicht dazugehört, denn es ist ein Stück meiner Lebensbeschreibung.

Auch die Nachkommen dürfen es wissen, was ich für eine Begleitung hatte. Sollte es geschehen, dass, da einige von euch meine Lieder und Briefe sammeln, nachher einige beim Lesen merkten, dass ich einen Schatz getragen habe, so werden sie sich wundern, dass man denselben zurzeit nicht besser geachtet und geschätzt hat; darum sollen sie auch wissen, was ihn zudeckte und unkenntlich machte, und unter welchen Decken die Schatzträger verhüllt sind. Vielleicht hören auch die Nachkommen noch mancherlei Schmähungen, so sollen sie dann auch wissen, woher diese kommen. Wer alles genau überlegt, kann es sich wohl zusammenreimen, denn wenn Menschen mit etwas besonders begabt sind, so haben sie auch besondere Beneidungen; das können die Nachkommen kaum begreifen, und sollten es doch aus Christi Worten erkannt haben, wenn er zu seinen Jüngern sagt: denn ebenso, wie sie euch hassen und verfolgen, haben sie die Propheten gehasst und verfolgt, die vor euch dagewesen sind.

Es muss von jeher Menschen gegeben haben, die allerlei Schmähungen und Lästerungen über wahre Jesusjünger ausgesprochen und ausgebreitet haben. Aber gerade diese bereiteten ihnen auch größere Herrlichkeit zu. Auch zu unserer Zeit gab es genug solche. Eine jede unlautere Seele erlaubt sich [auf] dies und jenes zu schließen von ihrem eigenen Herzen, und es auf den andern, auf den Jünger Jesu auszusagen, ohne allen Grund. Genug, dass es in ihm aus dem Lügengrund des Satans war (Joh 8,44); dass es dann allen Satanskindern Freude macht in [aus] eben demselben Grund, ist leicht zu erachten [verstehen], und dass sich der Neid, da er ja Hölle ist, auch an solcher Höllenfrucht nährt und ergötzt, ist leicht begreiflich; dass also auch dies mir nebst meiner Begleitung auf meinem Wege begegnet ist, sollen nicht allein meine jetzigen Leser wissen, sondern auch die, welchen allenfalls noch nach meinem Tode von meinen Schriften unter (in) die Hände kommen möchten; auch sie werden Berichtigungen [Erklärungen] wünschen.

Ich sollte fast denken, es könnten meiner unangenehmen Begleiter noch mehr werden, wenn ich nun noch älter werde, weil sich im Alter mehr Gebrechlichkeiten einzustellen pflegen. Allein ob ich das schon vermute, kann es doch auch das Gegenteil sein, denn ich finde, dass sich die Qualität und Quantität meiner Begleitung nach meinen inneren Umständen richten müsse, und dass sie die Vollmacht nicht haben, willkürlich zu handeln, dass sie unter einer höheren Direktion stehen und sich genau nach dem Winken derselben richten müssen, dass also auf meine Umstände Bedacht genommen wird, und dass meine Begleiter auch meine Bewahrer und Beschützer sein müssen.“

In der Beengten Zeit des ersten Jahrzehnts des neunzehnten Jahrhunderts, wo um der wirtschaftlichen Note willen, aber vor allem der rationalistischen Welle in der Kirche halber, die u.a. ein geistesleeres Gesangbuch und frostiges Liturgien-Buch einführte, viele zum Wanderstab griffen – da war Michael Hahn ein Ruhepunkt und Halt für viele mit seiner Innerlichkeit und Nüchternheit. Soweit sein Wirkungskreis reichte, hielt er von der Separation [Kirchenaustritt] ab und sprach der Auswanderung aus religiösen Gründen nicht zu. Und wie groß das Vertrauen war, das man ihm entgegenbrachte, zeigt, dass er zum Haupt einer zu gründenden Gemeinde nach neutestamentlichen Grundsätzen ausersehen war (1819 in Korntal realisiert), obwohl die Anregung dazu nicht von ihm ausging.

Aber es sollte nicht dazu kommen! Am 14.Januar 1819 befiel ihn ein Fieber, und bald sah man, dass es zu Ende ging. Kamen noch in den letzten Tagen tiefe Täler, so war doch das Scheiden selbst heiter und getrost („der Heiland hat mir alles Grauen des Todes genommen“), das letzte Wort ein halb scherzendes Dankeswort für die Pflege seiner Hausgeschwister. Am 20. Januar gegen Abend ging er heim.

Die Grabschrift, die er selbst (doch nicht für sich) verfertigt hatte, lautet:

Hier liegt sie, meine Wanderhütte
nun habe ich ein himmlisch Haus
nun bin ich fort aus eurer Mitte
denn jetzt ist meine Wallfahrt aus
im Grabe kann ich nicht verderben
das Leben fand ich ja im Sterben
im Geistleib werd‘ ich aufersteh'n
ich werde meinem JESUS gleichen
von dem ich hier nicht wollte weichen
das sollet ihr dereinsten sehn.

Die Gemeinschaft, die die Züge seines Wesens weitertrug, sah sich gegen die Absicht des Stifters durch die geschichtlichen Verhältnisse genötigt, sich eine eigene Verfassung zu geben und konsistente Formen anzunehmen – ist aber ein Glied der Württembergischen Kirche geblieben. Ihre Entwicklung zu schildern, fällt aus dem Rahmen unserer Aufgabe (sie mag etwa 15‘000 Mitglieder zählen) [2020 noch ca. 3500], sie ist aber in zäher Pietät heute noch [1921] das treueste Spiegelbild ihres Stifters und so sein lebendiges Werk.

Lies weiter:
Der Schriftsteller und seine Geistesart