Die siebzig Jahrwochen

Aus Bibelwissen
Version vom 27. Mai 2020, 17:43 Uhr von MI (Diskussion | Beiträge) (Beginn der siebzig Wochen)

Wechseln zu: Navigation, Suche

'Abschrift des Buches: Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis
in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert.

Verfasser: Karl August Auberlen (1854)
Verlag: Bachmaier's Buchhandlung, Basel

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel vorher:
Charakteristik der Buches Daniels


In Bearbeitung

ZWEITER ABSCHNITT:

Die siebzig Jahrwochen

Dan 9

Wir wenden uns nun zur Einzelbetrachtung derjenigen Kapitel unseres Propheten, an deren Erklärung, wie oben am Schluss der Einleitung gezeigt wurde, die ganze kritische Frage über das Buch Daniels hängt. Gelingt es, die Unhaltbarkeit der modernen Auffassungen dieser Kapitel nachzuweisen, so ist das Buch selber ein so gewaltiges Zeugnis für seine Echtheit, dass die übrigen dagegen vorgebrachten Gründe ihr Gewicht verlieren.

Und zwar beginnen wir mit Dan 9., weil diese Weissagung eine für uns schon längst vergangene Zeit zum Gegenstand hat, während die des 2. und 7. Kapitels in eine auch für uns noch zukünftige Epoche hinausblickt und sich daher eng mit der neutestamentlichen, johanneischen Apokalypse zusammenschliesst. Es soll nun zunächst eine Entwicklung des Inhalts jener Engelsoffenbarung gegeben werden, sowie derselbe zwar mit mancherlei Modifikationen im Einzelnen, aber dem Wesen nach zu allen Zeiten gleichmäßig von der Kirche ist aufgefasst worden. Denn einen Überblick über die Geschichte der Auslegung unserer Stelle bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts kann H a v e r n i c k (Kommentar S. 393, 395) mit der Bemerkung schließen: "Dass im L e b e n C h r i s t i der Zielpunkt der 70 Wochen zu suchen sei, war bei aller Verschiedenheit im Einzelnen doch allgemeines Zugeständnis; und die Verschiedenheit entstand nur teils aus der Verschiedenartigkeit der angenommenen Anfangspunkte, teils aus der Verschiedenartigkeit in der Berechnung des Lebens Jesu, teils aus der auf die manigfaltigste Weise zugrunde gelegten Zählmethode." An die positive Darlegung unserer Absicht wird sich dann eine Kritik der modernen Auffassungen rehen. Da eine sprachliche Detailerklärung außerhalb unserer Aufgabe liegt, so verweisen wir in dieser Hinsicht im Allgemeinen auf H e n g s t e n b e r g s Christologie des A. T., II, S. 401-581, sowie auf H ä v e n i c k s Kommentar.

Erstes Kapitel

Die kirchlich-messianische Auffassung

I. Zusammenhang und Gedankengang der Weissagung

Unser Kapitel versetzt uns in das erste Jahr Darius des Meders. Haben wir unter diesem, wie noch immer das Wahrscheinlichste, Epaxares II. zu verstehen, in dessen Namen sein Neffe, Schwiegersohn und Nachfolger Kyrus als Oberbefehlshaber der gesamten medopersischen Heeresmacht 538 v. Chr. Babylon eroberte: so fällt also das Ereignis unseres Kapitels ins Jahr 537, mithin ein Jahr vor der von Kyrus den Juden gegebenen Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil und 69 Jahre nach der 606 erfolgten Wegführung Daniels und also auch nach dem Beginn des Exils

Wir begreifen, dass der fromme Israelit, der mit so lauterer Liebe an Jehova und seinem Volke hing, gerade um diese Zeit sich angetrieben fand, die Weissagung Jeremias von den siebzig Jahren, welche über den Trümmern von Jerusalem hingehen sollten, zum Gegenstand seines Forschens und Nachsinnens zu machen. Er forschte aber in der Schrift mit Gebet. In heißem Flehen schüttet er sein Herz vor dem Bundesgott aus und ruft ihn an um Gnade für sein Volk, über welches sein Name genannt ist, um Wiederherstellung des Heiligtums und der Stadt. Es ist +das eines jener biblischen Gebete, wo einem das Erklären vergeht, wo man fühlt, die Worte müssen sich selbst erklären in unseren Herzen, wenn man Sinn und Bedeutung derselben fassen will. Daniel, der treue und gerechte Knecht Gottes, geht so ganz ein auf die Schuld und Sünde seines Volkes, sein priesterlicher Dienst identifiziert sich so völlig damit, tut so innig im Namen von ganz Israel Buße, dass wir hier etwas ahnen von dem inneren Hergang der büßenden Stellvertretung und über Daniel hinaus in die Gebetsopfer von Gethsemane und Golgatha hineinschauen. Wie wir also oben im allgemeinen gesehen haben, dass des Propheten eigenes Leben die typische Grundlage zu seiner Prophetie bildet, so geht auch in diesem speziellen Fall der Weissagung von der vollkommenen Buße der Sünde ein Vorbild von ihr voraus. Daniel stellt uns in seinem Bußgebet jenen höchsten Priester typisch dar, welcher, indem er hingerafft wurde (Dan 9.26), die Schlachtopfer und Speiseopfer des alten Bundes aufhören machte (Dan 9:27), weil er selbst die Schuld gesühnt und ewige Gerechtigkeit wiedergebracht hat (Dan 9:24). Für diese Offenbarung des neutestamentlichen Hohenpriestertums musste Daniel eben jetzt, da er selbst Priesteramtes gepflegt hatte, besonders empfänglich sein. Und nun, ist wohl dieses Gebet, das man nicht lesen kann, ohne dass es Mark und Bein durchdringt, in trügerischer Weise fingiert? Es zeugt von dem Mangel unserer Kritik an tieferem ernsterem Sinn für religiöse Wahrheit und Wahrhaftigkeit, dass sie über selche Fragen so leicht hinwegkommt.

Indem wir nun an die Offenbarung heranzutreten wagen, welche dem Propheten auf sein Gebet hin zuteil wird (Dan 9:24-27), müssen wir vor allem daran erinnern, dass es Engelssprache ist, die in diesen vier kurzen Versen geredet wird, der Lapidarstil des oberen Heiligtums. Daher ist das Verständnis für uns unreine Menschen (Jes 6:5) so schwer, und es gibt keine Auslegung, welche alle Dunkelheiten und Schwierigkeiten dieser Engelsworte vollkommen überwunden und ins Klare gesetzt hätte. Indessen wenn die göttliche Antwort auch immer viel weiter greift als die menschliche Frage, wenn Gott über unser Bitten und Verstehen tut: so schließt sich doch begreiflicherweise die Antwort an die Frage und die Erhörung an die Bitte an. Und so müssen wir uns, um die Worte des Engels möglichst zu verstehen, Daniels Gedanken und Gefühle, wie sie seinem Gebet zugrunde liegen, uns lebendig zu vergegenwärtigen suchen.

Er betet um die Befreiung Israels aus dem Exil und um den Wiederaufbau der Stadt und des Heiligtums. Das tut er offenbar, weil ihm die großen Verheißungen vorschweben, welche an dieses Ereignis geknüpft sind. Es war ja mit demselben überall in den Propheten und noch eben in dem Jeremia, den er gerade vor sich hatte (Jer 31), die Erfüllung der messianischen Hoffnung aufs Engste verbunden (vgl. J. Chr. K. H o f m a n n, die 70 Jahre des Jeremia und die 70 Jahrwochen des Daniel, Nürnberg 1836, S. 60; H e i m und W. H o f f m a n n , die großen Propheten, erbaulich ausgelegt aus den Schriften der Reformatoren S 864 und J. J. H e ß , Gesch. der Regenten Juda nach dem Exilio, Bd. 1, Tübingen 1792; S. 194f.) Die Offenbarungen, welche Daniel selbst im 2. und 7. Kapitel empfangen hatte, konnten ihm freilich zeigen, dass wenigstens das messianische Herrlichkeitsreich noch nicht so nahe sei, da ja von den vier Weltmonarchien erst eine hinter ihm lag; aber nur umso mehr bedurfte er jetzt eines Aufschlusses hinsichtlich der Weissagungen der früheren Propheten, in denen er die Errettung aus dem Exil und das messianische Heil verbunden fand. Die Offenbarung, die er jetzt erhält, hat nun die Bedeutung, das auseinander zu legen, was die Propheten bisher nach dem Gesetz der prophetischen Perspektive zusammengeschaut hatten, die Erlösung aus dem Exil und die volle, messianische Erlösung. Das war ja überhaupt im A. T. mehr als einmal der Fall, dass relative Erfüllungen der früheren Verheißungen eintraten, bei denen nun aber die Erkenntnis galt, das sei noch nicht die höchste und eigentliche Erfüllung.

Die Frommen des A.T., welche auf den Trost Israels warteten, und welche gleich Noahs Vater (1Mo 5:29) manchmal hoffen mochten, jetzt werde der Tröster in ihrer Trübsal kommen, mussten von einer Zeit zur anderen harren und die vorläufigen Erfüllungen nur als Angeld und Unterpfand nehmen dafür, dass einst der wirklich kommen werden, den sie so sehnsüchtig begehrten (Mt 13:17); ähnlich wie die Christen, ,welche die Zukunft ihres Herrn schon so oft nahe glaubten, stets wieder aufs Warten angewiesen wurden. So war schon mit David eine vorläufige Erfüllung der älteren Verheißungen gekommen; da musst aber der Prophet Nathan zu dem König treten und ihm verkündigen, nicht er solle Gott, sondern Gott wolle ihm ein Haus bauen, und erst dieser sein Same sei bestimmt, das volle Wohnen Jehovas unter seinem Volk zu vermitteln (2Sam 7). Ebenso wird dann auch in unserer Weissagung - und wir wissen, wie dies zur Aufgabe gerade der Apokalyptik wesentlich gehört, - dem Daniel anstatt der 70 Jahre, an deren nahe bevorstehendem Ende er das Heil erwartete, ein weiterer Termin von 70 Jahrwochen angegeben, die von der näheren Erfüllung bis zur entfernteren und vollen, vom Befehl zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems bis auf die Zeit des Messias verstreichen sollen. Wie dort der Herr dem Petrus auf die frage, ob es genug sei, wenn er seinem Bruder siebenmal vergebe, antwortete, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal (Mt 18:21f.), so antwortet hier der Engel dem Daniel: nicht siebzig Jahre, sondern siebenmal siebzig Jahre sind über dein Volk und deine heilige Stadt bestimmt. Seine Worte lauten so:

Dan 9:24: "Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, bis der Frevel vollendet und die Sünden versiegelt und die Schuld gesühnt und die ewige Gerechtigkeit hergestellt und Gesicht und Prophet versiegelt und das Allerheiligste gesalbt wird.

Dan 9:25: So wisse nun und merke: Vom Ausgang des Wortes (Befehls), Jerusalem wieder herzustellen und zu bauen, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen: es wird wieder hergestellt und gebaut werden, (doch bloß) mit Straßen und Graben, und im Druck der Zeiten.

Dan 9:26: Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden, und niemand hängt ihm an; und die Stadt und das Heiligtum wir zerstören das Volk des Fürsten, der da kommt, und sein (des Heiligtums) Ende ist in (Kriegs-) Flut, und bis zum Ende ist Krieg, (von Gott) beschlossene Verwüstungen.

Dan 9:27: Und es wird vielen den Bund stärken eine Woche, aber die Mitte der Woche wird abschaffen Schlacht- und Speiseopfer; und ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln, und bis zur Vollendung, der beschlossen, wird (der Fluch) über das Verwüstete herabtriefen."

Dan 9:24 gehört zu den herrlichen und tiefsten Stellen des ganzen A. T., und wenn irgend eine messianisch zu deuten ist, so ist es diese. Der Engel will dem Propheten zunächst im Allgemeinen einen Eindruck davon geben, dass er einen noch viel längeren Zeitraum in Aussicht nehmen müsse für die Erfüllung seiner messianischen Hoffnungen und Bitten. Die 70 Jahre des Exils seien wohl, wie er n seinem Gebet bekannt habe, eine Strafe für die Sünden des Volks gewesen, aber nicht die vollkommene Buße derselben vor Gott; Gott werde jetzt allerdings seine vergebende Gnade über Israel walten lassen, aber die völlige Sühnung und Vergebung der Sünden, die ewig gültige Wiederherstellung des Wohlverhältnisses zwischen Gott und den Sünder ( צדקה, δικαιοσύνη, Gerechtigkeit) werde erst nach 70 Jahrwochen eintreten. Durch welches Opfer diese Süznung der Sünde geschehen soll, darauf deutet Vers 26 mit dem Ausdruck יִכָּרֵת ("der Messias wird ausgerottet werden"), welcher an das Schlachten der Opfertiere bei Bundesschlüssen erinnert (כָּרֵת בְּרִיתִ ). Und daran reiht sich dann weiter V. 27 der וְהִגְבִּיר בְּרִית ("und wird Vielen den Bund stärken") und die Weissagung, dass das alttestamentliche, blutige Opfer (Schlacht- und Speiseopfer) abgeschafft werden soll. So bietet der Engel dem Propheten eine ineinander greifende Kette von Ausdrücken dar, derer einer den anderen hält und trägt und erklärt, und welche zusammen den Messias als das vollendete Sühn- und bundesopfer darstellen; ein Aufschluss, welchen Daniel, der Schriftforscher, aus einem Vergleich dieser Offenbarung mit Jes 53. noch genauer verstehn konnte.

In dieser Zeit des Heils, fährt nun Gabriel fort, werde nicht bloß Jeremias Weissagung, sondern Gesichte und Propheten überhaupt ihre Erfüllung finden (s. Lk 16:16; 2Kor 1:20); und nicht bloß ein neues Heiligtum werde geweiht werden, wie Daniel gebeten, sonder ein Allerheiligstes, in welchem Gott auf eine neue Weise bei seinem Volke vwohnen wolle (s. Joh 2:19-22). Man braucht das קֹדֶשׁ קָֽדָשִׁים nicht maskulinisch zu nehmen, wie L u t h e r: der Allerheiligste, obwohl das Wort namentlich in Verbindung מָשִׁיחַ so deutlich auf den Messias hinweist, dass auch jüdische Ausleger, wie A b a r b a n e l u. a., diese Beziehung anerkennen. Der Gedanke ist zunächst der: wie und weil dann das vollendete Opfer zur Sühnung der Sünden dargebracht werden wird, so wird auch die heilige Gegenwart Gottes in vollendeter Weise vorhanden sein (vgl. 2Mo 40:9.34). Denn nur wo die Sünde ganz hinweggeschafft ist, da kann Gott ganz gegenwärtig sein. Darum war der Deckel der Bundeslade, auf welchem Jehova über den Cherubim im Allerheiligsten thronte, zugleich das Sühnegerät ( ἱλαστήριον Röm 3:25). Was hier typisch dargestellt ist, das soll in der messianischen Zeit seine Erfüllung finden.

Die siebzig Jahre des Exils sind also,dies ist der Grundgedanke unseres Verses, nur ein Vorbild weiterer siebzig Jahrwochen, und die Erlösung aus dem Exil am Ende der siebzig Jahre ist ebenso nur ein schwaches Vorbild der vollen messianischen Erlösung am Ende dieser siebzig Jahrwochen. Die folgenden drei Verse haben nun die Bestimmung, diese siebzig Jahrwochen in denjenigen Hauptmomenten ihres Inhalts, um die es sich hier handelt, genauer zu charakterisieren.

Es wird zunächst V. 25 die allgemeine Weissagung des vorhergehenden Verses näher dahin erläutert, dass die Erscheinung de Messias nicht, wie Daniel wohl gehofft, nach dem Exil eintreten und mit der Wiederherstellung des Volkes und Erbauung der Stadt zusammenfallen werde; vielmehr müssen 7 und 62, also 69 Jahrwochen dazwischen vergehen. In dieser Zeit werde Jerusalem allerdings wiederhergestellt und gebaut werden, aber nicht in jener messianischen, göttlichen Herrlichkeit, wie sie z. B. Jes 54:11f und Jes 60-62 verheißen ist, sondern nur in irdisch äußerlicher und dürftiger Weise, mit Straßen und Gräben: es werde ein kümmerliche Zeit sein, wohl besser als das Exil, aber noch lange nicht so voll Gnade und Heil, wie die messianische Zeit.*)

*) H o f m a n n (Schriftbeweis I, S. 44) drückt ganz den Gedanken unserer Stelle aus, wenn er sagt: "Das Volk Israel musste die Stätte sein, wo Jesus erschien und die Herstellung der vollkommenen Gottesgemeinschaft ihren Anfang nahm. Hierzu bedurfte es - nach dem Exil - einer, aber nur für diesen Zweck ausreichenden, Wiederherstellung der aufgelösten Volksgestaltung, die dann zum Vorbild der vollendeten Wiederherstellung wurde."

So war nun der Blick des Propheten vom Ende des Exils weg und ans Ende der 69-sten Woche hingelenkt, als an welchem der Messias erscheinen werde. Was vorhergeht, dabei soll er nicht stehenbleiben, daran soll er sein Herz nicht hängen. Denn das Schicksal von Volk und Stadt, um welches er besorgt ist, wird doch nur davon abhängig sein, wie sie zum Messias sich stellen. Darum tritt jetzt in den beiden folgenden Versen Schicksal und Tätigkeit des Messias in den Vordergrund, und nur in zweiter Linie, in Abhängigkeit davon erscheint je in der zweiten Vershälfte das Schicksal der Stadt und des Heiligtums. Es ist nun aber hier ein Doppeltes zu verkündigen. Die messianische Zukunft hat eine negative Seite neben der positiven, der Messias wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird (Lk 2:34). In dieser Doppelgestalt, Heil und Gericht zugleich verkündigend, tritt ja die messianische Weissagung bei allen Propheten auf, von Joel an (Joe 3:1-5) bis Maleachie (Mal 3:1-6.19-21), ja bis auf den greisen Simeon und Johannes den Täufer (Lk 2:29-35; Lk 3:7-18). Diese Doppelheit der Momente finden wir nun auch in unserer Weissagung, nur in der individuellen Bestimmtheit, wie sie durch die Fixierung des Blickes auf die Fleischestage des Messias und auf das hieran sich knüpfende Schicksal des Volkes und der Stadt, das in der römischen Zerstörung Jerusalems sich erfüllt, geboten wird. Dem negativen Moment ist V. 26, dem positiven V. 27 gewidmet.

Dan 9:26: Das negative Moment ist die Verwerfung des Messias von Seiten Israels: er wird getötet und sein Volk huldigt ihm nicht. Zur Strafe dafür wird Stadt und Heiligtum von einem auswärtigen Fürsten zerstört. Jesus selbst hat den ursächlichen Zusammenhang beider Ereignisse, seines Todes und der Zerstörung Jerusalems, bei seiner Hinausführung zum Kreuz "im Herzen gehabt" (R o o s) und schon vorher in der Passionswoche wiederholt ausgesprochen (Lk 23:28-32; Mt 21:37-41; Mt 23:37.38). Der letzte Teil unseres Verses schildert dann die Zerstörung und die ihr vorangehenden Wehen noch genauer: das Ende der Stadt und des Heiligtums ist in stürmischer, schrecklicher Kriegsflut; denn bis zu diesem Ende ist Krieg (vgl. Mt 24:6; Kriege und Geschrei von Kriegen), von Gott über das Land verhängte Verwüstungen. Wie sich das im jüdischen Krieg erfüllt hat, ist bekannt.

Diese beiden Ereignisse, die Tötung des Messias und infolge davon die Zerstörung von Stadt und Heiligtum, sind für das Volk im ganzen die Entscheidungspunkte in der mit dem Schluss der 69sten Woche beginnenden messianischen Zeit. Daher werden sie zuerst hervorgehoben und ohne nähere Zeitbestimmung als nach der 69sten eintretend bezeichnet (der Text sagt: nach den 62 Wochen; denn die 7 brauchen als den 62 vorangehend natürlich nicht wiederholt zu werden). Die nachdrückliche Hervorhebung dieser beiden Ereignisse und ihres Kausalzusammenhangs ist also der leitende Gedanke in V. 26. Daniel und die israelitischen Leser der Weissagung mussten nämlich erwarten, dass der Messias bei seinem Auftreten nach Ablauf der 62 Wochen (Vv. 25) das Reich der Herrlichkeit errichten werde, auf welches Israels Blicke vorherrschend gerichtet waren, und welches auch unser Prophet in Kap. 2 und 7 geschaut hatte. Um nun diese Erwartung, die nicht erfüllt werden sollte, gleich von vorne herein abzuschneiden, lässt Gabriel den chronologischen Faden einen Augenblick fallen, um ihn erst V. 27 wieder aufzunehmen, und reiht mit der allgemeinen Bestimmung "nach den 62 Wochen" diejenigen Hauptereignisse an, welche jene irrige Hoffnung vor allem zu berichtigen geeignet sind, den Tod des Messias und die Zerstörung Jerusalems. Dies ist also nicht so zu verstehen, als ob diese beiden Ereignisse unmittelbar mit dem Schluss der 62sten Woche zusammenfallen sollten. Vielmehr fällt ja nach V. 25 an den Schluss der 62sten Woche erst das Auftreten des Messias, welches doch nicht mit seinem Tode beginnen kann, der vielmehr, wie wir aus V. 27 sehen werden, erst eine halbe Woche nachher erfolgt, während die Zerstörung Jerusalem noch viel später eintritt. Diese wird aber noch mit zur messianischen Zeit gerechnet als die negative, gerichtliche Seite derselben, wie denn auch Christus selbst die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen darstellt (Mt 16:28). Der Engel will also sagen: Du musst nicht nur die Hoffnung aufgeben, dass der Messias gleich nach dem Exil auftreten werde, sondern auch noch die andere, dass er, wenn er einmal aufgetreten ist, sogleich sein Herrlichkeitsreich errichten werde.Vielmehr wird es den umgekehrten Weg gehen: er wird getötet werden von dem ungläubigen Volk, und daher wird auch dieses nicht zu Macht und Ehre gelangen, sondern mit Stadt und Heiligtum in die Hände der Heiden dahin gegeben werden. Das ist für Israel als Volk die Aussicht in die nächst bevorstehende messianische Zukunft.

Aus dem Bisherigen erklärt sich nun auch die Abwechslung in den für den Messias gewählten Bezeichnungen. Er wird eingeführt V. 2 5 als Maschiach Nagid ("der Gesalbte, der Fürst"); dagegen wird V. 26 dieser Doppelbegriff auseinander gelegt, und der Messias heißt nun noch einfach Maschiach, die Benennung Nagid dagegen wird auf den römischen Fürsten, der Jerusalem zerstört, auf Titus übertragen. Das alles ist charakteristisch und bedeutungsvoll. Wir erklären das Maschiach Nagid wohl am besten mit Hofmann (die siebzig Jahre usw. S. 67f.) so, dass wir den Messias in Maschiach als König Israels, als geistgesalbten, geistlichen Fürsten, in Nagid als König der Heiden, als Weltherrscher, bezeichnet finden. Für ersteres isst die Beweisstelle Ps 2:2, für letzteres Jes 55:4. Nach diesen beiden Seiten musste derselbe für Daniel charakterisiert werden; denn so hatte er im 7. Kapitel den Menschensohn geschaut, an der Spitze des heiligen Volkes die ganze Welt beherrschend. Bei dem Tod des Messias (V. 26) nun aber trat es hervor, dass er noch nicht wirklicher Weltherrscher sei; vielmehr war damals die Welt noch im Besitz der vierten Monarchie, und daher heißt ihr Vertreter hier Nagid. Was dagegen Christo den Tod brachte, war sein Bekenntnis, dass er Maschiach sei (Mt 26:63ff. vgl. Joh 18:33-37), weswegen auch an seinem Kreuze, in buchstäblicher Erfüllung unserer Weissagung, geschrieben stand: Jesus von Nazareth, der Juden König (Mt 27:37.42) (L u t h e r hatte die Worte יִכָּרֵת מָשִׁיחַ auf einem seiner Tischgeräte eingegraben.)- Noch mehr als dieses Auffassung empfiehlt sich in mancher Hinsicht die von E b r a r d, welcher auch das Nagid V. 26 auf Christus bezieht, wofür man anführen kann, dass er selbst, wie schon erinnert, die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen bezeichnet. "Der Erlöser wird der Gesalbte genannt, wo von seinem Leiden und seiner Verkennung die Rede ist; er wird Fürst genannt, wo von dem Gericht die Rede ist, das er sendet; Maschiach bezeichnet seinen Beruf und seine Würde, Nagid seine Macht und Gewalt. Ein Volk, von diesem Fürsten gesandt, wird Stadt und Tempel verwüsten- Dies bildet den großartigen Kontrast zu אֵין לֹו. Er wird ausgerottet und hat gar nichts mehr; und er ist der Fürst, der kommen soll, und dem die Völker der Erde gehorchen" (Offb Joh S. 70f.).

Doch jene beiden traurigen Ereignisse, der gewaltsame Tod des Messias und die Zerstörung der Stadt und des Tempels, sind nicht das Einzige und Letzte, was der Engel dem Propheten mitzuteilen hat; er kann auch noch etwas Positives und Erfreuliches hinzufügen. Immerhin bringt der Messias noch eine Woche der Offenbarung und des Heiles, von welcher nun V. 27 die Rede ist. Dieselbe wird freilich nicht vom Volk im Ganzen - da gilt das וְאֵין לֹו V. 26 -, aber doch noch von Vielen benützt, denen befestigt und stärkt der Messias den Bund, während über den anderen das Verderben sich zusammenzieht; er bringt sie in ein noch engeres festeres Bundesverhältnis zu Gott, indem er eine neue Ökonomie gründet, wo nicht mehr das alte Opferwesen herrscht, ein Gedanke, der schon vorher positiv durch die Verheißungen des V. 24 und negativ durch die Verkündigung der Zerstörung des Heiligtums V.26 angedeutet war, dass es dem Daniel hierbei möglich gewesen sei, in dem V. 26 geweissagten Tod des Messias das Opfer des neuen Bundes zu ahnen, durch welches die alttestamentlichen Opfer aufgehoben wurden, haben wir schon bemerkt. Auf der verwüsteten Stadt aber, fährt der Engel fort, und auf dem zerstörten Tempel bleibt um der von dem unheiligen Volk an dem Heiligen verübten Gräuel willen der Fluch liegen bis zu der von Gott genau bestimmten Vollendungszeit. Dieses letzte Wort musste dem Daniel, zumal wenn er es mit den früher empfangenen Offenbarungen zusammenhielt, nun auch noch einen Hoffnungsstrahl für Stadt und Volk im Ganzen bieten. Und damit schließt die Weissagung, mit einer leisen Andeutung in das 7. Kapitel einmündend, wo der Prophet erfahren hatte, dass einst in der Vollendungszeit alle Weltmacht gerichtet werden und dann das Volk der Heiligen des Höchsten zur Herrschaft gelangen solle. (Vgl. E w a l d, die Propheten des Alten Bundes II, S. 571).

Ein Bund mit den Vielen

Wir fügen noch einige erläuternde Bemerkungen über diesen schwierigen Vers hinzu.

Die Stärkung des Bundes wird auch sonst von den Propheten als das Geschäft des Messias bezeichnet: er heißt Jes 42:6 der Bund des Volkes (d. h. derjenige, in welchem der Bund Israels mit Gott seinen persönlichen Ausdruck gewinnt (Vgl. S c h m i e d e r zu d. St. (Das Alte Test. von D von Gerlach, IV, 1, S. 148) vgl. Lk 22:20: der neue Bund in meinem Blut, in meiner geopferten Person, Mal 3:1, der Engel des Bundes, und Jer 31:31 ff. ist von dem neuen Bund in der messianischen Zeit ausführlicher die Rede.

Das לָֽרַבִּים ("Vielen") erinnert direkt an Jes 53:11 und das gleiche Wort bezeichnet auch Dan 11:33, die treuen Bundesglieder. Der Begriff deckt sich mit dem des Restes und Samens, von welchem Jesajah und andere Propheten geweissagt haben (Röm 9:27 ff. Röm 11:5 ff.). Im A. T. heißen diese Auserwählten viele, im N.T. wenige.

Das erste Glied unseres Verses: "und es stärkt den Bund vielen eine Woche", hängt mit dem zweiten: "aber die Mitte der Woche wird aufhören machen Schlacht und Speisopfer", genau zusammen. Ein Bund kann nicht ohne Opfer sein, wie schon der Ausdruck für die Bundesschließung (כָּרֵת בְּרִית ) zeigt. So wurde der Bund Gottes mit Noah, mit Abraham, mit dem Volk Israel unter Darbringung von Opfern geschlossen (1Mo 8:20 - 1Mo 9:17; 1Mo 15:9 ff. 2Mo 24:3-8; vgl. Hebr 9:15 ff und wieder Lk 22:20 der neue Bund in meinem Blut) Nun wird eine Zeit der Bundesstärkung verheißen, aber mitten in derselben soll alle Opfer aufhören! Das musste dem Propheten seltsam erscheinen und sollte es auch. Was will der Engel durch diese auffallende Zusammenstellung andeuten? Offenbar, dass dieser neue Bund von anderer Art sein werde als der alte, als alle bisherigen Bünde Gottes mit den Menschen. Das erste Versglied stellt den neuen Bund als Fortsetzung des alten, das zweite in seinem Gegensatz zu demselben dar. Daniel hatte in seinem Gebet (Dan 9:16 f) sehnsüchtig hinüber geblickt nach dem heiligen Berg und dem Tempel mit seinen Opfern und Gottesdiensten, die er in Babel entbehren musste. Nun verheißt ihm Gabriel wohl den Wiederaufbau der Stadt und des Heiligtums; aber wir wissen, dass er zugleich bemüht ist, den Blick des Propheten von diesen dürftigen Vorbereitungsstadien hinweg in die Zeit des vollen Heils zu lenken. So soll nun Daniel und mit ihm jeder rechte Israelit mit seinem Glaubensblick nicht bloß bei dem äußeren Schattenwerk der nach dem Exil wieder eingeführten Opfer stehenbleiben, sondern er soll ein Wartender (Lk 2:25.38) sein auf die Zeit der Verheißung, wo die Sünden vollkommen gesühnt werden und der Bund Gottes fester als je sein und dabei doch das alte Opferwesen nicht mehr stattfinden wird.

Über die Unzulänglicheit der alttestamentlichen Opfer finden sich bekanntlich schon früh in den Psalmen und Propheten sehr bestimmte Aussprüche. Es liegt besonders nahe, hier an die tief messianische Stelle Ps 40:7-11 zu erinnern, welche beginnt: "Schlacht und Speisopfer (זֶבַח וּמִנְחָה) begehrst du nicht", und daran die evangelische Verkündigung der Gerechtigkeit ( צֶדֶק) schließt, also nur in umgekehrter Ordnung dasselbe besagt, wie unsere Weissagung, welche Dan 9:24 die Herstellung der ewigen Gerechtigkeit verheißt und dieselbe dann in unserm Vers auf die Abschaffung von Schlacht- und Speisopfern zurückführt. Als nun der levitische Gottesdienst seinem Ende entgegenging und im Exil wirklich aufhörte, da war die Zeit gekommen, wo Jeremia, Hesekiel, und Daniel immer deutlicher dem kosmischen Heiligtum des alten Bundes das ewige, pneumatische Wesen des neuen, der eben deswegen schon ausdrücklich als neuer bezeichnet wird, gegenüberstellen mussten. Dies geschieht auch in unserer Weissagung, positiv Dan 9:24, negativ die Verkündigung des Aufhörens der Opfer. Vgl. Hes 11.19-21; Hes 34:23 ff.; Jer 31:31 ff; Jer 3:16, wo unserer Stelle ganz analog gesagt ist, es solle in der messianischen Zeit der Lade des Alten Bundes nicht mehr gedacht werden. Warum Gabriel gerade die Opfer hervorhebt, davon liegt also die nächste Ursache, wie bei der Lade, in ihrem Zusammenhang mit dem Begriff des Bundes. Eine besondere Beziehung dieses Umstandes werden wir übrigens noch unten kennenlernen, wo von der Bedeutung unserer Weissagung für die Zeit des Antiochus die Rede sein wird.

Den zweiten Teil von Dan 9:27 übersetzten wir so: "Und ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln und bis zur Vollendung und zwar der beschlossenen wird es über das Verwüstete triefen." DAs וְעַל כְּנַף שִׁקּוּצִים מְשֹׁמֵם fassen H e n g s t e n b e r g und viele andere: über die Gräuelspitze kommt der Verwüster. Allein dass מְשֹׁמֵם als Adjektiv mit כְּנַף verbunden werden muss, wie E w a l d u. a. tun, geht aus folgenden Gründen hervor: 1) die Analogie von הַשִּׁקּוּץ מְשֹׁומֵֽם (Dan 11:31; vgl. Dan 12:11) fordert diese Verbindung gebieterisch; 2) nur so werden wir vor der Annahme überflüssiger Wiederholungen des schon Dan 9:26 Gesagten bewahrt; 3) nur so rechtfertigt sich die Übersetzung βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως die wir nach dem Vorgang der LXX Mt 24:15 im Mundes des Herrn finden. Es ist der Gipfel der von Israel verübten Gräuel, "welcher die Verwüstung herbeizieht, weil er sie selbst ist"*) ganz nach dem von Jeus in Bezug auf eben diesen Fall ausgesprochenen Grundsatz: Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier (Mt 24:28), und nach der noch genauer zutreffenden Analogie von Stellen wie Hes 7:22 (Vgl. Hes 9:7), wo es mit Bezug auf die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar heißt: Ich wende mein Angesicht von ihnen (den Israeliten), denn sie entweihen mein Heiligtum; nun sollen (heidnische) Wüterische darüber kommen und es entweihen.

*) S t i e r zu Mt 24:15 (Reden Jesu II, S 549); vg. H e n g s t e n b e r g, Christol. II S. 495 ff.; W i e s e l e r , die 70 Wochen und die 63 Jahrwochen des Propheten Daniel, Göttingen 1839. "Die Opfer der damaligen Juden heißt es hier S 129, in Bezug auf Mt 24:15, werden Gräuel genannt, nicht weil sie nach heidnischem Ritus, sondern obwohl in streng mosaischer Form, doch mit unfrommer, heidnischer Gesinnung dargebracht werden."

Die Gottesdienste des Volkes, ,das nach Dan 9:26 den Gesalbten des Herrn ermordet hatte in seinem Unglauben, ,und das nun in seiner Eigengerechtigkeit und Herzenhärte immer mehr sich befestigt sind Götzendienste geworden; ein Volk, das an dem Allerheiligsten sich so versündigt ist voll שִׁקּוּצִים . Es sind das dieselben Hurengräuel, die wir Offb 17:4.5 in der abgefallenen Christenheit wiederfinden. Schon Jesaja musste dem gottlosen Israel zurufen: Bringet nicht mehr Lügenopfer, Rauchwerk ist mir ein Gräuel (Jes 1:12; vgl. Jer 6:15-21; Am 5:21ff, Mi 6:6f; Ps 51:18ff.); schon Hesekiel hat von den שִׁקּוּצִים des bundesbrüchigen Volkes geredet, welche die erste Zerstörung Jerusalems herbeiführten (Hes 5:5-11; Hes 11:18.21). Aus der Zeit, da sich unsere Weissagung erfüllte, dürfen wir nur an die Strafreden und Gerichtsverkündigungen Jesu über das ungläubige Israel, die sich also Mt 24:15 ausdrücklich auf dieses danielische Wort zurückbeziehen, oder an Aussprüche des Stephanus und des Paulus, wie Apg 7:51-53; Röm 2:22-25; 1Thes 2:15.16, erinnern. Es häuften sich nach der Ermordung des Messias vollends Gräuel auf Gräuel, bis sie kurz vor der Zerstörung Jerusalems ihren Gipfelpunkt erreichten in der Entweihung des Tempels durch die Zeloten, die wohl, wie schon E l s n e r sah, Jesus bei seiner Weissagung vorzugsweise im Auge hat, und von welcher J o s e p h u s mit offenbarer Bezugnahme auf unsern Vers (voll. Jud. 6:3) sagt: "Sie hielten die Weissagung wider das Vaterland ihrer Erfüllung nahe; denn es war ein alter Ausspruch, dass dann die Stadt erobert und das Heiligtum nach Kriegsbrauch niedergebrannt werden sollt, wenn ein Aufruhr ausbreche und einheimische Hände den Tempel Gottes entweihten; dem glaubten die Zeloten, gaben sich aber selbst zu Werkzeugen der Erfüllung her." Das - ??? (Buch S. 107 oben) näher erklärt,liegt, wie namentlich aus der lehrreichen Parallele bei Mk 13:14: ??? hervorgeht, nicht inכְּנַף, wofür die zufällige Analogie von ??? (Mt 4:5) auch keine genügende Begründung bietet, sondern in שִׁקּוּצִים , was ja nicht Gräuel überhaupt bezeichnet, sondern religiöse Gräuel , Dinge, die das Heiligtum verunreinigen, weswegen es die LXX z. B Hes 5:11 schon in τὰ ἅγιά μου ἐμίανας benügend ausgedrückt erachten. Wir schließen also, was die Übersetzung der vielgedeuteten Worte und namentlich des schwierigen כְּנַף betrifft, an E w a l d an, der sie wiedergibt: "wegen des furchtbaren Gipfels von Gräueln"; nur verbinden wir sie nicht, wie er, mit dem Vorhergehenden, wobei er selbst die in dem וְ liegende Schwierigkeit sieht (a.a.D. S. 571), sondern mit dem Folgenden. Das וְעַל steht mit dem וְעַד in einem meist übersehenen Parallelismus: das eine bezeichnet den begründenden Anfang, das andere den abschließenden Endpunkt des göttlichen Gerichts über Israel.

Die folgendenWorte WAD KaLaH WeNäChaRaZaH erklärt schon Phil. Matth. H a h n so: "Und bis zur Vollendung und zwar bis zur bestimmten (bis das abgemessene Ende der Verwüstung kommt und das verheißene Reich Gottes anbricht) wird es über das Verwüstet (Land, Stadt und Tempel) triefen." (Eines ungenannten Schriftforschers vermischte theologische Schriften Winterthur 1779, Band 2 S. 329. Ebenso R o o s S. 52). ES finden jene Worte ebenfalls in unserm Buche selbst ihre Auslegung durch das וּכְכַלֹּות נַפֵּץ יַד־עַם־קֹדֶשׁ "wenn vollendet ist die Zerbrechung der Macht des heiligen Volkes" (Dan 12:7). Mag man nun das KaLaH im Sinne von KaLOT = Vollendung nehmen, was das Wahrscheinlichste isst (vgl. W i e s. S 43), oder im Sinne von KaLOT NaPeZ = vollendete Vernichtung, wie die meisten immer ist hier eine grenze des herab triefenden Fluches angegeben, und zwar wird diese als eine von Gott bestimmt abgeschnittene festgesetzte bezeichent (LXX: ???). Mit einem Hoffnungsblick für Israel, nicht mit einem Schreckensbild muss die Weissagung schon ihrem ganzen Zweck und Zusammenhang gemäß schließen (vgl. Wies. S. 48). Das impersonalle TiTaKa gewinnt seine Subjekt aus V. 11, wo Daniel gebetet hatte: Es trieft herab auf uns der Fluch und Schwur, ,der geschrieben ist im Gesetz Moses. So stellt sich in den letzten Worten noch der Zusammenhang der Offenbarung des Engels mit dem Gebet des Propheten dar.

Bei dieser Auffassung allein ist die zweite Hälfte des Dan 9:27 nicht eine bloße Wiederholung, sondern ein Fortschritt gegenüber der zweiten Hälfte von V. 26. Hier ist die Zerstörung der Stadt und des Heiligtums geweissagt, dort die Fortdauer ihres Zerstörtseins bis zu dem von Gott bestimmten Ziel. Und so treten nun überhaupt V. 26 und 27 in ihrem Verhältnis zueinander klar und einfach hervor. Beide Male ist in der ersten Vershälfte vom Messias, in der zweiten von Stadt und Heiligtum die Rede. V. 26 schildert die Nachtseite an der Erscheinung des Messias, seine Ermordung durch das ungläubige Volk, und dem entsprechend die über dieses letztere durch die Zerstörung Jerusalems hereinbrechende Nacht. V. 27 beschreibt die Lichtseite an der Erscheinung des Messias, sein Heilswirken, seine neue Bundestsiftung. Dem gegenüber kann nun freilich nicht unmittelbar ein entsprechendes Licht auf Stadt und Heiligtum fallen, sondern es muss der über denselben fortdauernde Fluch hervorgehoben werden ("es wird über das Verwüstete triefen"). Und um dies gehörig zu motivieren, werden dem segensreichen Wirken des Messias, das vielen Einzelnen zugute kommt, noch einmal die Sünden des Volks im Ganzen gegenübergestellt ("ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln"). Aber doch kann auch hier der Engel wenigstens darauf hindeuten, dass diese Nacht des Gerichtes ein Ende nehmen ("und bis zur beschlossenen Vollendung") und nach derselben dem Volke Gottes ein neuer Morgen tagen wird.

Überblicken wir nun zum Schluss noch einmal in Kürze die ganze Weissagung, so hat der Prophet freilich für die nahe Zukunft, welcher er in seinem Gebet zunächst fürbittend gedachte, einen geringen Trost erhalten: zwar wird Jerusalem wieder gebaut und das Volk darf aus dem Exil zurückkehren, aber diese Wiederherstellung ist nur eine vorläufige, es folgen noch einige kümmerliche Jahrhunderte. Für die entferntere Zukunft empfängt Daniel einerseits tröstlichen Aufschluss über die Erscheinung des Messias, welche Vielen das volle Heil des neuen Bundes bringt, andererseits aber auch sehr betrübenden über die Zerstörung von Stadt und Heiligtum, weil Israel seinen Messias verwirft. Die Wiederherstellung Jerusalems wird also nicht von sehr langer Dauer sein, vielmehr isst ein neues Exil zu erwarten. Doch für noch fernere Zeit lässt ihn der Engel nicht ohne einen Strahl der Hoffnung in Bezug auf Israel und Jerusalem. So fehlt es dem Propheten doch nicht an dem Trost, den er in seinem Gebet über die Zukunft seines Volkes gesucht hatte. Gabriel beginnt V. 24 mit überaus köstlichen Verheißungen, und auch hinter den finsteren Nachtwolken, die dann aufsteigen, leuchtet noch ein ahnungsvoller, seliger Lichtschimmer.

II. Die chronologischen Bestimmungen

1. Der Beginn der siebzig Wochen

Dies ist der Gedankengang unserer Weissagung. Derselbe erscheint in seinen Hauptmomenten ebenso großartig wie einfach. Es fügen sich die Worte des Engels so schön und natürlich teils mit dem Gebete Daniels, teils untereinander zusammen, dass wir an dieser Auffassung derselben festzuhalten hätte, auch wenn die Berechnung der 70 Jahrwochen oder 490 Jahre im einzelnen größere Schwierigkeiten darböte, als dies wirklich der Fall ist. Denn das ist ja das Eigentümliche unserer Weissagung; dass sie auch eine chronologische Seite hat, welche jetzt, nachdem uns das allgemeine Verständnis der Engelsworte schon eröffnet ist noch eine besondere Betrachtung und Berechnung erheischt. Indem wir nun zu dieser übergehen, handelt e sich natürlich vor allem um den Zeitpunkt, von welchem an die 490 Jahre zu zählen sind. Als solcher ist V. 25 nicht, wie man zunächst erwarten könnte, der Schlusspunkt der 70 Jahre des Jeremia, nicht die Rückkehr des Volkes aus dem Exil, auch nicht etwa der Neubau des Heiligtums bezeichnet, sondern von "den Trümmern Jerusalems" ging ja das ganze Kaptitel aus (V. 2), um ihre Wiederherstellung hatte Daniel besonders angelegentlich gefleht (V. 16.18.19) - "der Ausgang des Wortes, Jerusalem wieder herzustellen und zu bauen." Wir sehen hiernach zuerst, was wir unter dem Ausgang des Wortes, und hernach, was wir unter der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems zu verstehen haben.

Wenn der Engel MoZA DaBhaR sagt, so ist hierbei allerdings mit fast sämtlichen neueren Auslegern nach Analogie des יָצָא דָבָר V. 23 an das Ausgehen eines göttlichen Ratschlusses zu denken; doch nicht, wie die meisten wollen, an ein Prophetenwort. Dagegen spricht gerade die Parallele von V. 23. Denn hier ist ja nicht eine einem Propheten zuteil gewordene Offenbarung gemeint, sondern ein von Gott zunächst nur den Engeln kundgetaner Ratschluss; die Engel haben dann ins Werk zu setzen, was hiernach geschehen muss: so hat in diesem Fall Gabriel dem Daniel den Ratschluss Gottes zu verkünden. Ebenso ist nun also auch V. 25 zunächst an einen zukünftigen Ratschluss Gottes zu denken. Dieser muss aber natürlich seine geschichtliche, bemerkbare Ausführung finden; denn nur ein historisches Faktum bildet einen deutlichen Termin. Der Engel bezeichnet - so können wir die Sache auch einfach ausdrücken - von seinem himmlischen Standpunkt aus, auf welchen er in die göttliche Werkstatt der Geschichte, in die göttliche Weltregierung hineinsieht, zu deren Organen er selbst gehört, die historischen Ereignisse als göttliche Ratschlüsse. Vgl. Dan 4:14: Solches ist im Rat der Wächter beschlossen und im Gespräch der Heiligen beratschlagt, auf dass die Lebendigen erkennen, dass der höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche und gibts sie, wem er will.

Wie dann die göttlichen Ratschlüsse durch die Engel in der Geschichte zur Vollführung kommen, darin eröffnet das 10. Kapitel höchst merkwürdige Blicke. Die Enthüllungen, die wir ja bereits näher kennen, geben und auch für unseren Fall das nötige Licht. Sehen wir uns nämlich nach einer geschichtlichen Tatsache um, durch welche der göttliche Ratschluss der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems vollstreckt wurde, so werden wir hier von selbst an den persischen Hof geführt; denn unter der Hoheit dieser zweiten Weltmonarchie stand ja nunmehr Israel für ein paar Jahrhunderte. Von da ging durch Kyrus die Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil und zum Tempelbau aus, welche Daniel noch erlebte; von da musste auch die Erlaubnis zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems gegeben werden. Jener Engel, von dem wir oben gehört haben, dass er auf Gottes Befehl (Dan 10:12.13) einen siegreichen Kampf mit dem Engel Persiens führte und die Sache Israels bei den persischen Königen vertrat, muss also auf einen neuen Befehlt oder Ratschluss Gottes hin, der eben unter dem DaBhaR Dan 9:25 gemeint ist, auch die Erlaubnis, zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems beim Perserkönig ausgewirkt haben. Wenn daher die älteren Ausleger bei "Ausgang des Wortes" an ein persisches Königsedikt dachten, so waren sie zwar nicht sprachlich, aber sachlich ganz in ihrem Recht. Auch in sprachlicher Hinsicht ist indes die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks zu beachten, welcher an sich vom Ausgehen des königlichen Edikts ebenso wie von dem eines göttlichen Ratschlusses verstanden werden kann. Est 1:19 heißt es ganz mit denselben Worten יֵצֵא דְבַר־מַלְכוּת Der von Gott ausgegangene Befehl vollzieht sich in einem vom König ausgehenden Befehl, vgl. Es 6:14: "Sie bauten nach dem Befehl de Gottes Israels und nach dem Befehl des Königs von Persien."

Soviel über den "Ausgang des Wortes". Nun aber fragt sich fürs Andere, wo und wann wir diesen Befehl zu suchen haben, von welchem persischen König das Edikt zur Wiederherstellung Jerusalems gegeben wurde. Daher müssen uns die Bücher Esra und Nehemia Aufschluss geben. Denn sie erzählen die nachexelische Geschichte des Bundesvolkes. Wir haben sie also für unseren Zweck etwas genauer ins Auge gefasst.

Wie Esra und Nehemia persönlich in Jerusalem zusammenwirkten, so machen auch ihre Bücher dem Inhalt nach ein Ganzes aus und "wurden von hebräischen und griechischen Juden als ein Buch oder als zwei Teile desselben Buches betrachtet." (D e W e t t e ; Einl. ins A. T. S 195). Treten wir nun von unserm danielischen Kapitel aus an dieses Buch heran, so weht uns gleich aus dem ersten Vers Heimatluft entgegen, indem hier an dieselbe Weissagung Jeremias angeknüpft wird, wie Dan 9. Denn so lesen wir Es 1:1 (vgl. 2Chr 36:22): Und im ersten Jahre Kores, des Königs von Persien, damit das Wort Jehovas durch den Mund Jeremias vollendet würde, erweckte Jehova den Geist Kores, des Königs usw. Beide Bücher, das des Esra wie das des Nehemia, zerfallen nun ihrem Inhalt nach in zwei Teile. Der erste Teil des Esra (Es 1-6) schildert die Rückkehr aus dem Exil unter Josua und Serubabel und den Tempelbau mit seinen Hindernissen durch die feindseligen Nachbarn und mit seinen Förderungen durch die Propheten Haggai und Sacharja (Esr 5:1.2; Esr 6:14). bis zur Vollendung im sechsten Jahr des Darius Jystaspis, 516 v. Chr. (Esr 6:15). Von hier aus ist ein langer Zeitraum übersprungen, und mit der allgemeinen Formel "und nach diesen Dingen" macht der zweite Teil des Buches (Esr 7-10) den Übergang auf die Erzählung der Einwanderung Esras aus Persien nach Jerusalem im siebten Jahr des Artaxerxes Langhand, 458-457 v. Chr. (Es 7:1.7). Diese wird Kap 7 und 8 ausführlich beschrieben und dann Kap. 9 und 10. die Tätigkeit Esras geschildert, welche in der Reinigung und Wiederherstellung der heiligen Nationalität durch Entfernung der fremden Weiber bestand, während seine zahlreiche Begleitung (Kap 8) der schwachen Truppe frische Kräfte zuführte. Ohne einen Schluss bricht das Buch mit einem Verzeichnis derer, welche fremde Weiber genommen hatten, ab, und es reiht sich mit einer selbstständigen Überschrift das Buch Nehemias an. Dieses erzählt in seinem ersten Teil (Neh 1-7) die Einwanderung Nehemias im zwanzigten Jahr des Artaxerxes, 445-444 v. Chr., und seine Wirksamkeit in der Heimat, welche in dem Wiederaufbau der Stadt, zunächst ihrer Tore und Mauern, und in anderen daran sich schließenden nützlichen Einrichtungen bestand. Der zweite Teil des Buches (Neh 8-13) berichtet sodann über die gemeinsame Tätigkeit beider Gottesmänner, des Esra und Nehemia (Neh 8:1.9.13; Neh 12:26). wobei namentlich die Restauration des Gesetzes durch Esra als bedeutsam hervortritt. (Neh 8-10).

Dieser Überblick zeigt, dass in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt der erste Teil des Buches Esra für sich ein Ganzes bildet, während der zweite Teil desselben eng mit dem Buch Nehemia zusammenhängt und mit diesem sich zu einem historischen Gesamtbild abrundet. Es sind zwei Perioden der nachexilischen Geschichte, welche uns hier vorgeführt werden; was zwischen ihnen liegt, was nach ihnen folgt, hat keine theokratische Bedeutung und ist darum nicht Gegenstand der heiligen Geschichtsschreibung. Nur das buch Ester hat noch Aufnahme in den Kanon gefunden; denn es zeichnet den Zustand der Exilierten in Persien und bildet so ein Seitenstück, eine Ergänzung zu den Erzählungen Esras udn Nehemias aus dem heiligen Lande, indem es die andere, am Schauplatz des Weltreiches sich begebende Seite der nachexilischen Geschichte des Gottesvolkes charakterisiert. Jene beiden Perioden, um die es sich für uns handelt, werden schon im Buche Nehemias selbst (Neh 12:47 vgl. Dan 9:26) unterschieden und mit einander zusammengestellt. Die erste ist die Zeit des Fürsten Serubabel und des Hohenpriesters Josua, denen die Propheten Haggai und Sacharja zur Seite standen.

Esra u. Nehemia

Die zweite ist die Zeit des Priesters Esra und des Statthalters Nehemia, denen der Prophet Maleachi zur Seite steht (Vgl. H ä v e r n i c k, Einl. ins A. T., II, 2, S 431-434). In beiden Perioden finden wir also königliche, priesterliche und prophetische Männer an der Spitze des Volkes Gottes. Die erste können wir auch als die Periode des Tempelbaus, die zweite als die der Wiederherstellung des Volkes und der Erbauung der Stadt bezeichnen, die erste als die Zeit der religiösen, die zweite zugleich als die Zeit der politischen Restauration. Die erste umfasst einen Zeitraum von 20 Jahren, 536-516 v. Chr.; wie lang die zweite gedauert habe, lässt sich nicht mit voller Sicherheit bestimmen, da weder der Schluss des Buches Nehemias, noch der Prophet Maleachi uns nähere chronologische Daten an die Hand geben. Doch ist man im Allgemeinen darüber einverstanden, dass dieselbe ungefähr ein halbes Jahrhundert umfassste. Sie beginnt also mit Esras Einwanderung 457 v. Chr. und deutlich können wir zunächst die ersten 25 Jahre verfolgen, indem Nehemia 13 Jahre nach Esra ins heilige Land kam und 12 Jahre daselbst Statthalter blieb (Neh 5:14.; Neh 13:6). Dann (432 v. Chr.) reiste er wieder an den persischen Hof, kehrte aber nach Ablauf einer unbestimmten Zeit (לְקֵץ יָמִים , was einige unberechtigt als Ende des Jahres nehmen) ins Vaterland zurück. P r i d e a u r und W i n e r (bibl. Realwörterbuch, 3. Aufl., II, S 147) machen wahrscheinlich, dass diese Rückkehr Nehemias nicht vor dem elften Jahr des Darius Rothus (414-13 v. Chr.) erfolgt sei. Wie lange derselbe dann noch in Palästina lebte und wirkte, ist nicht gesagt; wenn er aber auch, wie Josephus berichtet, ein hohes Alter erreichte, so können es doch der Natur der Sache nach nicht mehr viele Jahre gewesen sein. Es ist also jedenfalls anzunehmen, dass im letzten Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts vor Christo die Offenbarung des Alten Bundes mit dem Ableben Nehemias und Maleachi verstummte.

Schon Josephus spricht das Bewusstsein aus, dass diese zweite, durch die Gunst des Atarxerxes herbeigeführte Restaurationsperiode das letzte Abendrot des alttestamentlichen Tages war. Er sagt in einer bekannten Stelle (c. Apion. 1:8): "Seit Artaxerxes bis auf unsere Zeit ist allerlei geschrieben worden, es wird diesen Schriften aber nicht die gleiche religiöse Autorität beigelegt, wie den früheren, weil die sichere Reihenfolge er Propheten nicht mehr vorhanden (die Offenbarungskette abgebrochen) ist." Es ist gewiss charakteristisch für das Volk Gottes, dass die erste Periode der Restauration nach dem Exil ganz in der Wiedererbauung des Tempels aufging: zuerst musste Gott gegeben werden, was Gottes ist, dann erst dem Volke, was des Volkes ist. Eben deswegen war aber jene erste Periode unter Josua und Serubabel noch lange nicht die vollständige Wiederherstellung. Nur eine kleine Kolonie von etwa 50 000 Juden siedelte sich mit diesen beiden Männern in Palästina an (Esr 2:64f.); auch diese aber vermischten sich wieder mit den umwohnenden Heiden und führten eine klägliche, wie e scheint, immer tiefer sinkende Existenz "in großem Elend und in Schmach" (Neh 1:3, Esr 9:6-15), zumal während jener sechs von Esra mit Stillschweigen übergangenen Jahrzehnte. Darum tat nun eine zweite, durchgreifende, das ganze Volksleben echt israelitisch gestaltende Restauration not, und zu dieser berief Gott den Esra und Nehemia. Nicht bloß die Herstellung des Tempels, sondern auch der heiligen Nationalität, des Gesetzes und der heiligen Stadt war erforderlich, wenn Israel wieder zumGottesvolk im vollen Sinne werden sollte. So lange eines dieser Elemente fehlt, war die Existenz desselben noch keine gesicherte und lebensfähige. Esra, dem Priester, fiel hierbei mehr die innere Seite der Restauration zu, die Reinigung der Nation von heidnischem Wesen und die Wiedereinführung des Gesetzes; Nehemia, dem königlichen Mundschenk und Statthalter, die äußere Seite, der Wiederaufbau der Stadt und die politischen Einrichtungen. Erst mit Esra beginnt daher eigentlich das volle Wiederaufleben Israels in der nachexilischen Zeit, und das Bewusstsein hiervon hat sich auch dem Volke sehr tief eingeprägt, denn Esra, der Wiederhersteller der Nation und des Gesetzes wird von den Juden bekanntlich als ein zweiter Mose gefeiert. Mose hat zum ersten, Esra zum zweiten mal die Existenz des heiligen Volkes begründet.

Nun entsteht die Frage, oder vielmehr ist es nach dem bisherigen eigentlich keine Frage mehr, in welcher der beiden Perioden nachexilischer, heiligen Geschichte wir den Anfangspunkt der 70 Wochen Daniels zu suchen haben. Wenn es V. 24 heißt: Siebzig Wochen sind abgeschnitten über dein Volk und deine heilige Stadt, und V. 25 der Anfangstermin näher so bestimmt ist: Vom Ausgang des Wortes Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, so kann man kaum deutlicher auf die zweite Periode hinweisen. Und wenn vorher C a l v i n, O e c o l a m p a d i u s , K l e i n e r t, bei welchem in Hinsicht auf die persischen Könige eine bedeutende Verwirrung herrscht, B e n g e l, der nach seiner apokalyptischen Zeitrechnung eine Jahrwoche = 7 59/63 Jahre nimmt, u. a. das Edikt aus dem zweiten Jahr des Darius Hystaspis (520 v. Chr., s. Esr 6:1-12) zum Anfangstermin der siebzig Wochen machen: so dürfen wir diese Meinungen als durch unsere bisherige Entwicklung als beseitig ansehen. Das Edikt des Darius ist ohnedies nicht von Epoche machender Bedeutung; dass aber auch das des Kyrus nicht gemeint sei, darüber gibt uns das Buch Daniels selbst noch einen Hinweis. Denn wenn wir den Propheten im dritten Jahre dieses Königs in tiefer Trauer über sein Volk finden, (Dan 10:1-3), so sehen wir daraus, wie wenig die durch das Edikt des ersten Jahres bewirkte Restauration Israels auch nur denjenigen Hoffnungen entsprach, welche durch die Offenbarung des 9. Kap. für die Zeit nach dem Exil noch übrig geblieben waren. Beide Edikte, das des Kyrus und das des Darius, beziehen sich lediglich auf den Tempelbau; und obwohl Jerusalem erwähnt wird (Esr 1:2ff: Esr 6:3.5.9.12 u. ä.) und sich der Natur der Sache nach schon um des Tempelbaus willen auch Häuser dort befinden mussten (vgl. Hat 1:4), so begegnet uns doch von einer königlichen Erlaubnis zu Wiederherstellung des Volks und Wiedererbauung der Stadt keine Spur. Vielmehr wird diese noch von demselben Artaxerxes Langhand, der später die Erlaubnis dazu erteilte, infolge der Verleumdungen der Samariter ausdrücklich verboten (Esr 4:7-22); denn nicht Smerdis, sondern Artaxerxes haben wir wohl auch hier, wie überall in den Büchern Esra und Nehemia, unter Arathasastha zu verstehen. (Vgl. S c h u l z in den Stud. und Krit. 1853, III, S. 686-698). Bedenken wir, welche Anstrengungen z. B. die Belagerung Jerusalems Nebukadnezar und später wieder Titus kostete: so erkennt man eine Politik, wie wir sie in dem angeführten Edikt des Artaxerxes finden; man erkennt, dass die persischen Könige zögerten, den Juden, die im Geruch des "Abfalls und der Meuterei" standen, einen so festen Stützpunkt zu gewähren. Und darum finden wir denn die Stadt auch noch zu Esras und Nehemias Zeiten unbebaut (Esr 9:8; Esr 10:13; Neh 1:3; Neh 2:3.5; Neh 3:34; Neh 4:1; Neh 7:4). Man wollte den Juden wohl eine religiöse, aber noch keine politische Restauration gestatten. (B a i h i n g e r s Aufstellungen über einen Bau der Mauern Jerusalems durch Mordechai und eine Zerstörung derselben durch Megabyzus [Stud. und Krit. 1854; I, S. 125:ff.] sind Hypothesen.)

Erst im siebten Jahr des Artaxerxes Langhand (Esr 7:1.7) nahm die Sache Israels ein günstigere Wendung und einen bedeutenderen Aufschwung. Da muss das Wort zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems von Gott ausgegangen, da muss infolge desselben jener Engel einen neuen Sieg über den der persischen Monarchie vorstehenden Engel davongetragen und den Vorrang bei dem Weltherrscher gewonnen haben. Artaxerxes zeigt sich von da an dem Bundesvolk ganz besonders freundlich und gestattet ihm weit mehr als selbst ein Kyrus und Darius. Er lässt in seinem siebten Jahr den Esra mit sehr ausgedehnten Vollmachten (Esr 7:11-28; namentlich V. 18.25f.) in seinem zwanzigsten Jahr den Nehemia mit der ausdrücklichen Erlaubnis zum Wiederaufbau der Stadt (Neh 2) nach Jerusalem ziehen. Es kann sich also nur noch darum handeln, welches von diesen beiden Jahren, ob die Ankunft Esras oder die Ankunft Nehemias in Jerusalem als Anfangstermin der siebzig Wochen zu betrachten sei. Für das zwanzigste Jahr des Artaxerxes haben sich in neuerer Zeit noch dem Vorgang einiger Kirchenväter H e n g s t e n b e r g und H ä v e r n i c k entschieden, und ihre Ansicht ist von Seiten der Offenbarungsgläubigen ziemlich allgemein angenommen worden, auch in mehrere populäre Schriftauslegungen übergegangen. Vgl. S a c k , Apologetik, 2. Ausg., S. 335; H e i m und Wilh. H o f f m a n n, die großen Propheten, S 864ff.; Handbuch der Bibelerklärung, herausgeg. von C a l w e r Verlagsverein, 1. Bd. S. 891; das Alte Test. von D. von Gerlach, fortgesetzt von S c h m i e d e r, IV, 2, S. 66. Das siebte Jahr des Artaxerxes dagegen nehmen als Ausgangspunkt für die Zählung der siebzig Wochen C a l o v, N e w t o n, G e i e r, B u d d e u s, P r i d e a u x, S o s t m a n n, D e x l i n g, P r e i s w e r k (Morgenl. 1838, S. 257ff.), G a u s s e n (III, S 340). u. a. Nach unserer ganzen bisherigen Entwicklung können wir diese letztere Ansicht allein für die richtige halten.

Wir haben uns überzeugt, dass die Zeit des Esra und Nehemia eine zusammengehörige Periode des Segens für Israel bildet, und es wäre an sich schon auffallend, wenn nicht der grundlegende Anfang dieser Periode gemeint wäre, sondern ein zweiter Termin, von welchem nichts wesentlich Neues, sondern nur eine weitere Entwicklung des schon von Esra begonnenen Werkes datiert. Diese sekundäre Bedeutung des auf Nehemia bezogenen Edikts deutet auch die heilige Erzählung selber dadurch an, dass sie dasselbe garnicht mitteilt (Neh 2:7.8), während Esras Vollmacht Esr 7 ausführlich zu lesen ist. Dazu kommt, dass, wenn wir auf die Weltmacht sehen, von der die Vollstreckung des göttlichen Ratschlusses ihren irdisch-geschichtlichen Ausgang nehmen mussten derselbe König Artaxerxes ist es, der den Esra wie den Nehemia entlässt. Sein Herz ist also schon in seinem siebten Jahr für Israel günstig gestimmt worden; der Engel und also die guten, göttlichen Einflüsse haben damals schon bei ihm die Oberhand gewonnen. Das Bewusstsein hiervon spricht Esra selber deutlich aus, wenn er nach Anführung des königlichen Edikts Esr 7:27.28 fortfährt: Gepriesen sei Jehova, der Gott unserer Väter, der also dem König ins Herz gegeben, zu verherrlichen das Haus Jehovas in Jerusalem, und der mir Gnade zugewandt vor dem König, seinen Ratgebern und allem mächtigen Fürsten des Königs! Die göttliche Umstimmung der Weltmacht zugunsten des Gottesreiches ist hier klar und bestimmt ausgesagt. Esra und Nehemia handeln auch ganz gleichermaßen in dem Bewusstsein, dass sie als Vollstrecker eines göttlichen Ratschlusses unter Gottes besonderer Leitung und Obhut stehen; daher die schöne, in den Tagebüchern beider öfters wiederkehrende Redeweise: vermöge der gütigen, über mir waltenden Hand Jehovas, meines Gottes (Esr 7:6.9.28; Es 8:18.22; Neh 2:8.18).

Auftrag zur Erbauung Jerusalems

Doch alle diese Gründe würden natürlich ihr Gewicht verlieren, wenn uns die Worte des Engels Dan 9:24.25 nötigten, als Ausgangspunkt der Berechnung die ausdrückliche Erlaubnis zum Wiederaufbau der Stadt, wie sie dem Nehemia gegeben wurde, anzunehmen. Das ist aber nicht der Fall. Weder nötigen die Worte, bloß an den äußerlichen Stadtbau zu denken, noch hat auch erst Nehemia die Erlaubnis hierzu empfangen. Die Vollmacht Esras ist, um mit den letzteren Punkt zu beginnen, eine so ausgedehnte, dass darin auch die Wiedererbauung der Stadt wesentlich mit eingeschlossen ist. Das spricht er selbst klar und einfach aus, wenn er in seinem Bußgebet (Esr 9:9) sagt: Unser Gott wandte uns Gnade zu vor den Königen von Persien, dass sie uns aufleben lassen, um zu erhöhen das Haus unseres Gottes und herzustellen seine (unseres Gottes) Trümmer, und dass sie uns Mauern geben in Juda und Jerusalem ( גָדֵר Ummauerung, nicht bloß Erbauung, sondern sogar Befestigung der Stadt). Esra schreibt hier ausdrücklich schon die Vollmacht zu dem zu, was dann Nehemia auf eine neue Erlaubnis des Königs hin ausgeführt hat. Die ganze Erzählung, wie diese letztere Erlaubnis zustande kam (Neh 2:1ff.) ist, auch so angetan, dass wir sehen, es handelt sich jetzt nicht mehr um etwas so Neues und Großes, wie bei Esra, nicht mehr eigentlich um die Sache, sondern hauptsächlich um die Person. Nehemia ist Mundschenk des Königs und bedarf also einer Entlassung von seinem Posten, welche ihm der König nebst seiner Gemahlin einmal bei Tafel huldvoll erteilt. Da ist also nicht mehr, wie bei Esra, von einer Umstimmung "des Königs, seiner Ratgeber und aller mächtigen Fürsten des Königs" die Rede, es ist kein offizieller Regierungsakt, sondern ein persönlicher Gnadenakt des Artaxerxes. So sehr tritt die Sendung Nehemias an Bedeutung hinter der Esras zurück.

Sodann aber gehen auch die Worte des Engels nicht bloß auf den äußerlichen Stadtbau. Dies ist an sich schon unwahrscheinlich; das Ereignis, welches den Anfangstermin der siebzig Wochen bilden soll, darf doch wohl kein nur äußerliches, also mehr oder weniger zufälliges sein, es muss eine tiefere Bedeutung haben. Die Worte des Engels lauten aber auch V. 2 4 nicht bloß: Siebzig Wochen sind abgeschnitten über deine heilige Stadt, sondern; über dein Volk und deine heilige Stadt. Die Erbauung der Stadt ist also in einen tieferen Zusammenhang mit der Wiederherstellung des Volkes hineingestellt, und da wissen wir nun aus dem Obigen, dass jene erstere allerdings Sache des Nehemia, diese letzteres aber Esras Aufgabe war. Wenn sodann V. 25 als Anfangstermin näher bezeichnet ist der Ratschluss zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems, so haben wir bei diesem letzteren Wort nicht bloß an Tore und Mauern, Türme und Häuser zu denken, sondern an die ganze ?? und civitas, und Jerusalem heißt hier, was im vorhergehenden Vers Volk und Stadt geheißen hat. Und wenn hierbei zwei Verbe stehen, wiederherstellen und bauen, so können wir dieselben ähnlich verteilen, wie vorhin Volk und Stadt: die Wiederherstellung, die innere Erneuerung Jerusalems war Esras, die "Erbauung mit Straßen und Graben", die äußere Herrichtung war Nehemias Aufgabe. Dass Jerusalem hier in einem tieferen und volleren Sinn genommen wird, hat bekanntlich den ganzen prophetischen Sprachgebrauch für sich, und erweist sich nach demselben nicht bloß als möglich, sondern als notwendig. Ist es doch schon auf weltlichem Gebiet so, dass in der Hauptstadt eines Landes sich das ganze Volkswesen darstellt; wir brauchen nur an Ninive, Babel, Rom, in neueren Zeiten Paris zu erinnern. Ist die Hauptstadt erobert oder zerstört, so ist auch das Volk geknickt.

Jerusalem, das Zentrum des Volkes

Von Jerusalem gilt dies aber in noch viel höherem Sinn, weil es nicht nur politischer Mittelpunkt, sondern durch seinen Tempel "des großen Königs Stadt" war (Mt 5:35), der Wohnsitz Jehovas, an welchen sich alles das knüpfte, was Israel zu diesem einzigen und auserwählten Volk machte. Daher wird an unserer Stelle von dem Engel (V. 26.27), wie später von Jesu (Mt 24) die ganze Weissagung über Israel zusammengefasst in eine Weissagung über Jerusalem. Das Gericht über das Volk ist Gericht über die Stadt; der Tod besteht im Sterben des Leibes. Die Stadt aber ist der Leib der Gemeinde, die Gemeinde die Seele der Stadt, so dass in anschaulicher Weise Jerusalem auch beides mit einander, Gemeinde und Stadt, bezeichnet. Durch die ganze Hl. Schrift geht dieser Zusammenhang der Menschen und ihres Wohnortes oder in letzter Instanz des Geistes und der Natur. Vgl. 1Mo 6:11-13; 3Mo 18:24ff.; 5Mo 28:15ff.. In der ersten dieser Stellen, wo es sich noch von der ganzen Menschheit handelt, ist es auch die ganze Erde, in den beiden andern, wo nur noch Israel im Licht der Offenbarung steht, ist es das heilige Land, auf welches Gottes Wort, Drohung oder Verheißung geht. Seit David tritt nun Zion und Jerusalem aus dem Lande besonders hervor, wie aus dem Volke Davids Haus s. Ps 78:68ff.; und das geht durch die ganze Prophetie hindurch. In diesem Sinne finden wir die Stadt Gottes als die Erscheinung, als die Repräsentation der Gemeinde schon in den Psalmen (Ps 46:5; Ps 48:2ff; Ps 87:2.3; vgl. V. 5). Unter den Propheten begegnet uns in Jesaja, um bei ihm stehen zu bleiben, gleich in seinem ersten Kapitel die gleiche Anschauung: Wie ist sie zur Hure geworden, die fromme Stadt (Jes 1:21). Und das 60. und 62. Kapitel schildern das neue Jerusalem mit seinen Toren und Mauern (Jes 60:11.18; Jes 62:6.10) in einer Weise, dass wir sehen, die Stadt ist zugleich ein belebtes Wesen, der pneumatische Gottesbau, das wiedergebrachte Volk. Das reicht bis in die Apokalypse hinein, wo die ehebrecherische Kirche als identisch mit der Stadt Babel, die verklärte Kirche als identisch mit dem neuen Jerusalem erscheint. Vergl. D e l i t z s c h, Hoheslied, S. 231f. Wie es sich nun dort Offb 21:22, um das Ziel der neutestamentlichen Geschichte handelt, so hier an unserer Stelle bei der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems, um die letzte, abschließende Epoche der alttestamentlichen. Wie Jerusalem dort die verklärte Gemeinde des Neuen Bundes mit ihrem verklärten Naturorganismus ist, so ist hier die Geminde des alten Bundesmit ihrer Organisation, Israel als Theopolis als civitas Dei mit seinem Tempel, seinen äußeren gesetzlichen Institutionen und seiner heiligen Stadt. Die neutestamentliche Heilsgeschichte findet ihre Abschluss in der Erscheinung des himmlischen Jerusalems, die alttestamentliche in der Wiederherstellung des irdischen, welche als ein, wenn auch kümmerlich geschmückte Braut ihres Bräutigams, des Messias, harren soll.

Nach diesem allem können wir nichts anderes als ein zu äußerliche Auffassung der auf die Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems lautenden Engelworte, eine Verkennung des Wesentlichen in ihnen, wie in der nachexilischen Geschichte, darin sehen, dass Hengstenberg und an. die siebzig Wochen erst mit der Rückkehr Nehemias beginnen lassen; und es bedarf also nunmehr als das allseitig begründete Resultat unserer bisherigen Untersuchung ausgesprochen werden, dass die Rückkehr Esras nach Jerusalem 457 v. Chr als der Anfangspunkt der siebzig Wochen zu betrachten ist. In ihr schon stellt sich die erneute und erhöhte Gunst der persischen Weltmacht für Israel dar; mit ihr beginnt der neue Aufschwung Jerusalems. Die äußere Erbauung der Stadt verhält sich zu diesem Anfangstermin der siebzig Jahrwochen Daniels ebenso, wie die äußerliche Zerstörung der Stadt zum Anfangstermin der denselben zugrunde liegenden siebzig Jahre Jeremias. Diese beginnen schon im Jahr 606 v.Chr. also 18 Jahre vor Jerusalems Zerstörung, weil da schon das Reich Juda unter babylonische Botmäßigkeit geriet, weil also da schon die selbstständige Theokratie zu existieren aufhörte. So beginnen die siebzig Wochen schon 13 Jahre vor dem Neubau der Stadt, weil da schon die Wiederherstellung der Theokratie begann. Gerade bei unserer Auffassung also wird der Parallelismus zwischen Vorbild und Gegenbild erst ein vollständiger. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich dann auch wieder am Schluss der siebzig Wochen. Diese reichen bis ins Jahr 33 n. Chr.; von da an war es mit Israel schon zu Ende, während die Zerstörung Jerusalems durch die Römer erst ins Jahr 70 fällt. Es tritt und also hier ein allgemeines Gesetz der göttlichen Welt- und Reichsregierung entgegen,ein Gesetz, das wir schon im Paradies seine Wirksamkeit beginnen sehen. Adam und Eva verfielen dem Tode gleich am Tage der ersten Sünde (1Mo 2:17), und doch starben sie erst Jahrhunderte danach. Ephraim verschuldete sich durch Baal und starb; und nun fahren sie fort zu sündigen und machen sich Bilder (vgl. S c h m i e d e r zu dieser Stelle) Ebenso haben wir oben gesehen, dass Dan 11:2 das Perserreich von Xerxes an, unter dem es von Griechenland überwunden wurde, als tot betrachtet und nicht weiter berücksichtigt wird, obwohl es noch lange weiter vegetierte. Aus demselben Grunde lebt Jesaja im zweiten Teil seines Buches schon ganz im Exil, obwohl dasselbe äußerlich noch mehr als hundert Jahre entfernt war: die Gräuel Israels waren selbst schon die Verwüstung, die Sünde ist (Mt 8:22) selbst schon der Tod. Das ist der göttliche Wesensblick, der die Dinge wirklich durchschaut, ihnen ins Herz hineinschaut, und von welchem es daher heißt: Es geht nicht wie ein Mensch sieht; ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an (1Sam 16:7).

Werfen wir nun von hier aus sogleich einen Blick auf das Ende der siebzig Wochen, um uns von der Erfüllung der Weissagung und somit von der Richtigkeit unserer Auffassung zu überzeugen. so könnte das Eintreffen der Rechnung nicht schöner sein. Die 490 Jahre reichen also bis ins Jahr 33 n. Chr. , und über diesen Schlusstermin werden wir bald Näheres hören. Den festen chronlogischen Anhaltspunkt bildet der Tod des Messias, der, wie oben vorläufig gezeigt wurde, in die Mitte der letzten Woche, also 3 1/2 Jahre vor den Endpunkt der ganzen Zeit mithin ins Jahr 30 n. Chr. fällt. In diesem Jahr wurde aber nach den besten chronologischen Forschungen und der am allgemeinsten anerkannten Berechnung, in welcher z. B. B e n g e l und W i e s e l e r zusammentreffen, Jesus wirklich gekreuzigt. Vgl. Wieselers chronologische Synopse, S. 485f.. C a l v i n hat also recht, wenn er bemerkt: "Wo Daniel die Jahre bis zur Erscheinung Christi zählt, wie klar und fest steht dies Zeugnis, dass wir dem Satan und allem Hohn der Gottlosen entgegenhalten dürfen, wenn e anders gewiss ist, dass das Buch Daniels in der Menschen Händen war, bevor Christus erschien. Die ungöttlich Denkenden werden sich endlich überzeugen lassen müssen, dass Christus der wahrhaftige Erlöser ist, welchen Gott von Anbeginn der Welt verheißen hatte, weil er ihn nicht geoffenbart werden ließ ohne jenen zuverlässigen Beweis, zu welchem alle Mathematiker keinen ähnlichen aufzuweisen haben." Wir erinnern uns hier an das in der Einleitung angeführte Wort N e w t o n s. Die ganze neuere Zeit hat schwerlich scharfsinnige Männer hervorgebracht, als den Genfer Reformator und den englischen Mathematiker: man sieht, was ihnen Dan 9 war.

H e n g s t e n b e r g musste, da er den Anfangstermin der siebzig Wochen erst ins zwanzigste Jahr des Artaxerxes setzt, die herrschende Chronologie anfechten und sucht (Christol. II, S 542ff.) nach dem Vorgang von Uscher, Vitringa, Krüger mit viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit nachzuweisen, dass der Regierungsantritt dieses Königs um etwa 9 Jahre früher anzusetzen sei., als man gewöhnlich annimmt, wodurch er das Jahr 455 v. Chr. als Anfangstermin gewinnt. H o f m a n n (die 70 Jahre, S 91ff) und K l e i n e r t (Dorpater Beiträge II. , S. 1-232) haben die Hengstenberg'sche Untersuchung und ihr Resultat wohl siegreich bestritten; der Abhandlung des letzteren Gelehrten pflichten auch W i e s e l e r (die 70 Woch S. 79) und H i t z i g (S. 172) bei. Hengstenberg hat, so viel ich sehe, durch seine chronologischen Aufstellung der guten Sache seiner Gesamtauffassung mehr geschadet als genutzt. Es ist dadurch wenigstens in den Augen derer, welche die Geschichte der Auslegung und die große Übereinstimmung der früheren Exegeten in der Hauptsache nicht gehörig kennen und kennen wollen, der Schein entstanden, als bedürfe die kirchliche Erklärung allerlei künstlicher Stützen, und als sei mit der Beseitigung der Hengstenberg'schen Chronologie die ganze messianische Deutung von Dan 9 beseitigt.*)

*) E b r a r d (Offb S 74ff) ist noch kühner als Hengstenberg und erklärt 1. den Text selbst für korrupt, indem er an die Stelle der 7 Wochen (V. 25) 77 setzen will. Mit diesem Gewaltstreich ist 2. die noch misslichere Annahme verbunden, dass die Bestimmung "70 Wochen" (V. 24) nicht genau sei und daher V. 25 näher bestimmt, d. h. korrigiert werde. Es sollen nämlich von dem Edikt des Kyrus (538 v. Chr.) bis auf Christi Geburt, die Ebrard ins Jahr 6 v. Chr. setzt, 77 Jahrwochen und von dem eigentlichen Bau Jerusalems unter Nehemia (445 v. Chr.) bis auf Christi Geburt 62 Jahrwochen verfließen. Hierbei wird 3. die so offenkundige Zerlegung der 70 Wochen in 7+62+1 verkannt, ja als ein "Wahn" bezeichnet. 4. werden unnötiger und unwahrscheinlicherweise zwei einander größtenteils parallellaufende Reichen von Jahren statuiert, 5. wird nach dem Athnach (V. 25) willkürlich ein neuer Anfangstermin eingeschoben, 6. trifft die Rechnung erst nicht genau zu, 7. wird die letzte Woche ganz willkürlich gedeutet, indem ihre erste Hälfte die 30-40 Jahre zwischen Christi Tod und der römischen Zerstörung Jerusalems, die zweite aber die vielen Jahrhunderte von dieser Zerstörung an bis zu der auch für uns noch zukünftigen Bekehrung Israels umfassen soll.

Zeitpunkt der Erfüllung der Weissagung

Ich meinerseits muss indessen hier gestehen, dass mir, nachdem ich mich früher der unter zu besprechenden Hofmann'schen Auffassungsweise, wiewohl unter vielen Bedenken, zugeneigt hatte, die Hengstenberg'sche gleich bei der ersten näheren Bekanntschaft mit ihr so sehr den Eindruck der wesentlichen Wahrheit machte, dass ich erkannte, es handle sich nur um richtigere Fassung und tiefere Begründung dieser uralten Auslegung. Nüchtern und beherzigenswert sind indessen in unserer Frage die Worte P r e i s w e r k s (a.a.D. S. 286): "Bei den vielen Schwankenden in der alten Chronologie sollte man auf das Herausberechnen bis auf einzelne Jahr kein Gewicht legen, weil, wenn die Berechnung auch noch so gut gelungen ist, ein anderer nur ein anderes chronlogisches System zu befolgen braucht, so ist, scheinbar wenigstens, das alles wieder umgestoßen, was man so mühsam aufgebaut hatte. Gesteht man aber die Schwankungen in der alten Chronologie ein, zeigt man das ungefähre Zusammentreffen der geweissagten mit der wirklich verlaufenden Zeit, zeigt man, dass selbst ein scharfes Eintreffen auf die Jahreszahl möglicherweise stattgefunden, und dass wenigstens niemand das Gegenteil beweisen kann: so ist für die Rechtfertigung der alten Weissagung genug geschehen, und das, was geleistet ist, kann von andern nicht umgestoßen werden." Und S a c k s Bemerkung (Apologetik, S. 336): "Da die genauere Chronologie nicht Sache jedes Schriftstellers in Israel sein konnte: so blieb für die, welche nur im allgemeinen den Anfangspunkt als in die Zeit jener Befehle und Erlaubnisse der persischen Könige fallend erkannten, auch nur eine ungefähre, doch nicht sehr weite Auffassung der Zeit übrig, in welcher der Messias zu erwarten war. Aber auch dies war schon hinreichend zur Stärkung des Glaubens und Spannung der Erwartung; und in diesem Sinne muss man auch von den jetzigen Schriftlesern sagen, dass, wenn ihnen auch die Mittel und Resultat der gelehrten, chronologischen Forschung unzugänglich bleiben sie doch aus der einfachsten geschichtlichen Kenntnis heraus sich von der Erfüllung der Weissagung in Christus überzeugen können. Dass die gelehrte Forschung in der christlichen Kirche sich der Vollkommenheit des chronologischen Verständnisses mit allen Mitteln zu nähern suche, ist ganz in der Ordnung."

Können wir nach allem bisherigen über den Anfangstermin für die Berechnung der siebzig Wochen nicht zweifelsfrei sein: so hat es doch auf den ersten Anblick etwas Befremdendes, dass derselbe in einem Zeitpunkt gesucht werden muss, der einmal von dem Jahr, in welchem Daniel diese Offenbarung erhielt, noch fast ein Jahrhundert entfernt und der sodann auch für die später Lebenden noch nicht so deutlich von dem Engel bezeichnet ist, dass nicht in seiner Bestimmung von alters her hätten Schwankungen stattfinden können. In dieser Beziehung mögen folgende Bemerkungen zu weiterer Erhellung der Sache dienen.

Was Daniel selbst betrifft, so handelte es sich nicht darum, ihm für seine Person ganz genau das Jahr der Zukunft des Messias zu bestimmen. Das hätte für ihn, der jedenfalls Jahrhunderte zuvor lebte, kein Interesse gehabt. Er dient, wie wir schon oben gesehen haben, mit seiner prophetischen Gabe nicht sich selbst, sondern den kommenden Geschlechtern. Ihm sollte also eine genaue Berechnung der Zeit noch nicht möglich gemacht werden; der Zweck der Offenbarung ist vielmehr der, ihm nur im allgemeinen anzudeuten, dass das messianische Heil nicht so nahe sei, sondern noch ungefähr ein halbes Jahrtausend bis dahin verfließen müsse.

Aber auch dem Volk Israel, für welches das Wort Gabriels weiterhin bestimmt war, durfte die Berechnung der siebzig Wochen nicht so plan und offen hingelegt werden. Es gehört, wie wir wissen, zumWesen der Weissagung, dass sie die Zukunft sowohl verhüllt als auch enthüllt; sie soll und will keine Geschichte und noch weniger eine Chronologie sein, dass dieselben ebenso hell vor unsern Augen ständen, wie die Vergangenheit; sonst würde das ethische Verhältnis des Menschen zur Zukunft aufhören. Daher musste dem auch die gegenwärtige Offenbarung, so klar im allgemeinen darin ausgesprochen ist, dass von der Erlaubnis zur Wiederherstellung Jerusalems nach dem Exil bis auf die Zeit des Messias 490 Jahre verfließen sollen, doch wieder mit einer relativen Dunkelheit umgeben werden. Ja eben jene Klarheit forderte umso mehr eine entsprechende Verhüllung. Die Vollendung der ewigen Ratschlüsse Gottes sollte nicht ein bloßes Rechenexempel sein, das auch der profane Verstand an den Fingern abzählen könnte, sondern ein heiliges Rätsel, welches ein treues Achthaben auf die Wege Gottes und die Führungen seines Volkes erforderte: die Gottlosen merken nicht darauf, aber die Verständigen merken darauf (Dan 12:10). Eine solche relative Verhüllung der Wahrheit war nun in unserm Falle, bei der vollkommenen Deutlichkeit der chronologischen Bestimmungen an sich, nur dadurch erreichbar, dass der Anfangspunkt - und, wie wir sehen werden, auch der Endpunkt - der siebzig Wochen in eine gewisses Dunkel gehüllt und an Tatsachen geknüpft wurde, die sich bloß dem treuen Schriftforscher in ihrer ganzen Bedeutung darlegen.

So durften allerdings fromme Israeliten der nachexilischen Zeit, welche die Weissagung Daniels vor Augen hatten und nach ihrer Erfüllung sich sehnten, bei jedem einzelnen von jenen Edikten der persischen Könige sich ernstlich fragen, ob nicht etwas dies der vom Engel gemeinte Anfangspunkt der siebzig Wochen sei. Es galt für die in der Periode dieser Edikt lebenden "Verständigen", aufzumerken auf die Zeichen der Zeit, und für die später lebenden galt es, in der Schrift zu forschen, wann der vom Engel verkündigte Termin eingetreten sei. Die Gläubigen des Alten Bundes hatten in diesen offenbarungslosen Jahrhunderten eine ähnliche Aufgabe in Bezug auf die ihnen geltenden danielischen Weissagung, wie wir in Bezug auf die apokalyptischen (vgl. Mt 16:2.3; Mt 24:33). Und dass sie dieser Aufgabe redlich nachkamen, das zeigt die bekannte Erzählung des J o s e p h u s (Arch. Xi, 8,5), wonach Alexander dem Großen bei seiner Ankunft in Jerusalem die auf ihn bezüglichen Weissagungen Daniels vorgelegt wurden. (Über die Glaubwürdigkeit dieser, auch für die Echtheit unseres Buches zeugenden Erzählung vgl. H e n g s t e n b. Beitr. S 277ff. J. J. H e s s , a. a. D. Bd. 2; S 25ff.) Es war nun durch die Mehrzahl jener Edikte allerdings ein gewisser Spielraum gegeben, wie wir gesehen haben, dass auch die christlichen Ausleger es mit ihnen allen versucht haben, weswegen schon H e ß (Bd. 1, S. 196) bemerkt: "Mich dünkt, es nötige uns nichts, das, was der Engel sagt, nur von einem dieser Befehle zu verstehen, sondern es gehe auf den ganzen Zeitraum, binnen welchem solche Edikte bald gegeben, bald widerrufen bald erneuert wurden." Hier tritt dann die vorhin angeführte Bemerkung S a c k s ein, dass auch eine solche nur ungefähre Auffassung der Zeit schon hinreichend war zur Stärkung des Glaubens und Spannung der Erwartung. Und dass die Weissagung diesen ihren Zweck vollständig erreicht hat, dass zeigt die Geschichte.

Die Erwartung Israels

Denn es ist ja eine bekannte Tatsache, dass zur Zeit Jesu die messianische Erwartung eine weit verbreitete war, nicht nur unter den gläubigen Israeliten (Lk 2:25.26.28; Lk 23:51), sondern auch sonst unter Juden und Heiden, wie wir aus J o s e p h u s und den bekannten Stellen des S u e t o n und T a c i t u s wissen. Hierzu aber muss vorzüglich unsere Weissagung mitgewirkt haben. Denn dass man sich mit ihr damals unter den Juden viel beschäftigte und in ihr namentlich auch die römische Zerstörung Jerusalems geweissagt fand, geht außer Mt 24:15 aus mehreren Stellen des Josephus (vgl. oben S. 106) unzweideutig hervor. Nähere Nachweise hierüber geben H e n g s t e n b e r g (Beitr. S 265, Christol. S. 576); H ä v e r n i c k (S. 389ff.), und W i e s e l e r (die 70 Wochen, S. 148 ff.) Charakteristisch ist übrigens der Unterschied in jenen messianischen Erwartungen. Die Gläubigen hofften unserer Stelle gemäß auf den Trost Israels, nämlich die Erlösung in Jerusalem und das Heil, das da ist in Vergebung der Sünden (Lk 2:25.30.38; Lk 1:77); sie erkannten im Messias das Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt (Joh 1:29). Den andern, den fleischlich Gesinnten, sind die Augen verblendet, dass sie die inneren, wesentlichen Bedingungen des Heils nicht sehen, und voreilig sonstige messianische Weissagungen, wie Dan 2 und Dan 7 herbeiziehend, nur von politischer Weltherrschaft der Juden träumten. J o s e p h u s (bell Jud. VI, 5,4): Was sie zum Krieg ermunterte, war ein alter, in den heiligen Schriften gefundener Ausspruch, dass um jene Zeit einer aus ihrem Lande die Welt beherrschen werde. T a c i t u s (hist. V, 13).: Mehrere hatten die Überzeugung, es stehe in alten Priesterschriften, dass eben um diese Zeit (eo ipso tempre) der Orient sich mächtig erheben und Männer aus Judäa sich der Weltherrschaft bemächtigen würden. S u e t o n (Vesp. 4): Im ganzen Orient hatte sich die alte und stehende Meinung verbreitet, es sei vom Schicksal bestimmt, dass um diese Zeit Männer aus Judäa sich der Weltherrschaft bemächtigen.

Konnte nach dem bisherigen auch bei einer gewissen Weite der Auffassung der des Engels ihren wesentlichen Zweck doch erreichen: so war auf der anderen Seite natürlich auch den Israeliten die Auffindung des wahren Ausgangspunktes und somit eine genau zutreffende Berechnung schon ebenso möglich wie uns. Die Bücher Esra und Nehemia lagen auf ihnen vor; ja sie hatten noch frischere Blicke in dieselben hinein. Sie erkannten vielleicht klar, was sich uns als Vermutung aufdrängt, dass diese Bücher mit ausdrücklicher Rücksicht auf Dan 9 geschrieben sind. Ist es ja doch an sich schon höchst wahrscheinlich, dass Esra und Nehemia unseren Propheten kannten und vor sich hatten. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass das Buch Esra von demselben Gesichtspunkt ausgeht, wie unser Kapitel, von der Weissagung Jeremias über die siebzig Jahre des Exils. Ebenso beginnt das Buch Nehemia mit Nachrichten und Klagen über die immer noch fortdauernde Not und Schmach des heiligen Volks und der heiligen Stadt, die uns ganz in die Grundanschauungen von Dan 9 zurück versetzen. Dass Esra und Nehemia, obwohl sie keine ausdrückliche Offenbarung von oben empfangen haben, doch im Bewusstsein eines besonderen göttlichen Auftrags, eines über sie ergangenen und über ihnen waltenden göttlichen Ratschlusses handeln, darauf ist ebenfalls bereits aufmerksam gemacht worden. Vorzüglich aber dürfen wir hier an die Gebete der beiden Gottesmänner (Esr 9:6ff., Neh 1:5ff) erinnern, welche so sehr den Geist des danielischen Bußgebets atmen, dass auch H i t z i g (S. 144) bemerkt, dieses trage zu Neh 1 und Neh 9 so nahe Verwandschaft, dass der eine Schriftsteller von andern abhängig sein müsse. Es ist auch nichts natürlicher, als dass Männer wie Esra und Nehemia, die doch zu den Nachgeborenen im Alten Bund gehörten und nicht mehr produktiv, sondern reproduktiv und restauratorisch zu wirken hatten, sich am Studium der Propheten nährten und heranbildeten und vor allem an demjenigen unter denselben, dessen gewaltige Offenbarungen eben ihre nachexilische Zeit zum besonderen Gegenstand hatten. So wären die Bücher Esra und Nehemia ein Beweis für die Echtheit Daniels, dem ähnlich, welchen H o f m a n n aus Sacharja beigebracht hat, und eben damit zugleich ein Beweis für die Richtigkeit unserer Gesamtauffassung der Weissagung von den siebzig Wochen.

Sollte hier nicht auch der Grund angedeutet liegen, warum die Sammler de alttestamentlichen Kanons das Buch Daniels gerade vor Esra und Nehemia hinstellten? Wir fragen nur, wir behaupten nicht. Veranstaltete Esra selbst die Sammlung (K e i l, Einleitung ins A. T. , S. 549), so wird die Sache um so frappanter. Er stellt vielleicht das Buch Daniels deswegen unmittelbar vor sein eigenes hin, weil er sich im Geiste bewusst war, selbst den Anfang der Erfüllung von demjenigen herbeigeführt und beschrieben zu haben, was der Engel Dan 9. verheißen hatte.

2. Die Zerlegung der siebzig Wochen