Die siebzig Jahrwochen

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Abschrift des Buches: Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis
in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert.

Verfasser: Karl August Auberlen (1854)
Verlag: Bachmaier's Buchhandlung, Basel

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel vorher:
Charakteristik der Buches Daniels


In Bearbeitung

ZWEITER ABSCHNITT:

Die siebzig Jahrwochen

Dan 9

Wir wenden uns nun zur Einzelbetrachtung derjenigen Kapitel unseres Propheten, an deren Erklärung, wie oben am Schluss der Einleitung gezeigt wurde, die ganze kritische Frage über das Buch Daniels hängt. Gelingt es, die Unhaltbarkeit der modernen Auffassungen dieser Kapitel nachzuweisen, so ist das Buch selber ein so gewaltiges Zeugnis für seine Echtheit, dass die übrigen dagegen vorgebrachten Gründe ihr Gewicht verlieren.

Und zwar beginnen wir mit Dan 9., weil diese Weissagung eine für uns schon längst vergangene Zeit zum Gegenstand hat, während die des 2. und 7. Kapitels in eine auch für uns noch zukünftige Epoche hinausblickt, und sich daher eng mit der neutestamentlichen, johanneischen Apokalypse zusammenschliesst. Es soll nun zunächst eine Entwicklung des Inhalts jener Engelsoffenbarung gegeben werden, sowie derselbe zwar mit mancherlei Modifikationen im einzelnen, aber dem Wesen nach zu allen Zeiten gleichmäßig von der Kirche ist aufgefasst worden. Denn einen Überblick über die Geschichte der Auslegung unserer Stelle bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts kann H a v e r n i c k (Kommentar S. 393, 395) mit der Bemerkung schließen: "Dass im L e b e n C h r i s t i der Zielpunkt der 70 Wochen zu suchen sei, war bei aller Verschiedenheit im Einzelnen doch allgemeines Zugeständnis; und die Verschiedenheit entstand nur teils aus der Verschiedenartigkeit der angenommenen Anfangspunkte, teils aus der Verschiedenartigkeit in der Berechnung des Lebens Jesu, teils aus der auf die manigfaltigste Weise zugrunde gelegte Zählmethode." An die positive Darlegung unserer Absicht wird sich dann eine Kritik der modernen Auffassungen reihen. Da eine sprachliche Detailerklärung außerhalb unserer Aufgabe liegt, so verweisen wir in dieser Hinsicht im Allgemeinen auf H e n g s t e n b e r g s Christologie des A. T., II, S. 401-581, sowie auf H ä v e n i c k s Kommentar.

Erstes Kapitel

Die kirchlich-messianische Auffassung

I. Zusammenhang und Gedankengang der Weissagung

Unser Kapitel versetzt uns in das erste Jahr Darius des Meders. Haben wir unter diesem, wie noch immer das Wahrscheinlichste, Epaxares II. zu verstehen, in dessen Namen sein Neffe, Schwiegersohn und Nachfolger Kyrus als Oberbefehlshaber der gesamten medopersischen Heeresmacht 538 v. Chr. Babylon eroberte, so fällt also das Ereignis unseres Kapitels ins Jahr 537, mithin ein Jahr vor der, von Kyrus den Juden gegebenen Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil, und 69 Jahre nach der 606 erfolgten Wegführung Daniels und also auch nach dem Beginn des Exils.

Wir begreifen, dass der fromme Israelit, der mit so lauterer Liebe an Jehova und seinem Volke hing, gerade um diese Zeit sich angetrieben fand, die Weissagung Jeremias von den siebzig Jahren, welche über den Trümmern von Jerusalem hingehen sollten, zum Gegenstand seines Forschens und Nachsinnens zu machen. Er forschte aber in der Schrift mit Gebet. In heißem Flehen schüttet er sein Herz vor dem Bundesgott aus und ruft ihn an um Gnade für sein Volk, über welches sein Name genannt ist, um Wiederherstellung des Heiligtums und der Stadt. Es ist das eines jener biblischen Gebete, wo einem das Erklären vergeht, wo man fühlt, die Worte müssen sich selbst erklären in unseren Herzen, wenn man Sinn und Bedeutung derselben fassen will. Daniel, der treue und gerechte Knecht Gottes, geht so ganz ein auf die Schuld und Sünde seines Volkes, sein priesterlicher Dienst identifiziert sich so völlig damit, tut so innig im Namen von ganz Israel Buße, dass wir hier etwas ahnen von dem inneren Hergang der büßenden Stellvertretung, und über Daniel hinaus in die Gebetsopfer von Gethsemane und Golgatha hineinschauen. Wie wir also oben im allgemeinen gesehen haben, dass des Propheten eigenes Leben die typische Grundlage zu seiner Prophetie bildet, so geht auch in diesem speziellen Fall, der Weissagung von der vollkommenen Buße der Sünde, ein Vorbild von ihr voraus. Daniel stellt uns in seinem Bußgebet jenen höchsten Priester typisch dar, welcher, indem er hingerafft wurde (Dan 9:26), die Schlachtopfer und Speiseopfer des alten Bundes aufhören machte (Dan 9:27), weil er selbst die Schuld gesühnt und ewige Gerechtigkeit wiedergebracht hat (Dan 9:24). Für diese Offenbarung des neutestamentlichen Hohenpriestertums musste Daniel eben jetzt, da er selbst die Funktion des Priesteramtes gepflegt hatte, besonders empfänglich sein. Und nun ist wohl dieses Gebet, das man nicht lesen kann, ohne dass es Mark und Bein durchdringt, in trügerischer Weise fingiert? Es zeugt von dem Mangel unserer Kritik an tieferem ernsterem Sinn für religiöse Wahrheit und Wahrhaftigkeit, dass sie über solche Fragen so leicht hinwegkommt.

Indem wir nun an die Offenbarung heranzutreten wagen, welche dem Propheten auf sein Gebet hin zuteil wird (Dan 9:24-27), müssen wir vor allem daran erinnern, dass es Engelssprache ist, die in diesen vier kurzen Versen geredet wird, der Lapidarstil des oberen Heiligtums. Daher ist das Verständnis für uns unreine Menschen (Jes 6:5) so schwer, und es gibt keine Auslegung, welche alle Dunkelheiten und Schwierigkeiten dieser Engelsworte vollkommen überwunden, und ins Klare gesetzt hätte. Indessen, wenn die göttliche Antwort auch immer viel weiter greift als die menschliche Frage, wenn Gott über unser Bitten und Verstehen tut: so schließt sich doch begreiflicherweise die Antwort an die Frage und die Erhörung an die Bitte an. Und so müssen wir uns, um die Worte des Engels möglichst zu verstehen, Daniels Gedanken und Gefühle, wie sie seinem Gebet zugrunde liegen, uns lebendig zu vergegenwärtigen suchen.

Er betet um die Befreiung Israels aus dem Exil und um den Wiederaufbau der Stadt und des Heiligtums. Das tut er offenbar, weil ihm die großen Verheißungen vorschweben, welche an dieses Ereignis geknüpft sind. Es war ja mit demselben überall in den Propheten und noch eben in dem Jeremia, den er gerade vor sich hatte (Jer 31), die Erfüllung der messianischen Hoffnung aufs Engste verbunden (vgl. J. Chr. K. H o f m a n n, die 70 Jahre des Jeremia und die 70 Jahrwochen des Daniel, Nürnberg 1836, S. 60; H e i m und W. H o f f m a n n , die großen Propheten, erbaulich ausgelegt aus den Schriften der Reformatoren S. 864 und J. J. H e ß , Geschichte der Regenten Juda nach dem Exilio, Bd. 1, Tübingen 1792; S. 194f.) Die Offenbarungen, welche Daniel selbst im 2. und 7. Kapitel empfangen hatte, konnten ihm freilich zeigen, dass wenigstens das messianische Herrlichkeitsreich noch nicht so nahe sei, da ja von den vier Weltmonarchien erst eine hinter ihm lag; aber nur umso mehr bedurfte er jetzt eines Aufschlusses hinsichtlich der Weissagungen der früheren Propheten, in denen er die Errettung aus dem Exil, und das messianische Heil verbunden fand. Die Offenbarung, die er jetzt erhält, hat nun die Bedeutung, das auseinanderzulegen, was die Propheten bisher nach dem Gesetz der prophetischen Perspektive zusammengeschaut hatten, die Erlösung aus dem Exil und die volle, messianische Erlösung. Das war ja überhaupt im A. T. mehr als einmal der Fall, dass relative Erfüllungen der früheren Verheißungen eintraten, bei denen nun aber die Erkenntnis galt, das sei noch nicht die höchste und eigentliche Erfüllung.

Die Frommen des A.T., welche auf den Trost Israels warteten, und welche gleich Noahs Vater (1Mo 5:29) manchmal hoffen mochten, jetzt werde der Tröster in ihrer Trübsal kommen, mussten von einer Zeit zur anderen harren und die vorläufigen Erfüllungen nur als Angeld und Unterpfand nehmen dafür, dass einst Der wirklich kommen werden, den sie so sehnsüchtig begehrten (Mt 13:17); ähnlich wie die Christen, welche die Zukunft ihres Herrn schon so oft nahe glaubten, stets wieder aufs Warten angewiesen wurden. So war schon mit David eine vorläufige Erfüllung der älteren Verheißungen gekommen; da musste aber der Prophet Nathan zu dem König treten und ihm verkündigen, nicht er solle Gott, sondern Gott wolle ihm ein Haus bauen, und erst dieser sein Same sei bestimmt, das volle Wohnen Jehovas unter seinem Volk zu vermitteln (2Sam 7). Ebenso wird dann auch in unserer Weissagung - und wir wissen, wie dies zur Aufgabe gerade der Apokalyptik wesentlich gehört, - dem Daniel anstatt der 70 Jahre, an deren nahe bevorstehendem Ende er das Heil erwartete, ein weiterer Termin von 70 Jahrwochen angegeben, die von der näheren Erfüllung bis zur entfernteren und vollen, vom Befehl zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems bis auf die Zeit des Messias verstreichen sollen. Wie dort der Herr dem Petrus auf die Frage, ob es genug sei, wenn er seinem Bruder siebenmal vergebe, antwortete, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal (Mt 18:21f.), so antwortet hier der Engel dem Daniel: nicht siebzig Jahre, sondern siebenmal siebzig Jahre sind über dein Volk und deine heilige Stadt bestimmt. Seine Worte lauten so:

Dan 9:24: "Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, bis der Frevel vollendet und die Sünden versiegelt und die Schuld gesühnt und die ewige Gerechtigkeit hergestellt und Gesicht und Prophet versiegelt und das Allerheiligste gesalbt wird.
Dan 9:25: So wisse nun und merke: Vom Ausgang des Wortes (Befehls), Jerusalem wieder herzustellen und zu bauen, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen: es wird wieder hergestellt und gebaut werden, (doch bloß) mit Straßen und Graben, und im Druck der Zeiten.
Dan 9:26: Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden, und niemand hängt ihm an; und die Stadt und das Heiligtum wird zerstören das Volk des Fürsten, der da kommt, und sein (des Heiligtums) Ende ist in (Kriegs-) Flut, und bis zum Ende ist Krieg, (von Gott) beschlossene Verwüstungen.
Dan 9:27: Und es wird vielen den Bund stärken eine Woche, aber die Mitte der Woche wird abschaffen Schlacht- und Speiseopfer; und ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln, und bis zur Vollendung, der beschlossen, wird (der Fluch) über das Verwüstete herabtriefen."

Dan 9:24 gehört zu den herrlichen und tiefsten Stellen des ganzen A. T., und wenn irgend eine messianisch zu deuten ist, so ist es diese. Der Engel will dem Propheten zunächst im Allgemeinen einen Eindruck davon geben, dass er einen noch viel längeren Zeitraum in Aussicht nehmen müsse für die Erfüllung seiner messianischen Hoffnungen und Bitten. Die 70 Jahre des Exils seien wohl, wie er nach seinem Gebet bekannt habe, eine Strafe für die Sünden des Volks gewesen, aber nicht die vollkommene Buße derselben vor Gott; Gott werde jetzt allerdings seine vergebende Gnade über Israel walten lassen, aber die völlige Sühnung und Vergebung der Sünden, die ewig gültige Wiederherstellung des Wohlverhältnisses zwischen Gott und den Sünder ( צדקה, δικαιοσύνη, Gerechtigkeit) werde erst nach 70 Jahrwochen eintreten. Durch welches Opfer diese Sühnung der Sünde geschehen soll, darauf deutet Vers 26 mit dem Ausdruck יִכָּרֵת = IKaReT ("der Messias wird ausgerottet werden"), welcher an das Schlachten der Opfertiere bei Bundesschlüssen erinnert (כָּרֵת בְּרִיתִ KaReT BeRIT). Und daran reiht sich dann weiter V. 27 der וְהִגְבִּיר בְּרִית= WeHIGäBIR BeRIT ("und wird Vielen den Bund stärken") und die Weissagung, dass das alttestamentliche, blutige Opfer (Schlacht- und Speiseopfer) abgeschafft werden soll. So bietet der Engel dem Propheten eine ineinander greifende Kette von Ausdrücken dar, derer einer den anderen hält und trägt und erklärt, und welche zusammen den Messias als das vollendete Sühn- und Bundesopfer darstellen; ein Aufschluss, welchen Daniel, der Schriftforscher, aus einem Vergleich dieser Offenbarung mit Jes 53. noch genauer verstehen konnte.

In dieser Zeit des Heils, fährt nun Gabriel fort, werde nicht bloß Jeremias Weissagung, sondern Gesichte und Propheten überhaupt ihre Erfüllung finden (s. Lk 16:16; 2Kor 1:20); und nicht bloß ein neues Heiligtum werde geweiht werden, wie Daniel gebeten, sondern ein Allerheiligstes, in welchem Gott auf eine neue Weise bei seinem Volke wohnen wolle (s. Joh 2:19-22). Man braucht das קֹדֶשׁ קָֽדָשִׁים = QoDäSch QoDäSchIM nicht maskulinisch zu nehmen, wie L u t h e r: der Allerheiligste, obwohl das Wort namentlich in Verbindung מָשִׁיחַ MaSchIaCh so deutlich auf den Messias hinweist, dass auch jüdische Ausleger, wie A b a r b a n e l u. a., diese Beziehung anerkennen. Der Gedanke ist zunächst der: wie und weil dann das vollendete Opfer zur Sühnung der Sünden dargebracht werden wird, so wird auch die heilige Gegenwart Gottes in vollendeter Weise vorhanden sein (vgl. 2Mo 40:9.34). Denn nur wo die Sünde ganz hinweggeschafft ist, da kann Gott ganz gegenwärtig sein. Darum war der Deckel der Bundeslade, auf welchem Jehova über den Cherubim im Allerheiligsten thronte, zugleich das Sühnegerät ( ἱλαστήριον Röm 3:25). Was hier typisch dargestellt ist, das soll in der messianischen Zeit seine Erfüllung finden.

Die siebzig Jahre des Exils sind also, dies ist der Grundgedanke unseres Verses, nur ein Vorbild weiterer siebzig Jahrwochen, und die Erlösung aus dem Exil am Ende der siebzig Jahre, ist ebenso nur ein schwaches Vorbild der vollen messianischen Erlösung am Ende dieser siebzig Jahrwochen. Die folgenden drei Verse haben nun die Bestimmung, diese siebzig Jahrwochen in denjenigen Hauptmomenten ihres Inhalts, um die es sich hier handelt, genauer zu charakterisieren.

Es wird zunächst Dan 9:25 die allgemeine Weissagung des vorhergehenden Verses näher dahin erläutert, dass die Erscheinung de Messias nicht, wie Daniel wohl gehofft, nach dem Exil eintreten und mit der Wiederherstellung des Volkes und Erbauung der Stadt zusammenfallen werde; vielmehr müssen 7 und 62, also 69 Jahrwochen dazwischen vergehen. In dieser Zeit werde Jerusalem allerdings wiederhergestellt und gebaut werden, aber nicht in jener messianischen, göttlichen Herrlichkeit, wie sie z. B. Jes 54:11f und Jes 60-62 verheißen ist, sondern nur in irdisch äußerlicher und dürftiger Weise, mit Straßen und Gräben: es werde ein kümmerliche Zeit sein, wohl besser als das Exil, aber noch lange nicht so voll Gnade und Heil, wie die messianische Zeit.*)

*) H o f m a n n (Schriftbeweis I, S. 44) drückt ganz den Gedanken unserer Stelle aus, wenn er sagt: "Das Volk Israel musste die Stätte sein, wo Jesus erschien und die Herstellung der vollkommenen Gottesgemeinschaft ihren Anfang nahm. Hierzu bedurfte es - nach dem Exil einer, aber nur für diesen Zweck ausreichenden, Wiederherstellung der aufgelösten Volksgestaltung, die dann zum Vorbild der vollendeten Wiederherstellung wurde."

So war nun der Blick des Propheten vom Ende des Exils weg und ans Ende der 69igsten Woche hingelenkt, als an welchem der Messias erscheinen werde. Was vorhergeht, dabei soll er nicht stehenbleiben, daran soll er sein Herz nicht hängen. Denn das Schicksal von Volk und Stadt, um welches er besorgt ist, wird doch nur davon abhängig sein, wie sie sich zum Messias stellen. Darum tritt jetzt in den beiden folgenden Versen Schicksal und Tätigkeit des Messias in den Vordergrund, und nur in zweiter Linie, in Abhängigkeit davon erscheint je in der zweiten Vershälfte das Schicksal der Stadt und des Heiligtums. Es ist nun aber hier ein Doppeltes zu verkündigen. Die messianische Zukunft hat eine negative Seite neben der positiven, der Messias wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird (Lk 2:34). In dieser Doppelgestalt, Heil und Gericht zugleich verkündigend, tritt ja die messianische Weissagung bei allen Propheten auf, von Joel an (Joe 3:1-5) bis Maleachi (Mal 3:1-6:19-21), ja bis auf den greisen Simeon und Johannes den Täufer (Lk 2:29-35; Lk 3:7-18). Diese Doppelheit der Momente finden wir nun auch in unserer Weissagung, nur in der individuellen Bestimmtheit, wie sie durch die Fixierung des Blickes auf die Fleischestage des Messias, und auf das hieran sich knüpfende Schicksal des Volkes und der Stadt, das in der römischen Zerstörung Jerusalems sich erfüllt, geboten wird. Dem negativen Moment ist Dan 9:26, dem positiven Dan 9:27 gewidmet.

Dan 9:26: Das negative Moment ist die Verwerfung des Messias von Seiten Israels: er wird getötet und sein Volk huldigt ihm nicht. Zur Strafe dafür wird Stadt und Heiligtum von einem auswärtigen Fürsten zerstört. Jesus selbst hat den ursächlichen Zusammenhang beider Ereignisse, seines Todes und der Zerstörung Jerusalems, bei seiner Hinausführung zum Kreuz "im Herzen gehabt" (R o o s) und schon vorher in der Passionswoche wiederholt ausgesprochen (Lk 23:28-32; Mt 21:37-41; Mt 23:37.38). Der letzte Teil unseres Verses schildert dann die Zerstörung, und die ihr vorangehenden Wehen noch genauer: das Ende der Stadt und des Heiligtums ist in stürmischer, schrecklicher Kriegsflut; denn bis zu diesem Ende ist Krieg (vgl. Mt 24:6; Kriege und Geschrei von Kriegen), von Gott über das Land verhängte Verwüstungen. Wie sich das im jüdischen Krieg erfüllt hat, ist bekannt.

Diese beiden Ereignisse, die Tötung des Messias und infolge davon die Zerstörung von Stadt und Heiligtum, sind für das Volk im ganzen die Entscheidungspunkte, in der mit dem Schluss der 69igsten Woche beginnenden messianischen Zeit. Daher werden sie zuerst hervorgehoben und ohne nähere Zeitbestimmung als nach der 69igsten eintretend bezeichnet (der Text sagt: nach den 62 Wochen; denn die 7 brauchen, als den 62 vorangehend, natürlich nicht wiederholt zu werden). Die nachdrückliche Hervorhebung dieser beiden Ereignisse und ihres Kausalzusammenhangs ist also der leitende Gedanke in Dan 9:26. Daniel und die israelitischen Leser der Weissagung mussten nämlich erwarten, dass der Messias bei seinem Auftreten nach Ablauf der 62 Wochen (Dan 9:25) das Reich der Herrlichkeit errichten werde, auf welches Israels Blicke vorherrschend gerichtet waren, und welches auch unser Prophet in Dan 2 und Dan 7 geschaut hatte. Um nun diese Erwartung, die nicht erfüllt werden sollte, gleich von vorne herein abzuschneiden, lässt Gabriel den chronologischen Faden einen Augenblick fallen, um ihn erst Dan 9:27 wieder aufzunehmen, und reiht mit der allgemeinen Bestimmung "nach den 62 Wochen" diejenigen Hauptereignisse an, welche jene irrige Hoffnung vor allem zu berichtigen geeignet sind, den Tod des Messias und die Zerstörung Jerusalems. Dies ist also nicht so zu verstehen, als ob diese beiden Ereignisse unmittelbar mit dem Schluss der 62igsten Woche zusammenfallen sollten. Vielmehr fällt ja nach Dan 9:25 an den Schluss der 62igsten Woche erst das Auftreten des Messias, welches doch nicht mit seinem Tode beginnen kann, der vielmehr, wie wir aus Dan 9:27 sehen werden, erst eine halbe Woche nachher erfolgt, während die Zerstörung Jerusalem noch viel später eintritt. Diese wird aber noch mit zur messianischen Zeit gerechnet als die negative, gerichtliche Seite derselben, wie denn auch Christus selbst die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen darstellt (Mt 16:28). Der Engel will also sagen: Du musst nicht nur die Hoffnung aufgeben, dass der Messias gleich nach dem Exil auftreten werde, sondern auch noch die andere, dass er, wenn er einmal aufgetreten ist, sogleich sein Herrlichkeitsreich errichten werde. Vielmehr wird es den umgekehrten Weg gehen: er wird getötet werden von dem ungläubigen Volk, und daher wird auch dieses nicht zu Macht und Ehre gelangen, sondern mit Stadt und Heiligtum in die Hände der Heiden dahingegeben werden. Das ist für Israel als Volk die Aussicht in die nächst bevorstehende messianische Zukunft.

Aus dem Bisherigen erklärt sich nun auch die Abwechslung in den für den Messias gewählten Bezeichnungen. Er wird eingeführt Dan 9:25 als Maschiach Nagid ("der Gesalbte, der Fürst"); dagegen wird Dan 9:26 dieser Doppelbegriff auseinander gelegt, und der Messias heißt nun noch einfach Maschiach, die Benennung Nagid dagegen wird auf den römischen Fürsten, der Jerusalem zerstört, auf Titus übertragen. Das alles ist charakteristisch und bedeutungsvoll. Wir erklären das Maschiach Nagid wohl am besten mit Hofmann (die siebzig Jahre usw. S. 67f.) so, dass wir den Messias in Maschiach als König Israels, als geistgesalbten, geistlichen Fürsten, in Nagid als König der Heiden, als Weltherrscher, bezeichnet finden. Für ersteres ist die Beweisstelle Ps 2:2, für letzteres Jes 55:4. Nach diesen beiden Seiten musste derselbe für Daniel charakterisiert werden; denn so hatte er im 7. Kapitel den Menschensohn geschaut, an der Spitze des heiligen Volkes die ganze Welt beherrschend. Bei dem Tod des Messias (Dan 9:26) nun aber trat es hervor, dass er noch nicht wirklicher Weltherrscher sei; vielmehr war damals die Welt noch im Besitz der vierten Monarchie, und daher heißt ihr Vertreter hier Nagid. Was dagegen Christo den Tod brachte, war sein Bekenntnis, dass er der Maschiach sei (Mt 26:63ff. vgl. Joh 18:33-37), weswegen auch an seinem Kreuze, in buchstäblicher Erfüllung unserer Weissagung, geschrieben stand: Jesus von Nazareth, der Juden König (Mt 27:37.42). (L u t h e r hatte die Worte יִכָּרֵת מָשִׁיחַ = IKaReT MaSchIaCh auf einem seiner Tischgeräte eingegraben.) Noch mehr als dieses Auffassung empfiehlt sich in mancher Hinsicht die von E b r a r d, welcher auch das Nagid Dan 9:26 auf Christus bezieht, wofür man anführen kann, dass er selbst, wie schon erinnert, die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen bezeichnet. "Der Erlöser wird der Gesalbte genannt, wo von seinem Leiden und seiner Verkennung die Rede ist; er wird Fürst genannt, wo von dem Gericht die Rede ist, das er sendet; Maschiach bezeichnet seinen Beruf und seine Würde, Nagid seine Macht und Gewalt. Ein Volk, von diesem Fürsten gesandt, wird Stadt und Tempel verwüsten. Dies bildet den großartigen Kontrast zu אֵין לֹו. Er wird ausgerottet und hat gar nichts mehr; und er ist der Fürst, der kommen soll, und dem die Völker der Erde gehorchen" (Offb Joh S. 70f.).

Doch jene beiden traurigen Ereignisse, der gewaltsame Tod des Messias, und die Zerstörung der Stadt und des Tempels, sind nicht das Einzige und Letzte, was der Engel dem Propheten mitzuteilen hat; er kann auch noch etwas Positives und Erfreuliches hinzufügen. Immerhin bringt der Messias noch eine Woche der Offenbarung und des Heiles, von welcher nun Dan 9:27 die Rede ist. Dieselbe wird freilich nicht vom Volk im Ganzen - da gilt das וְאֵין לֹו Dan 9:26 -, aber doch noch von Vielen benützt, denen befestigt und stärkt der Messias den Bund, während über den anderen das Verderben sich zusammenzieht; er bringt sie in ein noch engeres festeres Bundesverhältnis zu Gott, indem er eine neue Ökonomie gründet, wo nicht mehr das alte Opferwesen herrscht, ein Gedanke, der schon vorher positiv durch die Verheißungen des Dan 9:24 und negativ durch die Verkündigung der Zerstörung des Heiligtums Dan 9:26 angedeutet war, dass es dem Daniel hierbei möglich gewesen sei, in dem Dan 9:26 geweissagten Tod des Messias das Opfer des neuen Bundes zu ahnen, durch welches die alttestamentlichen Opfer aufgehoben wurden, haben wir schon bemerkt. Auf der verwüsteten Stadt aber, fährt der Engel fort, und auf dem zerstörten Tempel bleibt, um der von dem unheiligen Volk an dem Heiligen verübten Gräuel willen, der Fluch liegen bis zu der von Gott genau bestimmten Vollendungszeit. Dieses letzte Wort musste dem Daniel, zumal wenn er es mit den früher empfangenen Offenbarungen zusammenhielt, nun auch noch einen Hoffnungsstrahl für Stadt und Volk im Ganzen bieten. Und damit schließt die Weissagung, mit einer leisen Andeutung in das 7. Kapitel einmündend, wo der Prophet erfahren hatte, dass einst in der Vollendungszeit alle Weltmacht gerichtet werden, und dann das Volk der Heiligen des Höchsten zur Herrschaft gelangen solle. (Vgl. E w a l d, die Propheten des Alten Bundes II, S. 571).

Ein Bund mit den Vielen

Wir fügen noch einige erläuternde Bemerkungen über diesen schwierigen Vers hinzu.

Die "Stärkung des Bundes" wird auch sonst von den Propheten als das Geschäft des Messias bezeichnet: er heißt Jes 42:6 der Bund des Volkes (d. h. derjenige, in welchem der Bund Israels mit Gott seinen persönlichen Ausdruck gewinnt (Vgl. S c h m i e d e r zu d. St. (Das Alte Test. von D von Gerlach, IV, 1, S. 148) vgl. Lk 22:20: der neue Bund in meinem Blut, in meiner geopferten Person, Mal 3:1, der Engel des Bundes, und Jer 31:31ff. ist von dem neuen Bund in der messianischen Zeit ausführlicher die Rede.

Das לָֽרַבִּים = LaRaBIM (Vielen) erinnert direkt an Jes 53:11 und das gleiche Wort bezeichnet auch Dan 11:33, die treuen Bundesglieder. Der Begriff deckt sich mit dem des Restes und Samens, von welchem Jesajah und andere Propheten geweissagt haben (Röm 9:27ff.; Röm 11:5ff.). Im A. T. heißen diese Auserwählten „viele", im N.T. „wenige".

Das erste Glied unseres Verses: "und er stärkt den Bund vielen eine Woche“, hängt mit dem zweiten: "aber die Mitte der Woche er wird aufhören machen Schlacht und Speisopfer", genau zusammen. Ein Bund kann nicht ohne Opfer sein, wie schon der Ausdruck für die Bundesschließung (כָּרֵת בְּרִית = KaReT BeRIT) zeigt. So wurde der Bund Gottes mit Noah, mit Abraham, mit dem Volk Israel unter Darbringung von Opfern geschlossen (1Mo 8:20ff. - 9:17; 1Mo 15:9ff.; 2Mo 24:3-8; vgl. Hebr 9:15ff. und wieder Lk 22:20 der neue Bund in meinem Blut). Nun wird eine Zeit der Bundesstärkung verheißen, aber mitten in derselben sollen alle Opfer aufhören! Das musste dem Propheten seltsam erscheinen und sollte es auch. Was will der Engel durch diese auffallende Zusammenstellung andeuten? Offenbar, dass dieser neue Bund von anderer Art sein werde als der alte, als alle bisherigen Bünde Gottes mit den Menschen. Das erste Versglied stellt den neuen Bund als Fortsetzung des alten, das zweite in seinem Gegensatz zu demselben dar. Daniel hatte in seinem Gebet (Dan 9:16f.) sehnsüchtig hinüber geblickt nach dem heiligen Berg und dem Tempel mit seinen Opfern und Gottesdiensten, die er in Babel entbehren musste. Nun verheißt ihm Gabriel wohl den Wiederaufbau der Stadt und des Heiligtums; aber wir wissen, dass er zugleich bemüht ist, den Blick des Propheten von diesen dürftigen Vorbereitungsstadien hinweg in die Zeit des vollen Heils zu lenken. So soll nun Daniel, und mit ihm jeder rechte Israelit, mit seinem Glaubensblick nicht bloß bei dem äußeren Schattenwerk, der nach dem Exil wieder eingeführten Opfer, stehenbleiben, sondern er soll ein Wartender (Lk 2:25.38) sein auf die Zeit der Verheißung, wo die Sünden vollkommen gesühnt werden, und der Bund Gottes fester als je sein, und dabei doch das alte Opferwesen nicht mehr stattfinden wird.

Über die Unzulänglicheit der alttestamentlichen Opfer finden sich bekanntlich schon früh in den Psalmen und Propheten sehr bestimmte Aussprüche. Es liegt besonders nahe, hier an die tief messianische Stelle Ps 40:7-11 zu erinnern, welche beginnt: "Schlacht und Speisopfer (זֶבַח וּמִנְחָה = SeBhaCh WeMiNäChaH) begehrst du nicht", und daran die evangelische Verkündigung der Gerechtigkeit ( צֶדֶק = ZäDäQ) schließt, also nur in umgekehrter Ordnung dasselbe besagt, wie unsere Weissagung, welche Dan 9:24 die Herstellung der ewigen Gerechtigkeit verheißt, und dieselbe dann in unserm Vers auf die Abschaffung von Schlacht- und Speisopfern zurückführt. Als nun der levitische Gottesdienst seinem Ende entgegenging und im Exil wirklich aufhörte, da war die Zeit gekommen, wo Jeremia, Hesekiel, und Daniel immer deutlicher dem kosmischen Heiligtum des alten Bundes das ewige, pneumatische Wesen des neuen, der eben deswegen schon ausdrücklich als „neuer Bund" bezeichnet wird, gegenüberstellen mussten. Dies geschieht auch in unserer Weissagung, positiv Dan 9:24, negativ die Verkündigung des Aufhörens der Opfer. Vgl. Hes 11:19-21; Hes 34:23ff.; Jer 31:31ff; Jer 3:16, wo von unserer Stelle ganz analog gesagt ist, es solle in der messianischen Zeit der Lade des Alten Bundes nicht mehr gedacht werden. Warum Gabriel gerade die Opfer hervorhebt, dain liegt also die nächste Ursache, wie bei der Lade, in ihrem Zusammenhang mit dem Begriff des Bundes. Eine besondere Beziehung dieses Umstandes werden wir übrigens noch unten kennenlernen, wo von der Bedeutung unserer Weissagung für die Zeit des Antiochus die Rede sein wird.

Den zweiten Teil von Dan 9:27 übersetzten wir so: "Und ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln und bis zur Vollendung, und zwar der beschlossenen, wird es über das Verwüstete triefen." Das וְעַל כְּנַף שִׁקּוּצִים מְשֹׁמֵם = WeAL CeNaPh SchiPUZIM MeSsMeM fassen H e n g s t e n b e r g und viele andere: über die Gräuelspitze kommt der Verwüster. Allein dass מְשֹׁמֵם = MeSsMeM als Adjektiv mit כְּנַף = KaNaPh verbunden werden muss, wie E w a l d u. a. tun, geht aus folgenden Gründen hervor: 1) die Analogie von הַשִּׁקּוּץ מְשֹׁומֵֽם =HaSchiQUZ MeSsWeMäM (Dan 11:31; vgl. Dan 12:11) fordert diese Verbindung gebieterisch; 2.) nur so werden wir vor der Annahme überflüssiger Wiederholungen des schon Dan 9:26 Gesagten bewahrt; 3.) nur so rechtfertigt sich die Übersetzung βδέλυγμα τῆς ἐρημώσεως die wir nach dem Vorgang der LXX Mt 24:15 im Munde des Herrn finden. Es ist der Gipfel der von Israel verübten Gräuel, "welcher die Verwüstung herbeizieht, weil er sie selbst ist"*) ganz nach dem von Jesus in Bezug auf eben diesen Fall ausgesprochenen Grundsatz: Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier (Mt 24:28), und nach der noch genauer zutreffenden Analogie von Stellen wie Hes 7:22 (Vgl. Hes 9:7), wo es mit Bezug auf die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar heißt: Ich wende mein Angesicht von ihnen (den Israeliten), denn sie entweihen mein Heiligtum; nun sollen (heidnische) Wüteriche darüber kommen und es entweihen.

*) S t i e r zu Mt 24:15 (Reden Jesu II, S 549); vg. H e n g s t e n b e r g, Christol. II S. 495 ff.; W i e s e l e r , die 70 Wochen und die 63 Jahrwochen des Propheten Daniel, Göttingen 1839. "Die Opfer der damaligen Juden heißt es hier S. 129, in Bezug auf Mt 24:15, werden Gräuel genannt, nicht weil sie nach heidnischem Ritus, sondern obwohl in streng mosaischer Form, doch mit unfrommer, heidnischer Gesinnung dargebracht werden."

Die Gottesdienste des Volkes, dass nach Dan 9:26 den Gesalbten des Herrn ermordet hatte im Unglauben, und das nun in seiner Eigengerechtigkeit und Herzenhärte immer mehr sich befestigt, sind Götzendienste geworden; ein Volk, das an dem Allerheiligsten sich so versündigt ist voll שִׁקּוּצִים = SchiQuZIM. Es sind das dieselben Hurengräuel, die wir Offb 17:4.5 in der abgefallenen Christenheit wiederfinden. Schon Jesaja musste dem gottlosen Israel zurufen: Bringet nicht mehr Lügenopfer, Rauchwerk ist mir ein Gräuel (Jes 1:12; vgl. Jer 6:15-21; Am 5:21ff., Mi 6:6f.; Ps 51:18ff.); schon Hesekiel hat von den שִׁקּוּצִים = SchiQuZIM des bundesbrüchigen Volkes geredet, welche die erste Zerstörung Jerusalems herbeiführten (Hes 5:5-11; Hes 11:18.21). Aus der Zeit, da sich unsere Weissagung erfüllte, dürfen wir nur an die Strafreden und Gerichtsverkündigungen Jesu über das ungläubige Israel, die sich also Mt 24:15 ausdrücklich auf dieses danielische Wort zurückbeziehen, oder an Aussprüche des Stephanus und des Paulus, wie Apg 7:51-53; Röm 2:22-25; 1Thes 2:15.16, erinnern. Es häuften sich nach der Ermordung des Messias vollends Gräuel auf Gräuel, bis sie kurz vor der Zerstörung Jerusalems ihren Gipfelpunkt erreichten in der Entweihung des Tempels durch die Zeloten, die wohl, wie schon E l s n e r sah, Jesus bei seiner Weissagung vorzugsweise im Auge hatte, und von welcher J o s e p h u s mit offenbarer Bezugnahme auf unseren Vers (bell. Jud. IV, 6. 3) sagt: "Sie hielten die Weissagung wider das Vaterland ihrer Erfüllung nahe; denn es war ein alter Ausspruch, dass dann die Stadt erobert, und das Heiligtum nach Kriegsbrauch niedergebrannt werden sollte, wenn ein Aufruhr ausbreche und einheimische Hände den Tempel Gottes entweihten; dem glaubten die Zeloten, gaben sich aber selbst zu Werkzeugen der Erfüllung her." Das - ??? (Buch S. 107 oben) näher erklärt, liegt, wie namentlich aus der lehrreichen Parallele bei Mk 13:14 ??? hervorgeht, nicht in כְּנַף KaNaPh, wofür die zufällige Analogie von ??? (Mt 4:5) auch keine genügende Begründung bietet, sondern in שִׁקּוּצִים = SchiQuZIM, was ja nicht Gräuel überhaupt bezeichnet, sondern religiöse Gräuel, Dinge, die das Heiligtum verunreinigen, weswegen es die LXX z. B. Hes 5:11 schon in τὰ ἅγιά μου ἐμίανας benügend ausgedrückt erachten. Wir schließen also, was die Übersetzung der vielgedeuteten Worte und namentlich des schwierigen כְּנַף = KaNaPh betrifft, an E w a l d an, der sie wiedergibt: "wegen des furchtbaren Gipfels von Gräueln"; nur verbinden wir sie nicht, wie er, mit dem Vorhergehenden, wobei er selbst die in dem וְ = WaW liegende Schwierigkeit sieht (a. a. D. S. 571), sondern mit dem Folgenden. Das וְעַל= WeAL steht mit dem וְעַד = WeAD in einem meist übersehenen Parallelismus: das eine bezeichnet den begründenden Anfang, das andere den abschließenden Endpunkt des göttlichen Gerichts über Israel.

Die folgenden Worte WAD KaLaH WeNäChaRaZaH erklärt schon Phil. Matth. H a h n so: "Und bis zur Vollendung und zwar bis zur bestimmten (bis das abgemessene Ende der Verwüstung kommt, und das verheißene Reich Gottes anbricht) wird es über das Verwüstete (Land, Stadt und Tempel) triefen." (Eines ungenannten Schriftforschers vermischte theologische Schriften Winterthur 1779, Band 2, S. 329. Ebenso R o o s S. 52). Es finden jene Worte ebenfalls in unserm Buche selbst ihre Auslegung durch das וּכְכַלֹּות נַפֵּץ יַד־עַם־קֹדֶשׁ JaD AM QoDäSch UKeKaLoIM NäGäD "wenn vollendet ist die Zerbrechung der Macht des heiligen Volkes" (Dan 12:7). Mag man nun das KaLaH im Sinne von KaLOT = Vollendung nehmen, was das Wahrscheinlichste ist (vgl. W i e s. S. 43), oder im Sinne von KaLOT NaPeZ = vollendete Vernichtung, wie die Meisten: immer ist hier eine Grenze des herabtriefenden Fluches angegeben, und zwar wird diese als eine von Gott bestimmte, abgeschnittene festgesetzte bezeichent (LXX: ???). Mit einem Hoffnungsblick für Israel, nicht mit einem Schreckensbild, muss die Weissagung schon ihrem ganzen Zweck und Zusammenhang gemäß schließen (vgl. Wies. S. 48). Das impersonalle TiTaKa gewinnt sein Subjekt aus V. 11, wo Daniel gebetet hatte: Es trieft herab auf uns der Fluch und Schwur, der geschrieben ist im Gesetz Moses. So stellt sich in den letzten Worten noch der Zusammenhang der Offenbarung des Engels mit dem Gebet des Propheten dar.

Bei dieser Auffassung allein ist die zweite Hälfte des Dan 9:27 nicht eine bloße Wiederholung, sondern ein Fortschritt gegenüber der zweiten Hälfte von V. 26. Hier ist die Zerstörung der Stadt und des Heiligtums geweissagt, dort die Fortdauer ihres Zerstörtseins bis zu dem von Gott bestimmten Ziel. Und so treten nun überhaupt V. 26 und 27 in ihrem Verhältnis zueinander klar und einfach hervor. Beide Male ist in der ersten Vershälfte vom Messias, in der zweiten von Stadt und Heiligtum die Rede. V. 26 schildert die Nachtseite an der Erscheinung des Messias, seine Ermordung durch das ungläubige Volk, und dem entsprechend, die über dieses letztere durch die Zerstörung Jerusalems hereinbrechende Nacht. V. 27 beschreibt die Lichtseite an der Erscheinung des Messias, sein Heilswirken, seine neue Bundestsiftung. Dem gegenüber kann nun freilich nicht unmittelbar ein entsprechendes Licht auf Stadt und Heiligtum fallen, sondern es muss der über denselben fortdauernde Fluch hervorgehoben werden ("es wird über das Verwüstete triefen"). Und um dies gehörig zu motivieren, werden dem segensreichen Wirken des Messias, das vielen Einzelnen zugute kommt, noch einmal die Sünden des Volks im Ganzen gegenübergestellt ("ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln"). Aber doch kann auch hier der Engel wenigstens darauf hindeuten, dass diese Nacht des Gerichts ein Ende nehmen ("und bis zur beschlossenen Vollendung“), und nach derselben dem Volke Gottes ein neuer Morgen tagen wird.

Überblicken wir nun zum Schluss noch einmal in Kürze die ganze Weissagung, so hat der Prophet freilich für die nahe Zukunft, welcher er in seinem Gebet zunächst fürbittend gedachte, einen geringen Trost erhalten: zwar wird Jerusalem wieder gebaut, und das Volk darf aus dem Exil zurückkehren, aber diese Wiederherstellung ist nur eine vorläufige, es folgen noch einige kümmerliche Jahrhunderte. Für die entferntere Zukunft empfängt Daniel einerseits tröstlichen Aufschluss über die Erscheinung des Messias, welche vielen das volle Heil des neuen Bundes bringt, andererseits aber auch sehr betrübenden, über die Zerstörung von Stadt und Heiligtum, weil Israel seinen Messias verwirft. Die Wiederherstellung Jerusalems wird also nicht von sehr langer Dauer sein, vielmehr ist ein neues Exil zu erwarten. Doch für noch fernere Zeit lässt ihn der Engel nicht ohne einen Strahl der Hoffnung in Bezug auf Israel und Jerusalem. So fehlt es dem Propheten doch nicht an dem Trost, den er in seinem Gebet über die Zukunft seines Volkes gesucht hatte. Gabriel beginnt V. 24 mit überaus köstlichen Verheißungen, und auch hinter den finsteren Nachtwolken, die dann aufsteigen, leuchtet noch ein ahnungsvoller, seliger Lichtschimmer.

II. Die chronologischen Bestimmungen

1. Der Beginn der siebzig Wochen

Dies ist der Gedankengang unserer Weissagung. Derselbe erscheint in seinen Hauptmomenten ebenso großartig wie einfach. Es fügen sich die Worte des Engels so schön und natürlich teils mit dem Gebet Daniels, teils untereinander zusammen, dass wir an dieser Auffassung derselben festzuhalten hätten, auch wenn die Berechnung der 70 Jahrwochen oder 490 Jahre im einzelnen größere Schwierigkeiten darböte, als dies wirklich der Fall ist. Denn das ist ja das Eigentümliche unserer Weissagung; dass sie auch eine chronologische Seite hat, welche jetzt, nachdem uns das allgemeine Verständnis der Engelsworte schon eröffnet ist, noch eine besondere Betrachtung und Berechnung erheischt. Indem wir nun zu dieser übergehen, handelt e sich natürlich vor allem um den Zeitpunkt, von welchem an die 490 Jahre zu zählen sind. Als solcher ist V. 25 nicht, wie man zunächst erwarten könnte, der Schlusspunkt der 70 Jahre des Jeremia, nicht die Rückkehr des Volkes aus dem Exil, auch nicht etwa der Neubau des Heiligtums bezeichnet, sondern von "den Trümmern Jerusalems" ging ja das ganze Kaptitel aus (V. 2), um ihre Wiederherstellung hatte Daniel besonders angelegentlich gefleht (V. 16.18.19) - "der Ausgang des Wortes, Jerusalem wieder herzustellen und zu bauen." Wir sehen hiernach zuerst, was wir unter dem Ausgang des Wortes, und hernach, was wir unter der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems zu verstehen haben.

Wenn der Engel MoZA DaBhaR sagt, so ist hierbei allerdings mit fast sämtlichen neueren Auslegern nach Analogie des יָצָא דָבָר =JaZaA DaBhaR V. 23 an das Ausgehen eines göttlichen Ratschlusses zu denken; doch nicht, wie die meisten wollen, an ein Prophetenwort. Dagegen spricht gerade die Parallele von V. 23. Denn hier ist ja nicht eine einem Propheten zuteil gewordene Offenbarung gemeint, sondern ein von Gott zunächst nur den Engeln kundgetaner Ratschluss; die Engel haben dann ins Werk zu setzen, was hiernach geschehen muss: so hat in diesem Fall Gabriel dem Daniel den Ratschluss Gottes zu verkünden. Ebenso ist nun also auch V. 25 zunächst an einen zukünftigen Ratschluss Gottes zu denken. Dieser muss aber natürlich seine geschichtliche, bemerkbare Ausführung finden; denn nur ein historisches Faktum bildet einen deutlichen Termin. Der Engel bezeichnet - so können wir die Sache auch einfach ausdrücken - von seinem himmlischen Standpunkt aus, auf welchen er in die göttliche Werkstatt der Geschichte, in die göttliche Weltregierung hineinsieht, zu deren Organen er selbst gehört, die historischen Ereignisse als göttliche Ratschlüsse. Vgl. Dan 4:14: Solches ist im Rat der Wächter beschlossen und im Gespräch der Heiligen beratschlagt, auf dass die Lebendigen erkennen, dass der höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche und gibt sie, wem er will.

Wie dann die göttlichen Ratschlüsse durch die Engel in der Geschichte zur Vollführung kommen, darin eröffnet das 10. Kapitel höchst merkwürdige Blicke. Die Enthüllungen, die wir ja bereits näher kennen, geben auch für unseren Fall das nötige Licht. Sehen wir uns nämlich nach einer geschichtlichen Tatsache um, durch welche der göttliche Ratschluss der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems vollstreckt wurde, so werden wir hier von selbst an den persischen Hof geführt; denn unter der Hoheit dieser zweiten Weltmonarchie stand ja nunmehr Israel für ein paar Jahrhunderte. Von da ging durch Kyrus die Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil und zum Tempelbau aus, welche Daniel noch erlebte; von da musste auch die Erlaubnis zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems gegeben werden. Jener Engel, von dem wir oben gehört haben, dass er auf Gottes Befehl (Dan 10:12.13) einen siegreichen Kampf mit dem Engel Persiens führte, und die Sache Israels bei den persischen Königen vertrat, muss also auf einen neuen Befehl oder Ratschluss Gottes hin, der eben unter dem DaBhaR Dan 9:25 gemeint ist, auf die Erlaubnis zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems beim Perserkönig ausgewirkt haben. Wenn daher die älteren Ausleger bei "Ausgang des Wortes" an ein persisches Königsedikt dachten, so waren sie zwar nicht sprachlich, aber sachlich ganz in ihrem Recht. Auch in sprachlicher Hinsicht ist indes die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks zu beachten, welcher an sich vom Ausgehen des königlichen Edikts ebenso, wie von dem eines göttlichen Ratschlusses, verstanden werden kann. Est 1:19 heißt es ganz mit denselben Worten יֵצֵא דְבַר־מַלְכוּת = JeZaA MaLeKUT. Der von Gott ausgegangene Befehl vollzieht sich in einem vom König ausgehenden Befehl, vgl. Esr 6:14: "Sie bauten nach dem Befehl des Gottes Israels und nach dem Befehl des Königs von Persien."

Soviel über den "Ausgang des Wortes". Nun aber fragt man sich fürs andere, wo und wann wir diesen Befehl zu suchen haben, von welchem persischen König das Edikt zur Wiederherstellung Jerusalems gegeben wurde. Daher müssen uns die Bücher Esra und Nehemia Aufschluss geben. Denn sie erzählen die nachexelische Geschichte des Bundesvolkes. Wir haben sie also für unseren Zweck etwas genauer ins Auge gefasst.

Wie Esra und Nehemia persönlich in Jerusalem zusammenwirkten, so machen auch ihre Bücher dem Inhalt nach ein Ganzes aus, und "wurden von hebräischen und griechischen Juden als ein Buch oder als zwei Teile desselben Buches betrachtet." (D e W e t t e ; Einl. ins A. T. S 195). Treten wir nun von unserm danielischen Kapitel aus an dieses Buch heran, so weht uns gleich aus dem ersten Vers Heimatluft entgegen, indem hier an dieselbe Weissagung Jeremias angeknüpft wird, wie Dan 9. Denn so lesen wir Esr 1:1 (vgl. 2Chr 36:22): Und im ersten Jahre Kores, des Königs von Persien, damit das Wort Jehovas durch den Mund Jeremias vollendet würde, erweckte Jehova den Geist Kores, des Königs... usw. Beide Bücher, das des Esra wie das des Nehemia, zerfallen nun ihrem Inhalt nach in zwei Teile. Der erste Teil des Esra (Esr 1-6) schildert die Rückkehr aus dem Exil unter Josua und Serubabel und den Tempelbau mit seinen Hindernissen durch die feindseligen Nachbarn, und mit seinen Förderungen durch die Propheten Haggai und Sacharja (Esr 5:1.2; Esr 6:14), bis zur Vollendung im sechsten Jahr des Darius Jystaspis, 516 v. Chr. (Esr 6:15). Von hier aus ist ein langer Zeitraum übersprungen, und mit der allgemeinen Formel "und nach diesen Dingen" macht der zweite Teil des Buches (Esr 7-10) den Übergang auf die Erzählung der Einwanderung Esras aus Persien nach Jerusalem im siebten Jahr des Artaxerxes Langhand, 458-457 v. Chr. (Esr 7:1.7). Dieses wird Kap 7 und 8 ausführlich beschrieben und dann Kap. 9 und 10. die Tätigkeit Esras geschildert, welche in der Reinigung und Wiederherstellung der heiligen Nationalität durch Entfernung der fremden Weiber bestand, während seine zahlreiche Begleitung (Kap 8) der schwachen Truppe frische Kräfte zuführte. Ohne einen Schluss bricht das Buch mit einem Verzeichnis derer, welche fremde Weiber genommen hatten, ab, und es reiht sich mit einer selbstständigen Überschrift das Buch Nehemias an. Dieses erzählt in seinem ersten Teil (Neh 1-7) die Einwanderung Nehemias im zwanzigten Jahr des Artaxerxes, 445-444 v. Chr., und seine Wirksamkeit in der Heimat, welche in dem Wiederaufbau der Stadt, zunächst ihrer Tore und Mauern, und in anderen daran sich schließenden nützlichen Einrichtungen bestand. Der zweite Teil des Buches (Neh 8-13) berichtet sodann über die gemeinsame Tätigkeit beider Gottesmänner, des Esra und Nehemia (Neh 8:1.9.13; Neh 12:26), wobei namentlich die Restauration des Gesetzes durch Esra als bedeutsam hervortritt. (Neh 8-10).

Dieser Überblick zeigt, dass in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt der erste Teil des Buches Esra für sich ein Ganzes bildet, während der zweite Teil desselben eng mit dem Buch Nehemia zusammenhängt, und mit diesem sich zu einem historischen Gesamtbild abrundet. Es sind zwei Perioden der nachexilischen Geschichte, welche uns hier vorgeführt werden; was zwischen ihnen liegt und was nach ihnen folgt, hat keine theokratische Bedeutung und ist darum nicht Gegenstand der heiligen Geschichtsschreibung. Nur das Buch Ester hat noch Aufnahme in den Kanon gefunden; denn es zeichnet den Zustand der Exilierten in Persien und bildet so ein Seitenstück, eine Ergänzung zu den Erzählungen Esras und Nehemias aus dem heiligen Lande, indem es die andere, am Schauplatz des Weltreiches sich begebende Seite der nachexilischen Geschichte des Gottesvolkes charakterisiert. Jene beiden Perioden, um die es sich für uns handelt, werden schon im Buche Nehemias selbst (Neh 12:47 vgl. Dan 9:26) unterschieden und miteinander zusammengestellt. Die erste ist die Zeit des Fürsten Serubabel und des Hohenpriesters Josua, denen die Propheten Haggai und Sacharja zur Seite standen.

Esra u. Nehemia

Die zweite ist die Zeit des Priesters Esra und des Statthalters Nehemia, denen der Prophet Maleachi zur Seite steht (Vgl. H ä v e r n i c k, Einl. ins A. T., II, 2, S 431-434). In beiden Perioden finden wir also königliche, priesterliche und prophetische Männer an der Spitze des Volkes Gottes. Die erste können wir auch als die Periode des Tempelbaus, die zweite als die der Wiederherstellung des Volkes und der Erbauung der Stadt bezeichnen, die erste als die Zeit der religiösen, die zweite zugleich als die Zeit der politischen Restauration. Die erste umfasst einen Zeitraum von 20 Jahren, 536-516 v. Chr.; wie lang die zweite gedauert habe, lässt sich nicht mit voller Sicherheit bestimmen, da weder der Schluss des Buches Nehemias, noch der Prophet Maleachi uns nähere chronologische Daten an die Hand gibt. Doch ist man im Allgemeinen damit einverstanden, dass dieselbe ungefähr ein halbes Jahrhundert umfasste. Sie beginnt also mit Esras Einwanderung 457 v. Chr. und deutlich können wir zunächst die ersten 25 Jahre verfolgen, indem Nehemia 13 Jahre nach Esra ins heilige Land kam und 12 Jahre daselbst Statthalter blieb (Neh 5:14; Neh 13:6). Dann (432 v. Chr.) reiste er wieder an den persischen Hof, kehrte aber nach Ablauf einer unbestimmten Zeit (לְקֵץ יָמִים = LeQeZ JaMIM, was einige unberechtigt als Ende des Jahres nehmen) ins Vaterland zurück. P r i d e a u r und W i n e r (bibl. Realwörterbuch, 3. Aufl., II, S 147) machen wahrscheinlich, dass diese Rückkehr Nehemias nicht vor dem elften Jahr des Darius Rothus (414-13 v. Chr.) erfolgt sei. Wie lange derselbe dann noch in Palästina lebte und wirkte, ist nicht gesagt; wenn er aber auch, wie Josephus berichtet, ein hohes Alter erreichte, so können es doch der Natur der Sache nach nicht mehr viele Jahre gewesen sein. Es ist also jedenfalls anzunehmen, dass im letzten Jahrzehnt des fünften Jahrhunderts vor Christo die Offenbarung des Alten Bundes mit dem Ableben Nehemias und Maleachi verstummte.

Schon Josephus spricht das Bewusstsein aus, dass diese zweite, durch die Gunst des Atarxerxes herbeigeführte Restaurationsperiode das letzte Abendrot des alttestamentlichen Tages war. Er sagt in einer bekannten Stelle (c. Apion. 1:8): "Seit Artaxerxes bis auf unsere Zeit ist allerlei geschrieben worden, es wird diesen Schriften aber nicht die gleiche religiöse Autorität beigelegt, wie den früheren, weil die sichere Reihenfolge er Propheten nicht mehr vorhanden (die Offenbarungskette abgebrochen) ist." Es ist gewiss charakteristisch für das Volk Gottes, dass die erste Periode der Restauration nach dem Exil ganz in der Wiedererbauung des Tempels aufging: zuerst musste Gott gegeben werden, was Gottes ist, dann erst dem Volke, was des Volkes ist. Eben deswegen war aber jene erste Periode unter Josua und Serubabel noch lange nicht die vollständige Wiederherstellung. Nur eine kleine Kolonie von etwa 50 000 Juden siedelte sich mit diesen beiden Männern in Palästina an (Esr 2:64f.); auch diese aber vermischten sich wieder mit den umwohnenden Heiden und führten eine klägliche, wie es scheint, immer tiefer sinkende Existenz "in großem Elend und in Schmach" (Neh 1:3, Esr 9:6-15), zumal während jener sechs von Esra mit Stillschweigen übergangenen Jahrzehnte. Darum tat nun eine zweite, durchgreifende, das ganze Volksleben echt israelitisch gestaltende Restauration not, und zu dieser berief Gott den Esra und Nehemia. Nicht bloß die Herstellung des Tempels, sondern auch der heiligen Nationalität, des Gesetzes und der heiligen Stadt war erforderlich, wenn Israel wieder zum Gottesvolk im vollen Sinne werden sollte. So lange eines dieser Elemente fehlte, war die Existenz desselben noch keine gesicherte und lebensfähige. Esra, dem Priester, fiel hierbei mehr die innere Seite der Restauration zu, die Reinigung der Nation von heidnischem Wesen und die Wiedereinführung des Gesetzes; Nehemia, dem königlichen Mundschenk und Statthalter, die äußere Seite, der Wiederaufbau der Stadt und die politischen Einrichtungen. Erst mit Esra beginnt daher eigentlich das volle Wiederaufleben Israels in der nachexilischen Zeit, und das Bewusstsein hiervon hat sich auch dem Volke sehr tief eingeprägt; denn Esra, der Wiederhersteller der Nation und des Gesetzes wird von den Juden bekanntlich als ein zweiter Mose gefeiert. Mose hat zum ersten, Esra zum zweiten mal die Existenz des heiligen Volkes begründet.

Nun entsteht die Frage, oder vielmehr ist es nach dem bisherigen eigentlich keine Frage mehr, in welcher der beiden Perioden nachexilischer, heiligen Geschichte wir den Anfangspunkt der 70 Wochen Daniels zu suchen haben. Wenn es V. 24 heißt: Siebzig Wochen sind abgeschnitten über dein Volk und deine heilige Stadt, und V. 25 der Anfangstermin näher so bestimmt ist: Vom Ausgang des Wortes Jerusalem wiederherzustellen und zu bauen, so kann man kaum deutlicher auf die zweite Periode hinweisen. Und wenn vorher C a l v i n, O e c o l a m p a d i u s , K l e i n e r t, bei welchem in Hinsicht auf die persischen Könige eine bedeutende Verwirrung herrscht, B e n g e l, der nach seiner apokalyptischen Zeitrechnung eine Jahrwoche = 7 59/63 Jahre nimmt, u. a. das Edikt aus dem zweiten Jahr des Darius Hystaspis (520 v. Chr., s. Esr 6:1-12) zum Anfangstermin der siebzig Wochen machen, so dürfen wir diese Meinungen als durch unsere bisherige Entwicklung als beseitigt ansehen. Das Edikt des Darius ist ohnedies nicht von Epoche machender Bedeutung; dass aber auch das des Kyrus nicht gemeint sei, darüber gibt uns das Buch Daniel selbst noch einen Hinweis. Denn wenn wir den Propheten im dritten Jahre dieses Königs in tiefer Trauer über sein Volk finden, (Dan 10:1-3), so sehen wir daraus, wie wenig die durch das Edikt des ersten Jahres bewirkte Restauration Israels, auch nur denjenigen Hoffnungen entsprach, welche durch die Offenbarung des 9. Kap. für die Zeit nach dem Exil noch übrig geblieben waren. Beide Edikte, das des Kyrus und das des Darius, beziehen sich lediglich auf den Tempelbau; und obwohl Jerusalem erwähnt wird (Esr 1:2ff: Esr 6:3.5.9.12 u. ä.) und sich der Natur der Sache nach schon um des Tempelbaus willen auch Häuser dort befinden mussten (vgl. Hag 1:4), so begegnet uns doch von einer königlichen Erlaubnis zur Wiederherstellung des Volks und Wiedererbauung der Stadt keine Spur. Vielmehr wird diese noch von demselben Artaxerxes Langhand, der später die Erlaubnis dazu erteilte, infolge der Verleumdungen der Samariter ausdrücklich verboten (Esr 4:7-22); denn nicht Smerdis, sondern Artaxerxes haben wir wohl auch hier, wie überall in den Büchern Esra und Nehemia, unter Arathasastha zu verstehen. (Vgl. S c h u l z in den Stud. und Krit. 1853, III, S. 686-698). Bedenken wir, welche Anstrengungen z. B. die Belagerung Jerusalems Nebukadnezar und später wieder Titus kostete, so erkennt man eine Politik, wie wir sie in dem angeführten Edikt des Artaxerxes finden; man erkennt, dass die persischen Könige zögerten, den Juden, die im Geruch des "Abfalls und der Meuterei" standen, einen so festen Stützpunkt zu gewähren. Und darum finden wir denn die Stadt auch noch zu Esras und Nehemias Zeiten unbebaut (Esr 9:8; Esr 10:13; Neh 1:3; Neh 2:3.5; Neh 3:34; Neh 4:1; Neh 7:4). Man wollte den Juden wohl eine religiöse, aber noch keine politische Restauration gestatten. (B a i h i n g e r s Aufstellungen über einen Bau der Mauern Jerusalems durch Mordechai und eine Zerstörung derselben durch Megabyzus [Stud. und Krit. 1854; I, S. 125:ff.] sind Hypothesen.)

Erst im siebten Jahr des Artaxerxes Langhand (Esr 7:1.7) nahm die Sache Israels ein günstigere Wendung und einen bedeutenderen Aufschwung. Da muss das Wort zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems von Gott ausgegangen, da muss infolge desselben jener Engel einen neuen Sieg über den der persischen Monarchie vorstehenden Engel davongetragen, und den Vorrang bei dem Weltherrscher gewonnen haben. Artaxerxes zeigt sich von da an dem Bundesvolk ganz besonders freundlich, und gestattet ihm weit mehr als selbst ein Kyrus und Darius. Er lässt in seinem siebten Jahr den Esra mit sehr ausgedehnten Vollmachten (Esr 7:11-28; namentlich V. 18.25f.) in seinem zwanzigsten Jahr den Nehemia mit der ausdrücklichen Erlaubnis zum Wiederaufbau der Stadt (Neh 2.) nach Jerusalem ziehen. Es kann sich also nur noch darum handeln, welches von diesen beiden Jahren, ob die Ankunft Esras oder die Ankunft Nehemias in Jerusalem als Anfangstermin der siebzig Wochen zu betrachten sei. Für das zwanzigste Jahr des Artaxerxes haben sich in neuerer Zeit noch dem Vorgang einiger Kirchenväter H e n g s t e n b e r g und H ä v e r n i c k entschieden, und ihre Ansicht ist von Seiten der Offenbarungsgläubigen ziemlich allgemein angenommen worden, auch in mehrere populäre Schriftauslegungen übergegangen. Vgl. S a c k , Apologetik, 2. Ausg., S. 335; H e i m und Wilh. H o f f m a n n, die großen Propheten, S 864ff.; Handbuch der Bibelerklärung, herausgeg. von C a l w e r Verlagsverein, 1. Bd. S. 891; das Alte Test. von D. von Gerlach, fortgesetzt von S c h m i e d e r, IV, 2, S. 66. Das siebte Jahr des Artaxerxes dagegen nehmen als Ausgangspunkt für die Zählung der siebzig Wochen C a l o v, N e w t o n, G e i e r, B u d d e u s, P r i d e a u x, S o s t m a n n, D e x l i n g, P r e i s w e r k (Morgenl. 1838, S. 257ff.), G a u s s e n (III, S 340). u. a. Nach unserer ganzen bisherigen Entwicklung können wir diese letztere Ansicht allein für die richtige halten.

Wir haben uns überzeugt, dass die Zeit des Esra und Nehemia eine zusammengehörige Periode des Segens für Israel bildet, und es wäre an sich schon auffallend, wenn nicht der grundlegende Anfang dieser Periode gemeint wäre, sondern ein zweiter Termin, von welchem nichts wesentlich Neues, sondern nur eine weitere Entwicklung des schon von Esra begonnenen Werkes datiert. Diese sekundäre Bedeutung des auf Nehemia bezogenen Edikts deutet auch die heilige Erzählung selber dadurch an, dass sie dasselbe garnicht mitteilt (Neh 2:7.8), während Esras Vollmacht Esr 7 ausführlich zu lesen ist. Dazu kommt, dass, wenn wir auf die Weltmacht sehen, von der die Vollstreckung des göttlichen Ratschlusses ihren irdisch-geschichtlichen Ausgang nehmen mussten, derselbe König Artaxerxes ist es, der den Esra wie den Nehemia entlässt. Sein Herz ist also schon in seinem siebten Jahr für Israel günstig gestimmt worden; der Engel und also die guten, göttlichen Einflüsse haben damals schon bei ihm die Oberhand gewonnen. Das Bewusstsein hiervon spricht Esra selber deutlich aus, wenn er nach Anführung des königlichen Edikts Esr 7:27.28 fortfährt: Gepriesen sei Jehova, der Gott unserer Väter, der also dem König ins Herz gegeben, zu verherrlichen das Haus Jehovas in Jerusalem, und der mir Gnade zugewandt vor dem König, seinen Ratgebern und allem mächtigen Fürsten des Königs! Die göttliche Umstimmung der Weltmacht zugunsten des Gottesreiches ist hier klar und bestimmt ausgesagt. Esra und Nehemia handeln auch ganz gleichermaßen in dem Bewusstsein, dass sie als Vollstrecker eines göttlichen Ratschlusses unter Gottes besonderer Leitung und Obhut stehen; daher die schöne, in den Tagebüchern beider öfters wiederkehrende Redeweise: vermöge der gütigen, über mir waltenden Hand Jehovas, meines Gottes (Esr 7:6.9.28; Esr 8:18.22; Neh 2:8.18).

Auftrag zur Erbauung Jerusalems

Doch alle diese Gründe würden natürlich ihr Gewicht verlieren, wenn uns die Worte des Engels Dan 9:24.25 nötigten, als Ausgangspunkt der Berechnung die ausdrückliche Erlaubnis zum Wiederaufbau der Stadt, wie sie dem Nehemia gegeben wurde, anzunehmen. Das ist aber nicht der Fall. Weder nötigen die Worte, bloß an den äußerlichen Stadtbau zu denken, noch hat auch erst Nehemia die Erlaubnis hierzu empfangen. Die Vollmacht Esras ist, um mit den letzteren Punkt zu beginnen, eine so ausgedehnte, dass darin auch die Wiedererbauung der Stadt wesentlich mit eingeschlossen ist. Das spricht er selbst klar und einfach aus, wenn er in seinem Bußgebet (Esr 9:9) sagt: Unser Gott wandte uns Gnade zu vor den Königen von Persien, dass sie uns aufleben lassen, um zu erhöhen das Haus unseres Gottes und herzustellen seine (unseres Gottes) Trümmer, und dass sie uns Mauern geben in Juda und Jerusalem (גָדֵר = GaDeR, Ummauerung, nicht bloß Erbauung, sondern sogar Befestigung der Stadt). Esra schreibt hier ausdrücklich schon die Vollmacht zu dem zu, was dann Nehemia auf eine neue Erlaubnis des Königs hin ausgeführt hat. Die ganze Erzählung, wie diese letztere Erlaubnis zustande kam (Neh 2:1ff.) ist auch so angetan, dass wir sehen, es handelt sich jetzt nicht mehr um etwas so Neues und Großes, wie bei Esra, nicht mehr eigentlich um die Sache, sondern hauptsächlich um die Person. Nehemia ist Mundschenk des Königs und bedarf also einer Entlassung von seinem Posten, welche ihm der König nebst seiner Gemahlin einmal bei Tafel huldvoll erteilt. Da ist also nicht mehr, wie bei Esra, von einer Umstimmung "des Königs, seiner Ratgeber und aller mächtigen Fürsten des Königs" die Rede, es ist kein offizieller Regierungsakt, sondern ein persönlicher Gnadenakt des Artaxerxes. So sehr tritt die Sendung Nehemias an Bedeutung hinter der Esras zurück.

Sodann aber gehen auch die Worte des Engels nicht bloß auf den äußerlichen Stadtbau. Dies ist an sich schon unwahrscheinlich; das Ereignis, welches den Anfangstermin der siebzig Wochen bilden soll, darf doch wohl kein nur äußerliches, also mehr oder weniger zufälliges sein, es muss eine tiefere Bedeutung haben. Die Worte des Engels lauten aber auch V. 24 nicht bloß: Siebzig Wochen sind abgeschnitten über deine heilige Stadt, sondern, über dein Volk und deine heilige Stadt. Die Erbauung der Stadt ist also in einen tieferen Zusammenhang mit der Wiederherstellung des Volkes hineingestellt, und da wissen wir nun aus dem Obigen, dass jene erstere allerdings Sache des Nehemia, diese letztere aber Esras Aufgabe war. Wenn sodann V. 25 als Anfangstermin näher bezeichnet ist der Ratschluss zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems, so haben wir bei diesem letzteren Wort nicht bloß an Tore und Mauern, Türme und Häuser zu denken, sondern an die ganze ?? und civitas, und Jerusalem heißt hier, was im vorhergehenden Vers Volk und Stadt geheißen hat. Und wenn hierbei zwei Verbe stehen, wiederherstellen und bauen, so können wir dieselben ähnlich verteilen, wie vorhin Volk und Stadt: die Wiederherstellung, die innere Erneuerung Jerusalems war Esras, die "Erbauung mit Straßen und Graben", die äußere Herrichtung war Nehemias Aufgabe. Dass Jerusalem hier in einem tieferen und volleren Sinn genommen wird, hat bekanntlich den ganzen prophetischen Sprachgebrauch für sich, und erweist sich nach demselben nicht bloß als möglich, sondern als notwendig. Ist es doch schon auf weltlichem Gebiet so, dass in der Hauptstadt eines Landes sich das ganze Volkswesen darstellt; wir brauchen nur an Ninive, Babel, Rom, in neueren Zeiten Paris zu erinnern. Ist die Hauptstadt erobert oder zerstört, so ist auch das Volk geknickt.

Jerusalem, das Zentrum des Volkes

Von Jerusalem gilt dies aber in noch viel höherem Sinn, weil es nicht nur politischer Mittelpunkt, sondern durch seinen Tempel "des großen Königs Stadt" war (Mt 5:35), der Wohnsitz Jehovas, an welchen sich alles das knüpfte, was Israel zu diesem einzigen und auserwählten Volk machte. Daher wird an unserer Stelle von dem Engel (V. 26.27), wie später von Jesus (Mt 24) die ganze Weissagung über Israel zusammengefasst in eine Weissagung über Jerusalem. Das Gericht über das Volk ist Gericht über die Stadt; der Tod besteht im Sterben des Leibes. Die Stadt aber ist der Leib der Gemeinde, die Gemeinde die Seele der Stadt, so dass in anschaulicher Weise Jerusalem auch beides miteinander, Gemeinde und Stadt, bezeichnet. Durch die ganze Hl. Schrift geht dieser Zusammenhang der Menschen und ihres Wohnortes oder in letzter Instanz des Geistes und der Natur. Vgl. 1Mo 6:11-13; 3Mo 18:24ff.; 5Mo 28:15ff. In der ersten dieser Stellen, wo es sich noch um die ganze Menschheit handelt, ist es auch die ganze Erde, in den beiden andern, wo nur noch Israel im Licht der Offenbarung steht, ist es das heilige Land, auf welches Gottes Wort, Drohung oder Verheißung geht. Seit David tritt nun Zion und Jerusalem aus dem Lande besonders hervor, wie aus dem Volke Davids Haus, s. Ps 78:68ff.; und das geht durch die ganze Prophetie hindurch. In diesem Sinne finden wir die Stadt Gottes als die Erscheinung, als die Repräsentation der Gemeinde schon in den Psalmen (Ps 46:5; Ps 48:2ff; Ps 87:2.3; vgl. V. 5). Unter den Propheten begegnet uns in Jesaja, um bei ihm stehen zu bleiben, gleich in seinem ersten Kapitel die gleiche Anschauung: Wie ist sie zur Hure geworden, die fromme Stadt (Jes 1:21). Und das 60. und 62. Kapitel schildern das neue Jerusalem mit seinen Toren und Mauern (Jes 60:11.18; Jes 62:6.10) in einer Weise, dass wir sehen, die Stadt ist zugleich ein belebtes Wesen, der pneumatische Gottesbau, das wiedergebrachte Volk. Das reicht bis in die Apokalypse hinein, wo die ehebrecherische Kirche als identisch mit der Stadt Babel, die verklärte Kirche als identisch mit dem neuen Jerusalem erscheint. Vergl. D e l i t z s c h, Hoheslied, S. 231f. Wie es sich nun dort Offb 21:22, um das Ziel der neutestamentlichen Geschichte handelt, so hier an unserer Stelle bei der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems, um die letzte, abschließende Epoche der alttestamentlichen. Wie Jerusalem dort die verklärte Gemeinde des Neuen Bundes mit ihrem verklärten Naturorganismus ist, so ist hier die Geminde des alten Bundes mit ihrer Organisation, Israel als Theopolis als civitas Dei mit seinem Tempel, seinen äußeren gesetzlichen Institutionen und seiner heiligen Stadt. Die neutestamentliche Heilsgeschichte findet ihren Abschluss in der Erscheinung des himmlischen Jerusalems, die alttestamentliche in der Wiederherstellung des irdischen, welche als ein, wenn auch kümmerlich geschmückte Braut ihres Bräutigams, des Messias harren soll.

Nach diesem allem können wir nichts anderes als eine zu äußerliche Auffassung der auf die Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems lautenden Engelworte, eine Verkennung des Wesentlichen in ihnen, wie in der nachexilischen Geschichte, darin sehen, dass Hengstenberg uns an die siebzig Wochen erst mit der Rückkehr Nehemias beginnen lassen; und es bedarf also nunmehr als das allseitig begründete Resultat unserer bisherigen Untersuchung ausgesprochen werden, dass die Rückkehr Esras nach Jerusalem 457 v. Chr als der Anfangspunkt der siebzig Wochen zu betrachten ist. In ihr schon stellt sich die erneute und erhöhte Gunst der persischen Weltmacht für Israel dar; mit ihr beginnt der neue Aufschwung Jerusalems. Die äußere Erbauung der Stadt verhält sich zu diesem Anfangstermin der siebzig Jahrwochen Daniels ebenso, wie die äußerliche Zerstörung der Stadt zum Anfangstermin der denselben zugrunde liegenden siebzig Jahre Jeremias. Diese beginnen schon im Jahr 606 v. Chr. also 18 Jahre vor Jerusalems Zerstörung, weil da schon das Reich Juda unter babylonische Botmäßigkeit geriet, weil also da schon die selbstständige Theokratie zu existieren aufhörte. So beginnen die siebzig Wochen schon 13 Jahre vor dem Neubau der Stadt, weil da schon die Wiederherstellung der Theokratie begann. Gerade bei unserer Auffassung also wird der Parallelismus zwischen Vorbild und Gegenbild erst ein vollständiger. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich dann auch wieder am Schluss der siebzig Wochen. Diese reichen bis ins Jahr 33 n. Chr.; von da an war es mit Israel schon zu Ende, während die Zerstörung Jerusalems durch die Römer erst ins Jahr 70 fällt. Es tritt uns also hier ein allgemeines Gesetz der göttlichen Welt- und Reichsregierung entgegen, ein Gesetz, das wir schon im Paradies seine Wirksamkeit beginnen sehen. Adam und Eva verfielen dem Tode gleich am Tage der ersten Sünde (1Mo 2:17), und doch starben sie erst Jahrhunderte danach. Ephraim verschuldete sich durch Baal und starb; und nun fahren sie fort zu sündigen und machen sich Bilder (vgl. S c h m i e d e r zu dieser Stelle). Ebenso haben wir oben gesehen, dass Dan 11:2 das Perserreich von Xerxes an, unter dem es von Griechenland überwunden wurde, als tot betrachtet und nicht weiter berücksichtigt wird, obwohl es noch lange weiter vegetierte. Aus demselben Grunde lebt Jesaja im zweiten Teil seines Buches schon ganz im Exil, obwohl dasselbe äußerlich noch mehr als hundert Jahre entfernt war: die Gräuel Israels waren selbst schon die Verwüstung, die Sünde ist (Mt 8:22) selbst schon der Tod. Das ist der göttliche Wesensblick, der die Dinge wirklich durchschaut, ihnen ins Herz hineinschaut, und von welchem es daher heißt: Es geht nicht wie ein Mensch sieht; ein Mensch sieht, was vor Augen ist, der Herr aber sieht das Herz an (1Sam 16:7).

Werfen wir nun von hier aus sogleich einen Blick auf das Ende der siebzig Wochen, um uns von der Erfüllung der Weissagung, und somit von der Richtigkeit unserer Auffassung zu überzeugen, so könnte das Eintreffen der Rechnung nicht schöner sein. Die 490 Jahre reichen also bis ins Jahr 33 n. Chr. , und über diesen Schlusstermin werden wir bald Näheres hören. Den festen chronlogischen Anhaltspunkt bildet der Tod des Messias, der, wie oben vorläufig gezeigt wurde, in die Mitte der letzten Woche, also 3 1/2 Jahre vor den Endpunkt der ganzen Zeit mithin ins Jahr 30 n. Chr. fällt. In diesem Jahr wurde aber nach den besten chronologischen Forschungen, und der am allgemeinsten anerkannten Berechnung, in welcher z. B. B e n g e l und W i e s e l e r zusammentreffen, Jesus wirklich gekreuzigt. Vgl. Wieselers chronologische Synopse, S. 485f.. C a l v i n hat also recht, wenn er bemerkt: "Wo Daniel die Jahre bis zur Erscheinung Christi zählt, wie klar und fest steht dies Zeugnis, dass wir dem Satan und allem Hohn der Gottlosen entgegenhalten dürfen, wenn es anders gewiss ist, dass das Buch Daniels in der Menschen Händen war, bevor Christus erschien. Die ungöttlich Denkenden werden sich endlich überzeugen lassen müssen, dass Christus der wahrhaftige Erlöser ist, welchen Gott von Anbeginn der Welt verheißen hatte, weil er ihn nicht geoffenbart werden ließ ohne jenen zuverlässigen Beweis, grenüber welchem alle Mathematiker keinen ähnlichen aufzuweisen haben." Wir erinnern uns hier an das in der Einleitung angeführte Wort N e w t o n s. Die ganze neuere Zeit hat schwerlich scharfsinnigere Männer hervorgebracht, als den Genfer Reformator und den englischen Mathematiker: man sieht, was ihnen Dan 9 war.

H e n g s t e n b e r g musste, da er den Anfangstermin der siebzig Wochen erst ins zwanzigste Jahr des Artaxerxes setzt, die herrschende Chronologie anfechten und sucht (Christol. II, S 542ff.) nach dem Vorgang von Uscher, Vitringa, Krüger mit viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit nachzuweisen, dass der Regierungsantritt dieses Königs um etwa 9 Jahre früher anzusetzen sei., als man gewöhnlich annimmt, wodurch er das Jahr 455 v. Chr. als Anfangstermin gewinnt. H o f m a n n (die 70 Jahre, S. 91ff) und K l e i n e r t (Dorpater Beiträge II., S. 1-232) haben die Hengstenberg'sche Untersuchung und ihr Resultat wohl siegreich bestritten; der Abhandlung des letzteren Gelehrten pflichten auch W i e s e l e r (die 70 Wochen S. 79) und H i t z i g (S. 172) bei. Hengstenberg hat, so viel ich sehe, durch seine chronologischen Aufstellung der guten Sache seiner Gesamtauffassung mehr geschadet als genutzt. Es ist dadurch wenigstens in den Augen derer, welche die Geschichte der Auslegung und die große Übereinstimmung der früheren Exegeten in der Hauptsache nicht gehörig kennen und kennen wollen, der Schein entstanden, als bedürfe die kirchliche Erklärung allerlei künstlicher Stützen, und als sei mit der Beseitigung der Hengstenberg'schen Chronologie die ganze messianische Deutung von Dan 9 beseitigt.*)

*) E b r a r d (Offb S. 74ff) ist noch kühner als Hengstenberg und erklärt 1. den Text selbst für korrupt, indem er an die Stelle der 7 Wochen (V. 25) 77 setzen will. Mit diesem Gewaltstreich ist 2. die noch misslichere Annahme verbunden, dass die Bestimmung "70 Wochen" (V. 24) nicht genau sei, und daher V. 25 näher bestimmt, d. h. korrigiert werde. Es sollen nämlich von dem Edikt des Kyrus (538 v. Chr.) bis auf Christi Geburt, die Ebrard ins Jahr 6 v. Chr. setzt, 77 Jahrwochen und von dem eigentlichen Bau Jerusalems unter Nehemia (445 v. Chr.) bis auf Christi Geburt 62 Jahrwochen verfließen. Hierbei wird 3. die so offenkundige Zerlegung der 70 Wochen in 7+62+1 verkannt, ja als ein "Wahn" bezeichnet. 4. werden unnötige und unwahrscheinlicherweise zwei einander größtenteils parallellaufende Reiche von Jahren statuiert, 5. wird nach dem Athnach (V. 25) willkürlich ein neuer Anfangstermin eingeschoben, 6. trifft die Rechnung erst nicht genau zu, 7. wird die letzte Woche ganz willkürlich gedeutet, indem ihre erste Hälfte die 30-40 Jahre zwischen Christi Tod und der römischen Zerstörung Jerusalems, die zweite aber die vielen Jahrhunderte von dieser Zerstörung an bis zu der auch für uns noch zukünftigen Bekehrung Israels umfassen soll.

Zeitpunkt der Erfüllung der Weissagung

Ich meinerseits muss indessen hier gestehen, dass mir, nachdem ich mich früher der unter zu besprechenden Hofmann'schen Auffassungsweise, wiewohl unter vielen Bedenken, zugeneigt hatte, die Hengstenberg'sche gleich bei der ersten näheren Bekanntschaft mit ihr so sehr den Eindruck der wesentlichen Wahrheit machte, dass ich erkannte, es handle sich nur um richtigere Fassung und tiefere Begründung dieser uralten Auslegung. Nüchtern und beherzigenswert sind indessen in unserer Frage die Worte P r e i s w e r k s (a. a. D. S. 286): "Bei den vielen Schwankenden in der alten Chronologie sollte man auf das Herausberechnen bis auf einzelne Jahr kein Gewicht legen, weil, wenn die Berechnung auch noch so gut gelungen ist, ein anderer nur ein anderes chronlogisches System zu befolgen braucht, so ist, scheinbar wenigstens, das alles wieder umgestoßen, was man so mühsam aufgebaut hatte. Gesteht man aber die Schwankungen in der alten Chronologie ein, zeigt man das ungefähre Zusammentreffen der geweissagten, mit der wirklich verlaufenden Zeit, zeigt man, dass selbst ein scharfes Eintreffen auf die Jahreszahl möglicherweise stattgefunden, und dass wenigstens niemand das Gegenteil beweisen kann: so ist für die Rechtfertigung der alten Weissagung genug geschehen, und das, was geleistet ist, kann von andern nicht umgestoßen werden." Und S a c k s Bemerkung (Apologetik: S. 336): "Da die genauere Chronologie nicht Sache jedes Schriftstellers in Israel sein konnte: so blieb für die, welche nur im allgemeinen den Anfangspunkt als in die Zeit jener Befehle und Erlaubnisse der persischen Könige fallend erkannten, auch nur eine ungefähre, doch nicht sehr weite Auffassung der Zeit übrig, in welcher der Messias zu erwarten war. Aber auch dies war schon hinreichend zur Stärkung des Glaubens und Spannung der Erwartung; und in diesem Sinne muss man auch von den jetzigen Schriftlesern sagen, dass, wenn ihnen auch Mittel und Resultat der gelehrten, chronologischen Forschung unzugänglich bleiben, sie doch aus der einfachsten geschichtlichen Kenntnis heraus, sich von der Erfüllung der Weissagung in Christus überzeugen können. Dass die gelehrte Forschung in der christlichen Kirche sich der Vollkommenheit des chronologischen Verständnisses mit allen Mitteln zu nähern sucht, ist ganz in der Ordnung."

Können wir nach allem bisherigen über den Anfangstermin für die Berechnung der siebzig Wochen nicht zweifelsfrei sein: so hat es doch auf den ersten Anblick etwas Befremdendes, dass derselbe in einem Zeitpunkt gesucht werden muss, der einmal von dem Jahr, in welchem Daniel diese Offenbarung erhielt, noch fast ein Jahrhundert entfernt, und der sodann auch für die später Lebenden noch nicht so deutlich von dem Engel bezeichnet ist, dass nicht in seiner Bestimmung von alters her hätten Schwankungen stattfinden können. In dieser Beziehung mögen folgende Bemerkungen zu weiterer Erhellung der Sache dienen.

Was Daniel selbst betrifft, so handelte es sich nicht darum, ihm für seine Person ganz genau das Jahr der Zukunft des Messias zu bestimmen. Das hätte für ihn, der jedenfalls Jahrhunderte zuvor lebte, kein Interesse gehabt. Er dient, wie wir schon oben gesehen haben, mit seiner prophetischen Gabe nicht sich selbst, sondern den kommenden Geschlechtern. Ihm sollte also eine genaue Berechnung der Zeit noch nicht möglich gemacht werden; der Zweck der Offenbarung ist vielmehr der, ihm nur im allgemeinen anzudeuten, dass das messianische Heil nicht so nahe sei, sondern noch ungefähr ein halbes Jahrtausend bis dahin verfließen müsse.

Aber auch dem Volk Israel, für welches das Wort Gabriels weiterhin bestimmt war, durfte die Berechnung der siebzig Wochen nicht so plan und offen hingelegt werden. Es gehört, wie wir wissen, zum Wesen der Weissagung, dass sie die Zukunft sowohl verhüllt als auch enthüllt; sie soll, und will keine Geschichte und noch weniger eine Chronologie sein, dass dieselben ebenso hell vor unsern Augen ständen, wie die Vergangenheit; sonst würde das ethische Verhältnis des Menschen zur Zukunft aufhören. Daher musste dem auch die gegenwärtige Offenbarung so klar im allgemeinen darin ausgesprochen ist, dass von der Erlaubnis zur Wiederherstellung Jerusalems nach dem Exil bis auf die Zeit des Messias 490 Jahre verfließen sollen, doch wieder mit einer relativen Dunkelheit umgeben werden. Ja eben jene Klarheit forderte umso mehr eine entsprechende Verhüllung. Die Vollendung der ewigen Ratschlüsse Gottes sollte nicht ein bloßes Rechenexempel sein, das auch der profane Verstand an den Fingern abzählen könnte, sondern ein heiliges Rätsel, welches ein treues Achthaben auf die Wege Gottes, und die Führungen seines Volkes erforderte: die Gottlosen merken nicht darauf, aber die Verständigen merken darauf (Dan 12:10). Eine solche relative Verhüllung der Wahrheit war nun in unserm Falle, bei der vollkommenen Deutlichkeit der chronologischen Bestimmungen an sich, nur dadurch erreichbar, dass der Anfangspunkt - und, wie wir sehen werden, auch der Endpunkt - der siebzig Wochen in eine gewisses Dunkel gehüllt, und an Tatsachen geknüpft wurde, die sich bloß dem treuen Schriftforscher in ihrer ganzen Bedeutung darlegen.

So durften allerdings fromme Israeliten der nachexilischen Zeit, welche die Weissagung Daniels vor Augen hatten, und nach ihrer Erfüllung sich sehnten, bei jedem einzelnen von jenen Edikten der persischen Könige sich ernstlich fragen, ob nicht etwa dies der vom Engel gemeinte Anfangspunkt der siebzig Wochen sei. Es galt für die in der Periode dieses Edikts lebenden "Verständigen", aufzumerken auf die Zeichen der Zeit, und für die später Lebenden galt es, in der Schrift zu forschen, wann der vom Engel verkündigte Termin eingetreten sei. Die Gläubigen des Alten Bundes hatten in diesen offenbarungslosen Jahrhunderten eine ähnliche Aufgabe in Bezug auf die ihnen geltenden danielische Weissagung, wie wir in Bezug auf die apokalyptischen haben (vgl. Mt 16:2.3; Mt 24:33). Und dass sie dieser Aufgabe redlich nachkamen, das zeigt die bekannte Erzählung des J o s e p h u s (Arch. Xi, 8,5), wonach Alexander dem Großen bei seiner Ankunft in Jerusalem die auf ihn bezüglichen Weissagungen Daniels vorgelegt wurden. (Über die Glaubwürdigkeit dieser, auch für die Echtheit unseres Buches zeugenden Erzählung, vgl. H e n g s t e n b. Beitr. S. 277ff. J. J. H e s s , a. a. D. Bd. 2; S 25ff.) Es war nun durch die Mehrzahl jener Edikte allerdings ein gewisser Spielraum gegeben, wie wir gesehen haben, dass auch die christlichen Ausleger es mit ihnen allen versucht haben, weswegen schon H e ß (Bd. 1, S. 196) bemerkt: "Mich dünkt, es nötige uns nicht, das, was der Engel sagt, nur von einem dieser Befehle zu verstehen, sondern es gehe auf den ganzen Zeitraum, binnen welchem solche Edikte bald gegeben, bald widerrufen, bald erneuert wurden." Hier tritt dann die vorhin angeführte Bemerkung S a c k s ein, dass auch eine solche, nur ungefähre Auffassung der Zeit schon hinreichend war zur Stärkung des Glaubens und Spannung der Erwartung. Und dass die Weissagung diesen ihren Zweck vollständig erreicht hat, dass zeigt die Geschichte.

Die Erwartung Israels

Denn es ist ja eine bekannte Tatsache, dass zur Zeit Jesu die messianische Erwartung eine weitverbreitete war, nicht nur unter den gläubigen Israeliten (Lk 2:25.26.28; Lk 23:51), sondern auch sonst unter Juden und Heiden, wie wir aus J o s e p h u s und den bekannten Stellen des S u e t o n und T a c i t u s wissen. Hierzu aber muss vorzüglich unsere Weissagung mitgewirkt haben. Denn dass man sich mit ihr damals unter den Juden viel beschäftigte, und in ihr namentlich auch die römische Zerstörung Jerusalems geweissagt fand, geht außer Mt 24:15 aus mehreren Stellen des Josephus (vgl. oben S. 106) unzweideutig hervor. Nähere Nachweise hierüber geben H e n g s t e n b e r g (Beitr. S. 265, Christol. S. 576); H ä v e r n i c k (S. 389ff.), und W i e s e l e r (die 70 Wochen, S. 148 ff.) Charakteristisch ist übrigens der Unterschied in jenen messianischen Erwartungen. Die Gläubigen hofften unserer Stelle gemäß auf den Trost Israels, nämlich die Erlösung in Jerusalem und das Heil, das da ist die Vergebung der Sünden (Lk 2:25.30.38; Lk 1:77); sie erkannten im Messias das Lamm Gottes, das der Welt Sünden trägt (Joh 1:29). Den andern, den fleischlich Gesinnten, sind die Augen verblendet, dass sie die inneren, wesentlichen Bedingungen des Heils nicht sehen, und voreilig sonstige messianische Weissagungen, wie Dan 2 und Dan 7 herbeiziehend, nur von politischer Weltherrschaft der Juden träumten. J o s e p h u s (bell Jud. VI, 5,4): Was sie zum Krieg ermunterte, war ein alter, in den heiligen Schriften gefundener Ausspruch, dass um jene Zeit einer aus ihrem Lande die Welt beherrschen werde. T a c i t u s (hist. V, 13).: Mehrere hatten die Überzeugung, es stehe in alten Priesterschriften, dass eben um diese Zeit (eo ipso tempre) der Orient sich mächtig erheben, und Männer aus Judäa sich der Weltherrschaft bemächtigen würden. S u e t o n (Vesp. 4): Im ganzen Orient hatte sich die alte und stehende Meinung verbreitet, es sei vom Schicksal bestimmt, dass um diese Zeit Männer aus Judäa sich der Weltherrschaft bemächtigen.

Konnte nach dem bisherigen auch bei einer gewissen Weite der Auffassung des Engels ihren wesentlichen Zweck doch erreichen, so war auf der anderen Seite natürlich auch den Israeliten die Auffindung des wahren Ausgangspunktes, und somit eine genau zutreffende Berechnung schon ebenso möglich wie uns. Die Bücher Esra und Nehemia lagen ihnen vor; ja sie hatten noch frischere Blicke in dieselben hinein. Sie erkannten vielleicht klar, was sich uns als Vermutung aufdrängt, dass diese Bücher mit ausdrücklicher Rücksicht auf Dan 9 geschrieben sind. Ist es ja doch an sich schon höchst wahrscheinlich, dass Esra und Nehemia unseren Propheten kannten und vor sich hatten. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass das Buch Esra von demselben Gesichtspunkt ausgeht, wie unser Kapitel von der Weissagung Jeremias über die siebzig Jahre des Exils. Ebenso beginnt das Buch Nehemia mit Nachrichten und Klagen über die immer noch fortdauernde Not und Schmach des heiligen Volks und der heiligen Stadt, die uns ganz in die Grundanschauungen von Dan 9 zurück versetzen. Dass Esra und Nehemia, obwohl sie keine ausdrückliche Offenbarung von oben empfangen haben, doch im Bewusstsein eines besonderen göttlichen Auftrags, eines über sie ergangenen, und über ihnen waltenden göttlichen Ratschlusses handeln, darauf ist ebenfalls bereits aufmerksam gemacht worden. Vorzüglich aber dürfen wir hier an die Gebete der beiden Gottesmänner (Esr 9:6ff., Neh 1:5ff.) erinnern, welche so sehr den Geist des danielischen Bußgebets atmen, dass auch H i t z i g (S. 144) bemerkt, dieses trage zu Neh 1 und Neh 9 so nahe Verwandschaft, dass der eine Schriftsteller von andern abhängig sein müsse. Es ist auch nichts natürlicher, als dass Männer wie Esra und Nehemia, die doch zu den Nachgeborenen im Alten Bund gehörten und nicht mehr produktiv, sondern reproduktiv und restauratorisch zu wirken hatten, sich am Studium der Propheten nährten und heranbildeten, und vor allem an demjenigen unter denselben, dessen gewaltige Offenbarungen eben ihre nachexilische Zeit zum besonderen Gegenstand hatten. So wären die Bücher Esra und Nehemia ein Beweis für die Echtheit Daniels, dem ähnlich, welchen H o f m a n n auch Sacharja gebracht hat, und eben damit zugleich ein Beweis für die Richtigkeit unserer Gesamtauffassung der Weissagung von den siebzig Wochen.

Sollte hier nicht auch der Grund angedeutet liegen, warum die Sammler des alttestamentlichen Kanons das Buch Daniels gerade vor Esra und Nehemia hinstellten? Wir fragen nur, wir behaupten nicht. Veranstaltete Esra selbst die Sammlung (K e i l, Einleitung ins A. T. , S. 549), so wird die Sache um so frappanter. Er stellt vielleicht das Buch Daniels deswegen unmittelbar vor sein eigenes hin, weil er sich im Geiste bewusst war, selbst den Anfang der Erfüllung von demjenigen herbeigeführt und beschrieben zu haben, was der Engel Dan 9 verheißen hatte.

2. Die Zerlegung der siebzig Wochen

Die siebzig Wochen werden von Gabriel nicht bloß als einkontinuierliches Ganzes hingestellt (V. 24), sondern sie werden auch noch in drei sehr ungleiche Teile auseinander gelegt (V. 25-27), in 7+62+1. Es erinnert uns das zunächst an eine ähnliche Zerlegung, die wir Dan 7:25; Dan 12:7 finden: eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit. Wir sehen, die Apokalyptik in ihren chronologischen Angaben liebt solche Teilungen. Doch ist es uns durch diese allgemeine Bemerkung natürlich nicht erspart, einen näheren Grund für die Zerlegung in unserem Falle zu suchen.

Der Text selbst legt es nahe, hierbei von der l e t z t e n Woche auszugehen; denn sie ist nicht bloß am genauesten charakterisiert, sondern auch am bestimmtesten von den übrigen abgesondert. Während 7 und 62 Wochen V. 25 zusammengenannt werden, und V. 26 nur gesagt ist, was nach ihnen geschehen soll: ist dagegen die siebzigste Woche V. 27 besonders herausgehoben. Wir kennen sie schon als die Zeit der Bundesstärkung, näher als die Zeit der Offenbarung des neuen Bundes zu Jerusalem, wo dem Volk Israel das messianische Heil dargeboten wird. Sie folgt als Jahrwochenschluss auf die vorhergehenden geringen Tage, wie der gottgeweihte Sabbat als Wochenschluss auf die Werktage. Die 69 Wochen haben ihr gegenüber nur die Bestimmung, dass Jerusalem wieder hergestellt und gebaut, und so dem Messias die Stätte bereitet wird, in der er sein Werk vollenden kann (V. 25.26), das ist eine Werktagsarbeit gegenüber dem Sabbatgeschäft der Bundesstärkung. Die messianische Zeit ist der heilige Feier- und Festtag der israelischen Geschichte, an welchem Gott dem Volke noch einmal alle seine Gnaden darbietet, in welchem aber auch die Geschichte Israels zu ihrem vorläufigen Abschluss kommt. Diese Parallelisierung der siebzig Jahrwochen mit der Woche ist durch den Text selber nahegelegt, indem er das Ganze eben unter den Gesichtspunkt der Wochen (SchaBAJiM).

Weniger in die Augen springend ist dagegen die Ursache der Absonderung der ersten sieben Wochen. Der Text gibt denselben keinen besonderen Inhalt, sondern nimmt sie mit den 62 Wochen als die Zeit der Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems zusammen. H e n g s t e n b e r g will zwar das לְהָשִׁיב וְלִבְנֹות יְרֽוּשָׁלִַם (V. 25) parallel mit עַד־מָשִׁיחַ נָגִיד und als terminus intermedius in der Weise fassen, dass der Engel sagen würde, bis zur vollendeten Wiedererbauung der Stadt seine es 7, und von da bis auf den Messias 62 Wochen. Er such dann aus Herodot und anderen Profanschriftstellern den Beweis zu führen, dass nach ungefähr 49 Jahren, also bei seiner Rechnung im Jahr 406, Jerusalem wieder als große Stadt dagestanden sei. Allein auch abgesehen von dem Prekären und Unbefriedigenden dieser Beweisführung, ist eine solche Lösung der Frage, rein exegetisch betrachtet, unmöglich, warauf auch schon z. B. W i e s e l e r aufmerksam gemacht hat, Denn nicht nur wäre dieser Gebrauch des לְ im Zusammenhang unverständlich, sondern das DaBhaR hätte so auch so keinen Inhalt, man müsste dann das לְהָשִׁיב נָגִי eine Art Doppelrolle spielen lassen, wozu freilich Hengstenberg geneigt erscheint, was aber das Unnatürlichste ist. Alles, was er (Christol. S. 454f.) mit gewohnter Zuversicht zur Verteidigung seiner Erklärung beibringt, ist so wenig überzeugend, dass man nur bedauern muss, auch hier wieder die richtige Grundanschauung durch unnötige Gewaltstreiche den Angriffen der Gegner (H i t z i g S.172f.) bloß gegeben zu sehen. Vielmehr muss anerkannt werden, dass im Text für die sieben ersten Wochen keine sachlicher Endpunkt angegeben ist. Sie sind nur, soviel lässt sich sogleich im Allgemeinen sagen, als der erste grundlegende Teil der Wiederherstellungszeit hervorgehoben; für näheren Aufschluss sind wir lediglich an ihre Zahl, an die Betrachtung der inneren Dignität der Siebenzahl angewiesen, die Hengstenberg damals noch unberücksichtigt gelassen hat, während er in seinen neueren Werken die Zahlensymbolik nur zu weit treibt. Es kann uns nämlich für das Verständnis des Grundes der besonderen Hervorhebung der ersten sieben Wochen die letzte Woche einen Wink geben. Wie diese als eine Offenbarungszeit abgeschnitten ist, so könnte etwas ähnliches auch bei jenen der Fall sein. Und in dieser Vermutung werden wir durch die Reflexion auf die innerer Dignität der Siebenzahl bestärktm auf die uns schon das über die Heilswoche Gesagte hingewiesen hat.

Das göttliche Prinzip der Siebenzahl

Die Zerlegung der siebzig Wochen geschieht nach dem Prinzip der S i e b e n z a h l. Hinten werden sieben, vorn siebenmal sieben Jahre abgeschnitten. Nun hat die Sieben bekanntlich in der Schrift und zumal in der Prophetie unbeschadet ihres chronologischen Wertes, wesentlich zugleich eine symbolische oder mystische Bedeutung. Sie ist als die Summe der Gotteszahl drei und der Weltzahl vier die Zahl des Göttlichen in seinem Aufschluss der Welt gegenüber, der inneren Vollendung in Gottes vielfältigen Werken und Gerichten; wo sie regiert, da offenbart sich Gott und umgekehrt. Der innere Realgrund hiervon sind die sieben Geister Gottes, die all seine Offenbarung in der Welt vermitteln (Offb 1:4; Offb 3:1; Offb 4:5; Offb 5:6): die äußere Darstellung dieser Dignität der Siebenzahl beginnt schon im ersten Buch und ersten Kapitel des A. T. , indem das Schöpfungswerk sich danach gliedert (Auch C i c e r o nennt die Siebenzahl rerum omnium fere nodus (somn. Scip. 5). Man vgl. zu den obigen Bemerkungen über die bedeutungsvollen Zahlen z. B. H o f m a n nm Weiss. u. Erf. I, S. 85; D e l i t z s c h, Genesis, S. 412), und noch das letzte Buch des N. T. die Apokalypse, ist durch und durch von dieser Zahl beherrscht. Z e h n dagegen ist die Zahl des Menschlichen, Weltlichen, in welcher dieses seine manigfaltige Tätigkeit und Entwicklung abschließt. Wir können dies unter anderem aus unserem Buche selber abnehmen, indem die Welt in zehn Zehen und zehn Hörner ausläuft (Dan 2:41.42; Dan 7:7.24). In der Zahl S i e b z i g nun erscheint die Zehnzahl mit der Siebenzahl multipliziert: das Menschliche ist hier göttlich bestimmt. Darum ist sie zunächst in den 70 Jahren des Exils die Signatur der Zeit, in welcher die Weltmacht nach Gottes Willen über Israel triumphiert, in welcher sich die göttliche Strafe an seinem Volk durch die Weltmacht vollendet. In den s i e b e n m a l s i e b z i g Jahren oder in den siebzig Jahrwochen ist auch noch die Weltzahl Zehn enthalten: das Gottesvolk steht noch unter der Weltmacht, es ist noch zumeist eine bedrängte, kümmerliche Zeit (צֹוק הָעִתִּֽים V. 25); aber die Zahl des Göttlichen ist mit sich selbst multipliziert und hat also eine wesentliche Verstärkung erhalten: Gottes Volk und Reich in der Welt erfährt in dieser Zeit eine Wiederherstellung. Doch nicht bloß das: Gott offenbart sich in den siebzig Wochen noch unmittelbarer und voller; es kann am Anfang derselben ein Zeitraum von siebenmal sieben, am Schluss eine Zeit von sieben Jahren besonders herausgehoben werden. Wie wir in der letzteren die neutestamentliche Offenbarung ausdrücklich verheißen finden, so wird mit dem ersteren die noch fortgehende alttestamentliche Offenbarung angedeutet sein.

Es ist schon oben gezeigt worden, dass die alttestamentliche Offenbarung mit der Wiederherstellung der israelitischen Theopolis sich abschloss, welche jetzt nur noch ihres Bräutigams, des Messias harren sollte. Es ist ferner gezeigt worden, dass diese Wiederherstellung durch Esra, Nehemia und Maleachi geschah, deren Wirksamkeit ungefähr ein halbes Jahrhundert, also s i e b e n W o c h e n ausfüllte (vgl. P r e i s w e r k, S. 278f.). Es sind die drei genannten Männer die letzten, von welchen wir Schriften im alttestamentlichen Kanon besitzen; von ihnen an hört die heilige Geschichte, die Offenbarungsgeschichte des Alten Bundes auf, eine Tatsache, deren Bewusstsein wir schon bei J o s e p h u s in der bekannten, oben angeführten Stelle (c. Ap. 1,8) ausgesprochen finden. Könnte es nun, da die sieben Wochen die Siebenzahl mit sich selbst multipliziert enthalten, während dieselbe in der letzten Woche nur einfach vorhanden isst, nach diesem Zahlenverhältnis scheinen, als solle jener Endperiode der alttestamentlilchen Offenbarung eine höhere Dignität beigelegt werden, denn der neutestamentlich: so zerstreut der Engel diesen Schein sogleich dadurch, dass er fürs Erste die sieben Wochen nur kurz erwähnt, während er bei der letzten ausführlich verweilt, und dass er sodann jene mit den 62 Wochen zusammennimmt als mit zu der kümmerlichen Zeit gehörig, während er diese abgesondert heraushebt, so dass sie durch ihre ausgezeichnete Stellung, wie durch die Schilderung ihres Inhalts in ihrer erhabenen einzigen Würde klar und bestimmt hervortritt. Andererseits sind doch auch wieder die sieben Wochen von den 62 ausdrücklich abgetrennt, um die eigentümliche, grundlegende Bedeutung der Zeit Esras, Nehemias und Maleachis gegenüber den späteren Jahrhunderten, den Unterschied zwischen den letzten Resten der alttestamentlichen Offenbarung und der offenbarungslosen Zeit bemerkbar machen.

Der A t h n a c h (V. 25) könnte an seiner auffallenden Stelle stehen, um diese Unterscheidung noch deutlicher zu betonen, den auf die sieben Wochen fallenden Nachdruck zu vermehren und denLeser einen Augenblick bei ihnen festzuhalten. Steht er ja doch auch sonst häufig nicht beim Haupteinschnitt des Verses, z. B. V. 2, wo er Verbum und Objekt trennt, namentlich aber Dan 11:5; Hes 34:19; s 36:8; Ps 84:3; Spr 6:26, wo er Subjekt und Verbum trennt, um das erster nachdrücklich, zum Teil gegensätzlich hervorzuheben (vgl. H e n g s t e n b e r g, S. 464). Doch sei diese Auffassung des Athnach nur vermutungsweise hingestellt; wir sind ja keinesfalls schlechthin an die Akzente gebunden, und gerade hier, wo es sich um die Anerkennung Jesu als des Messias handelte, wäre eine unrichtige Akzentuation im Zusammenhang mit einer unrichtigen Auffassung der Stelle aus den jüdischen Vorurteilen der Masorethen leicht begreiflich. Dem sei, wie ihm wolle, so viel liegt jedenfalls im Text, dass die alttestamentliche Offenbarung in ihren letzten Ausläufern einerseits weit über der Herrlichkeit der neuttestamentlichen Offenbarung andererseits wesentlich über der zwischen beiden dazwischen liegenden offenbarungslosen Zeit steht. Und man kann hierin zugleich eine Andeutung des typischen Verhältnisses der sieben ersten Jahrwochen zu der einen letzten, des vorläufigen Heiles nach dem Exil zum vollen, messianischen Heil finden, eine Andeutung, welche bekanntlich die nachexilischen Propheten weiter ausgeführt haben. Die z w e i und s e c h z i g Wochen aber liegen, wie schon erwähnt, mitten drin als die offenbarungslose, als die vorzugsweise kümmerliche Zeit; denn 62 ist eine eckige, den bedeutsamen Grundzahlen fremde Zahl und bezeichnet daher, zumal im Kontrast gegen die beiden göttlichen Zahlen, von denen sie eingeschlossen ist, eine in sich unbedeutende, von göttlicher Offenbarung entblößte Zeit.. Die 7, 62 und 1 Woche verhalten sich zueinander wie das Abendrot, die Nacht und der lichte Tag, auf welchen dann freilich für Israel ein noch dunklere Nacht folgt. Doch fällt auch schon in jene erste Nacht die Trübsalszeit unter Antiochus Epiphanes.

Welch überraschenden, tiefsinnigen Blick eröffnet uns also das Wort des Engels in die kommenden Jahrhunderte! wie legt er, fast durch bloße Zahlensymbolik, die entscheidendsten Punkte der Entwicklung des Reiches Gottes in dieser Zeit uns dar! Die Heilsgeschichte ist von diesen heiligen Zahlen auf eine geheimnisvolle Weise beherrscht, sie sind gleichsam der einfache Grundbau, das Knochengerüst in ihrem Organismus, Es gehört zu unseren Aufgaben, namentlich für die prophetische Theologie, ihnen immer noch tiefer nachzugehen. Von diesem Gesichtspunkt aus verschwindet nun auch der Anstoß, den man an den speziellen, chronologischen angaben unseres Kapitels und überhaupt unseres Propheten undder Apokalyptik genommen hat. Es sind das nicht bloß äußere Zeitbestimmungen, sondern auch innere Wesensbestimmungen. Wie die Natur, so ist auch die Geschichte von Zahlen getragen. Wo wir Ideen zu setzen gewohnt sind, da setzt Schrift und Altertum Zahlen als Grundformen der Dinge. Mathematik ist auch Philosophie, ist Metaphysik.*)

*) R o o s, Einl. in die bibl. Geschichten, S. 85f.: "Gott hat, was man sieht, nach Zahlen und Maßen fein eingerichtet, er hat die Rechenkunst und Messkunst bei den leblosen Dingen aufs Feinste angebracht. Wie muss denn seine Regierung über vernünftige Geschöpfe beschaffen sein? Sie muss lauter Gerechtigkeit, lauter Ordnung sein. Es muss alles nach dem Gehalt seiner Ehre und nach der sittlichen Beschaffenheit der Geschöpfe gezählt und abgemessen sein: die göttliche Mathesis."

Ohne Zweifel werden wir einst erstaunen, wenn wir die Grundlinien aller Weltverhältnisse und Weltentwicklungen so einfach finden werden, während wir viele Künste gesucht haben. Die Alten hatten hierin noch einfältigere, wesenhaftere Blicke, Aber freilich, an Offenbarung im vollen, reellen, übermenschlichen Sinn des Wortes muss man darum doch glauben, wenn man eine Weissagung, wie die unsere, begreifen will. Gerade in derjenigen Offenbarungsform, wo das Übernatürliche, unmittelbar am mächtigsten hervortritt, in der Apologetik, sind die Zahlen am häufigsten. die übernatürlichste Offenbarung führt am tiefsten in das Natürliche hinein, gibt die deutlichsten Winke über die Geheimnisse der Natur und Geschichte; denn der Gott der Offenbarung ist ja kein anderer als der Schöpfer, Erhalter und Regent der Welt.

Auch auf die Z e r l e g u n g der l e t z t e n Woche in zwei Hälften fällt nun ein helles Licht. Jene letzte Zeit des Heiles für viele in Israel, in deren Mitte das alter Opferwesen und mithin der alte Bund überhaupt aufhören soll, ist, wie wir wissen, durch Jesum Christum und seine Apostel gekommen. Durch die Teilung der Woche in zwei Hälften wird Daniel an die ihm schon aus Dan 7:25 bekannte Zeit von 3 1/2 Jahren erinnert. Er weiß von dorther, dass das die Zeit der höchsten Spannung der Gott feindlichen Macht ist, während welcher "die Heiligen des Allerhöchsten in die Hand des Feindes gegeben werden." Es wird aber durch diese Zahl die Weltmacht nicht in ihrer Vollendung bezeichnet, wie durch die Zehn, sondern als eine dem Göttlichen gegenüber, das sich mittelst der Sieben entfaltet, in sich gebrochene, nichtige, deren höchster Triumph zugleich ihre Niederlage wird, wie denn unmittelbar nach den 3 1/2 Zeiten (Dan 7;25.26) das Gericht über den siegreichen Weltfürsten hereinbricht. Das ist also das Wunderbare in dieser letzten Woche, dass einerseits Gott mit seiner ganzen Bundesgnade sich offenbart und andererseits doch die Welt herrscht. Der Heilige Geist ist in der Welt, aber noch nicht in Herrlichkeit, sondern als ein solcher, der in die Hand der Weltmacht daahingegeben wird; er ist da, wohl als Maschiach, ,aber noch nicht als Nagid. Die Welt mit ihrer Sünde und Feindschaft darf ihn plagen, so lang er umher wandelt, und das endet damit, dass er völlig überantwortete wird in der Sünder Hände und durch sie stirbt. Aber indem die Welt zu triumphieren meint, ist eben das Gericht über sie ergangen, ist ihre Macht zerbrochen (Joh 12:31). Der Tod Jesu fällt also in die Mitte der letzten Woche; seine Lehrzeit mit Einschluss der den Anbruch der messianischen Zeit bezeichnenden Wirksamkeit seines Vorläufers Johannes dauerte ungefähr 3 1/2 Jahre. Nimmt man, wie billig, die Wirksamkeit des Täufers hinzu*), so wird man auch hier die Erfüllung der Weissagung nicht, wie H e n g s t e n b e r g (S. 561ff.), von unsicheren chronologischen Annahmen abhängig machen müssen.

*) So auch B e n g e l in der erssten Ausgabe der "Harmonie der Evangelisten", wo er eine Ansicht vorträgt, die ganz mit der unseren zusammenstimmt: er rechnet die 70 Wochen (à 7 Jahre) von dem siebten Jahre des Artaxerxes und die letzte Woche vom Amtsantritt des Täufers an. Später nahm er durch seine irrige apokalyptische Zeitrechnung verleitet, die Jahrwoche = 7 59/63 Jahre. Da wäre ja aber die Berechnung vor der Offb also gerade in der Zeit, für welche die Weissagung vorzüglich bestimmt war, nicht mögliche gewesen.

Dass aber durch die Darbringung des neutestamentlichen Opfer- und überhaupt Gottesdienst abgeschafft sei, das stellte sich ausdrücklich in der Zerreißung des Tempelvorhangs dar, mit welchem bekanntlich das Opferwesen in der innigsten Verbindung stand, indem das Blut bei feierlichen Sündopfern gegen ihn als die Tür zum Allerheiligsten, zur Wohnung Jehovas, gesprengt und am großen Versöhnungstag durch ihn hineingetragen werden musste (3Mo 4:6.17; 3Mo 16:2.15)*)

*) Vgl. B ä h r, Symbolik des mos. Kultus II, S. 359. M a r t e n s e n, christl. Dogmatik, 2. Aufl.. S. 356: "Als der Erlöser am Kreuze ausrief: es ist vollbracht! da zerriss der Vorhang im Tempel; denn nun war der ganze alte Opferdienst abgeschafft.

Wir dürfen also jenes Ereignis ebenso als eine Erfüllung unserer Weissagung ansehen, wie nach dem früher Gesagten die Überschrift des Kreuzes. Dem Wesen nach waren seitdem Schlachtopfer und Speisopfer abgeschafft, wenn auch die äußere Darbringung derselben nach Christi Tod noch Jahrzehnte lang fortging.Vor jenem himmlischen Blick, der den Dingen und Menschen ins Herz schaut, und den wir durchweg bei dem Engel finden, wurde der Gottesdienst des unbußfertigen, halsstarrigen, selbstgerechten Volkes von nun an immer mehr zum Götzengräuel. Auch hier wieder stellt sich uns jenes Gesetz der überirdischen, wesenhaften Taxierung der Ereignisse dar, dem wir schon oben begegneten und sogleich wieder begegnen werden. Dass dadurch die Genauigkeit der irdischen Chronologie nicht im Mindesten beeinträchtigt wird, davon haben wir uns überzeugt. (Gegen W i e s e l e r, S 84f.)

Der Endpunkt der siebzig Wochen

Die zweite Hälfte der letzten Woche und somit der E n d p u n k t der s i e b z i g Wochen, ist also in der apostolischen Zeit zu suchen, 3-4 Jahre nach dem Tode Jesu. Das ist nun auf den ersten Anblick ein noch dunklerer, noch weniger hervortretender als der Anfangstermin. Und hierin haben wir wieder den notwendigen Rätselcharakter unserer Weissagung, von dem wir schon oben gezeigt haben, dass er durch die heilige Würde der göttlichen Offenbarung gefordert war, weil sonst die Prophetie zur Prophezeiung, die Weissagung zur Wahrsagung geworden wäre. Wie wir indes bei näherer Betrachtung den Anfang der siebzig Wochen an ein bedeutungsloses, im Worte Gottes selbst dem Forscher sich darlegendes Ereignis geknüpft sahen: so ist es auch beim Schlusspunkt. Eine Zeit von 3-4 Jahren nach Christi Tod nämlich muss es etwa - genauere chronologische Daten sind uns nicht aufbewahrt - gewesen sein, in welcher das Evangelium ausschließlich den Juden verkündigt wurde, und in welcher die Christengemeinde Gnade bei dem ganzen Volk hatte (Apg 2:47; Apg 5:13.14). Dann aber brachen die Verfolgungen von Seiten Israels über die apostolische Kirche aus, Stephanus fiel als der erste Märtyrer (Apg 7); und nur war die dem Volk auch nach der dreijährigen Wirksamkeit Jesu noch gegebene Gnadenfrist (Lk 13:6-9) zu Ende, nun machten die Juden das durch die Ermordung des Messias schon erfüllte Maß ihrer Sünden noch gedrückt, gerüttelt und überfließend voll (Mt 23:32-38). Das Gericht über Israel konnte nicht hereinbrechen, bevor ihm die letzten und höchsten Gnadenoffenbarungen dargeboten waren, nicht bloß der Sohn Gottes, sondern auch noch der heilige Geist (vgl. Mt 21:33-41 mit Mt 23:24). Als aber das Volk auch diesen von sich stieß, da war es innerlich tot, wie die ersten Menschen vom Tage des Sündenfalls an, da war es schon ein verfluchter Feigenbaum, eine weggeworfene Rebe, die nur noch des richtenden Feuers harrte, ein Aas, um welches sich bald auch die Geier sammeln mussten (Mk 11:12ff.; Joh 15:6; Mt 24:28).

Daher wendet sich die Apostelgeschichte, was sehr bemerkenswert ist, von dem Tod des Stephanus, von Apg 8 an, in ihrer Erzählung von den Juden weg und beschreibt nun, wie das Evangelium allmählich zu den Heiden überging. So wird also dieses merkwürdige Buch durch seine ganze Geschichtsdarstellung, deren tiefe und heilige Planmäßigkeit Michael B a u m g a r t e n so schön entwickelt hat, ein beredter Zeuge für die Erfüllung unserer Weissagung und leistet uns, gewiss nicht ohne göttliche Veranstaltung, für den Endpunkt derselben den gleichen Dienst wie Esra und Nehemia für den Anfangspunkt. Die Vollstreckung des göttlichen Strafurteils über Israel durch die römische Weltmacht unter Titus wird zwar von dem Engel noch hervorgehoben, gehört aber ebenso wenig mehr zu den siebzig Wochen im eigentlichen Sinn, als sie im N. T. historisch berichtet wird. Das Fehlen der Sache erklärt sich an dem einen Ort aus demselben Grund, wie an dem andern. Nachdem einmal Israel das Heil von sich gestoßen hat, ist es nichtmehr Gegenstand der heiligen, sondern nur noch der profanen Geschichte.

Das neunte Kapitel Daniels reicht nach allem Bisherigen bis zum Abschluss der ersten messianischen Periode mit ihrem Heil und ihrem Gericht, bis zur Verwerfung Christi durch Israel und daher wieder Israels durch Christum, bis zum "Abbrechen der mit Abraham beginnenden Geschichte bei dem Gericht über das Bundesvolk, das Titus auszuführen berufen war". (K u r t z, Gesch. des Alten Bundes, I. 2. Aufl., S. 95). Von da an ist das Reich Gottes von Israel genommen und den Heiden gegeben (Mt 21:43) bis zur zweigen Ankunft des Messias, bei welcher das Bundesvolk sich bekehren und den nach Gottes unwiderruflicher Wahl ihm gebührenden Platz an der Spitze der Menschheit einnehmen wird. (Mt 23:39; Apg 1:6.7; Apg 3:19-21). Diese zweite Ankunft des Messias in Herrlichkeit und die daran sich knüpfende Aufrichtung des Reiches Israels hat Daniel im siebten Kapitel geschaut; die Zwischenzeit aber zwischen den beiden messianischen Epochen oder zwischen der Zerstörung Jerusalems und der Bekehrung von ganz Israel, jene Zeiten der Heiden (Lk 21:24(), welche, durch die vierte Monarchie ausgefüllt, für das Bundesvolk eine große Parenthese bilden, sind für unsern Propheten seinem alttestamentlichen, israelitischen Standpunkt gemäß noch in ziemliches Dunkel gehüllt. Und eben in diese Lücke werden wir die johanneische Apokalypse eintreten sehen.

Zweites Kapitel

Die modernen Auffassungen

Hat sich durch unsere bisherige Untersuchung die uralte kirchliche Deutung der 70Wochen aufs Neue bewährt; so ist hierdurch der modernen Kritik von rein exegetischen Standpunkt aus ein tödlicher Schlag versetzt. Die Hauptinstanz derselben, auf welche ihre ganze Hypothese über unser Buch sich gründet, dass es nämlich nur bis auf Antiochus Epiphanes reiche, ist untergraben. Ob diese genau chronologische Weissagung 200 oder 600 Jahre vor ihrer Erfüllung, ob sie unter Antiochus oder Darius gegeben ist, weil Wunder bleibt sie so wie so. Natürlich ist es aber noch niemand, der sich zur richtigen Auffassung derselben bekannte, eingefallen, Daniel für unecht zu erklären; denn ein solcher ist überhaupt innerlich frei von der rationalisierenden Scheu vor speziellen Weissagungen.

In dieser Beziehung gewährt das neunte Kapitel, richtig erklärt, noch einen andern bedeutenden Geiss, nämlich in Bezug auf das elfte Kapitel, welches mit seinen so ungemein detaillierten historischen Aufschlüssen auch für Offenbarungsgläubige manchmal einen Anstoß bei unserm Buch bildet. Schon oben musste von verschiedenen Gesichtspunkten aus darauf aufmerksam gemacht werden, wie eng verwandt diese beiden Offenbarungen in formeller Hinsicht sind. Beide hat Daniel nach längerer Vorbereitung durch Gebet und Fasten, wie es scheint, im wachen Zustand empfangen. Beide kommen ihm einfach und bildlos durch Engelwort zu; hierdurch aber sind die speziellsten Aufschlüsse nicht nur möglich, sondern die Mitteilung derselben durch Engel motiviert sich umso überzeugender, wenn wir die übrigen Andeutungen gerade unseres Buches über den mächtigen Einfluss der Engel auf die Weltbegebenheiten hinzunehmen, wovon schon oben die Rede war.*)

*) Wie Daniel die E n g e l w e l t in der Anschauung immer gegenwärtig hatte, geht insbesondere auch daraus hervor, dass er oft einfach die dritte Person des Plurals setzt, zu der als Subjekt, wie schon Abenesra tut, die Engel zu ergänzen sind, und ie man im Deutschen etwa durch "man" übersetzen wird, vgl. Dan 2:30; Dan 4:13.28 und H i t z i g zu letzterer Stelle. Ebenso sagt Jesus wie Luther übersetzt: "diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern." Vgl. auch schon Hi 4:19; Hi 7:3 und wieder Offb 12:6.

Beide Offenbarungen endlich sind die letzten des ganzen Buches, und wir wissen, wie der Fortschritt der einzelnen Weissagungen in der zunehmenden Spezialität liegt. Vergleichen wir nun in dieser Hinsicht das elfte Kapitel mit dem neunten, so legt sich von selbst die Frage nahe: Ist etwas das chronologische Detail in dem letzteren begreifbarer und weniger wundervoll als das historische im ersteren? Auf das größere oder geringere Quantum des mitgeteilten Stoffes kann es doch nicht ankommen. Die richtige Auffassung des neunten Kapitels wird also für den, der konsequent zu denken imstande ist, eine bedeutende innere Kraft besitzen zur Beseitigung des Anstoßes, welchen er etwa am elften genommen hat.

Umso wichtiger ist es aber nun, dass wir die gegnerischen Ansichten sorgfältig prüfen, ob sie nicht etwa auch ihre Berechtigung in dem immerhin rätselhaften Text nachzuweisen oder ganz einzelne Schwierigkeiten befriedigender zu lösen vermögen als unsere Erklärung. Diese Aufgabe gewinnt an Bedeutung, wenn wir erwägen, dass unter den Gegnern der letzteren auch ein Mann sich befindet, welcher mit großer Entschiedenheit an der Echtheit Daniels festhält, und mit welchem wir sonst in Bezug auf unsern Propheten Hand in Hand gehen können, J. Chr. K. H o f m a n n in Erlangen. Nachdem H e n g s t e n b e r g in seiner Christologie (a.a.D.) im Jahr 1832 die Weissagung von den siebzig Jahrwochen ausführlich behandelt und die kirchliche Auffassung neu begründet hatte, erschienen neben andern weniger bedeutenden Abhandlungen (vgl. Hitzig, S. 153) 1836 und 1839 zwei Monographien über denselben Gegenstand, welche wir beide schon wiederholt anführen mussten, die erste eben von H o f m a n n (die 70 Jahre des Jer. und die 70 Jahrwochen des Dan. zwei exeget.-histor. Untersuchungen, Nürnb. 1836) die zweite von W i e s e l e r (Die 70 Wochen und die 63 Jahrwochen des Propheten Daniel, Göttingen 1839. Auffallend ist, dass Wieseler die, drei Jahre vor der seinigen erschienene Schrift Hofmanns garnicht berücksichtigt hat.) Diese beiden Theologen bekämpfen Hengstenberg und stimmen untereinander in wesentlichen Punkten überein; beide haben sich später noch einmal über unsern Gegenstand geäußert, Hofmann in seiner "Weissagung und Erfüllung", die frühere Auffassung bestätigend, Wieseler in seiner Rezension des bekannten Werkes des Herzogs von Manchester "Time of Daniel" (Gött. gel. Anz. 1846; S. 113ff.), die frühere Ansicht modifizierend, so dass jetzt eigentlich nur noch diese letztere Darstellung von ihm in Betracht kommt. Ihnen schließt sich H i t z i g in seinem Kommentar an. E w a l d hat im zweiten Band seiner "Propheten des Alten Bundes 1841", wie Hengstenberg in der Christologie, von dem ganzen Buch Daniels nur unsere Stelle näher erklärt (S. 567-72). Wir sehen, die kurzen vier Verse, um die es sich handelt, haben in vorzügliche Maße die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, - weil für die ganze danielische Frage so viel an denselben hängt. Die früheren, schon von H e n g s t e n b e r g oder nach ihm von H ä v e r n i c k berücksichtigten Gegner unserer Auffassung können wir übergehen. Vgl. über sie auch H i t z i g, S 173f.; W i e s e l e r, die 70 Woche, S 69ff.

I. Die Ansichten Ewalds, Hofmanns, Wieselers u. Hitzigs

Diese vier Ausleger stimmen darin zusammen, dass sie wie schon B e r t h o l d t , E i c h h o r n , v. L e n g e r c k e u. a., die letzte Woche für die Drangsalszeit nehmen, welche Israel unter Antiochus Epiphanes erlebt hat. In der Auffassung der 7 und der 62 Wochen gehen sie aber wesentlich auseinander. E w a l d steht hier zunächst für sich allein den drei anderen gegenüber, indem er anerkennt, was freilich nie hätte geleugnet werden sollen, dass die siebzig Wochen ein kontinuierliches Ganzes bilden, und dass ihre einzelnen Teile sich in derselben Reihenfolge nacheinander anschließen müssen, wie sie im Text genannt sind. Zuerst die 7, dann die 62 und zuletzt die 1 Woche. Als den V. 25 bezeichneten Anfangstermin betrachtet Ewald nach Jer 25:1, indem er dies Prophetenwort Jeremias unter dem "Ausgang des Wortes" versteht, das vierte Jahr Jojakims oder das Jahr 607 v. Chr. und rechnet nun von hier an die ersten 7 Wochen bis auf Kyrus (536), welchen er also für den Maschiach Nagid hält, die 62 Wochen von Kyrus bis zu dem Jahr 176 erfolgten, gewaltsamen Tode des Vorgängers Antiochus Epiphanes, Seleukus IV. Philapator, welchen er also als den Maschiach nimmt; endlich die letzte Woche ist die Zeit des Antiochus Epiphanes, der also der Nagid ist, von 176-166. Nun gesteht Ewald selber ein, dass hierbei weder die 70 Wochen im Ganzen, noch die einzelnen Teile derselben zutreffen. Damit ist aber diese Erklärung von sich selbst so völlig aufgegeben, dass es kaum noch Not tut, darauf aufmerksam zu machen, wie sich das Jahr, in welchem Jer 25 gesprochen wurde, unmöglich zum Anfangstermin der Zählung nehmen lässt; denn dieses Gotteswort hat nicht den Wiederaufbau, sondern umgekehrt die Zerstörung Jerusalems zu seinem Inhalt - auf diesem Sachverhalt ruht ja unser ganzes Textkapitel, wie auch H i t z i g (S. 158.174) anerkennt. Wir nehmen also von Ewald das Zugeständnis an, das wir den drei anderen Erklärern entgegensetzen, und das freilich im Text selber so klar wie möglich gefordert ist, dass die 7 Wochen unmittelbar for die 62 und sonst nirgends hingehören.

Es stimmen nämlich H o f m a n n, W i e s e l e r und H i t z i g darin überein, dass sie die sieben ersten Wochen von den übrigen trennen und die 62 Wochen oder 434 Jahre, nur aus verschiedenen Gründen, ungefähr von demselben Zeitpunkt, mit welchem Ewald die ganze Rechnung beginnt, 606 oder 605 v. Chr. anheben und bis ins Jahr 171 oder 170 herabgehen lassen, wo die Misshandlung Israels durch den Nagid Antiochus anfängt, welche die letzte Woche ausfüllt. Unter dem Gesalbten, der nach 62 Wochen weggerafft wird, verstehen sie den Hohenpriester Onias III., auf dessen Ermordung W i e s e l e r und H i t z i g, auf dessen Absetzung H o f m a n n das יִכָּרֵת deutet. Die letzte Woche geht herab bis zum Tod des Antiochus Epiphanes um Jahr 164; in ihrer Mitte wurde durch diesem König der Gottesdienst ("Schlacht- und Speisopfer") abgeschafft und der Götzendienst eingeführt. Dieselbe Zeit also, welche E w a l d durch die Gesamtheit der 70 Wochen ausgefüllt sein lässt nehmen die drei andern Ausleger nur für die 62 und 1 Wochen in Anspruch. Dadurch vermeiden sie die chronologischen Schwierigkeiten, welche die Ewald'sche Ansicht unmöglich machen, und erhalten wirklich ein genaues Zutreffen der Jahre.

So einig nun aber diese Ausleger in der Bestimmung der 63 Wochen im Wesentlichen sind, so weit gehen sie in der Bestimmung der s i e b e n Wochen auseinander. H i t z i g, in der Hauptsache an E i c h h o r n sich anschließend, versteht unter dem Ausgang des Wortes V. 25 das Orakel Jer 30 und 31, das, wie aus Jer 31:15 hervorgehen soll, ins Jahr der Zerstörung Jerusalems falle, und unter dem Maschiach Nagid ebenfalls den Kyrus; er rechnete demnach die 7 Wochen von 588 an bis 539, wo Kyrus zuerst in den Gesichtskreis der Juden getreten sei. Die 7 Wochen fallen ihm also zwischen die 62 hinein und sind ein Teil derselben. W i e s e l e r und H o f m a n n erkennen an, dass unter dem Maschiach Nagid der Messias zu verstehen sei. W i e s e l e r will nun aber die 7 Wochen an den Schluss der 63 Jahre anfügen und vom Jahr 164 v. Chr. an zählen: also im Jahr 115 v. Chr. ungefähr "hätte der Messias kommen sollen. allein in dieser Strenge seien die Worte selber schwerlich gemeint. Der Sinn solle vielmehr wohl nur im Allgemeinen der sein: dann, in nicht gar langer Zeit, etwa nach 7x7 Jahren, in einem vorzugsweise geistig zu deutenden Jubeljahr werde der Messias erscheinen." H o f m a n n endlich denkt nicht an die erste, jetzt schon vergangene Erscheinung Christi, sondern an seine künftige. Er versteht unter dem Ausgang des Wortes, welcher den terminus a quo für die Zählung der 7 Wochen bildet, eine auch für uns noch in unbestimmter Zukunft liegende göttliche Aufforderung an Israel, Jerusalem wieder herzustellen, und der Endpunkt der 7 Wochen ist die Vollendung des Bestandes des neuen Jerusalems unter seinem fürstlichen König.

Es ist zuzugestehen, dass die Erklärung, welche diese drei Exegeten von den 62 und 1 Wochen geben, auf den ersten Blick etwas sehr Gefälliges und Blendendes hat. Daraus erklärt es sich auch, dass Ausleger, die sonst in allem so weit voneinander verschieden sind, wie die drei genannten, in diesem Punkt zusammenstimmen. Aber wenn uns das auffallende Zutreffen der Jahre einen Augenblick für die bezeichnete Auffassung einnehmen kann: so darf man nur die Berechnung der 7 Wochen bei jenen Erklärern daneben stellen,um es jedem sogleich einleuchtend zu machen, dass wir hier einen der bei apokalyptischen Deutungen so häufig vorkommenden Fälle vor uns haben, wo sich scharfsinnige Männer durch ein auffälliges, aber doch nur zufälliges Eintreffen von Zahlen blenden und irreführen lassen. Denn es ist schwer zu sagen, was diesen Erklärungen ungünstiger ist, wenn man sie miteinander vergleicht, wo die ungeheure Different in der Bestimmung der sieben Wochen einen - man wird nicht anders sagen können, als komischen Eindruck hervorbringt, oder wenn man jede einzeln für sich betrachtet, wo die reine Willkürlichkeit in der Behandlung dieser vom Engel vorangestellten Periode, das völlig gezwungene, mit dem Text unvereinbare Herumsuchen nach irgendwelcher Unterbringung der unbequemen sieben Wochen sogleich in die Augen springt. Durch beides erweisen sich diese Auffassungen der 49 Jahre sämtlich als Auskünfte der Verlegenheit, und damit ist im Grunde diese ganze Erklärungsart unserer Weissagung schon im voraus gerichtet. Denn wenn wir auch noch von dem speziellen Inhalt der Engelworte absehen, so viel ist schon hier klar, dass alle drei Ausleger in Wahrheit nur für 63 Wochen Raum haben, und so den Nerv der ganzen Sache, die Zahl 70, nicht erklären können. Darum sind von ihnen beinahe alle überhauppt denkbaren Möglichkeiten in Bezug auf die Unterbringung der sieben Wochen versucht worden. Während sie nach dem Text einfach vor die 63 hingehören, hat man sie teils dazwischen hineingeschoben, teils an den Schluss derselben gestellt, teils ganz von denselben getrennt, um sie erst nach Jahrtausenden eintreten zu lassen. Es wäre jetzt nur noch übrig, dass jemand den Einfall durchführte, dieselben seien schon ein paar Jahrtausende vor den 63 Wochen da gewesen. Offenbar ist die Ansicht E w a l d s von dem gegnerischen Standpunkt aus die allein textgemäße; und wenn sie nicht durch alle in Betracht kommende Zahlen zu handgreiflich widerlegt würde, so wäre es wohl schwerlich jemand in den Sinn gekommen, die 7 Wochen vorne wegzuschneiden. Doch gehen wir näher und sorgfältiger auf das Einzelne ein.

II. Beurteilung dieser Ansichten

Die chronologische Berechnung

Wir beginnen mit dem Punkt, auf welchen wir durch unsere letzten Bemerkungen zunächst hingeleitet worden sind, mit der Berechnung der 70 oder zunächst nur der 62, beziehungsweise 63 Jahrwochen. Auch gegen diese, so scheinbar sie ist, haben wir einen doppelten Einwand, wozu dann noch ein dritter in Bezug auf die Gesamtanschauung der 70 Wochen kommt.

1) Was den Ausgangspunkt der Berechnung betrifft, so stimmen die drei Ausleger wohl in dem Jahr, 606-605 v. Chr. überein, aber aus ganz verschiedenen Gründen. Ist nun diese Verschiedenheit der Motivierung an sich schon wieder nicht geeignet, Zutrauen zu der ganzen Sache einzuflößen, legt sie vielmehr den Gedanken nahe, dass man eben nur das Jahr haben wollte, weil es geschickt in die Rechnung passt, und hernach erst um Gründe für dasselbe sich umsah, wobei der eine auf diesen, der andere auf jenen kam: so lässt sich auch zeigen, dass keiner dieser Gründe wirklich stichhaltig ist.

H o f m a n n meint (Weiss. u. Erf. I, S 296), bei der ganzen Weissagung werde Gewissheit über den Anfangspunkt der Berechnung schon vorausgesetzt; derselbe könne an Dan 9:2 in keinem andern Jahr gefunden werden, als in demjenigen da Jerusalem "zu Trümmern" gemacht wurde. Also die Zerstörung Jerusalems wäre der Anfangspunkt der 62 Wochen; diese fällt aber nach Hofmanns eigentümlicher Berechnung in das Jahr 605 v. Chr. Wir wollen es dahingestellt sein lassen, dass hier, ähnlich wie bei H e n g s t e n b e r g, die ganze Sache auf die Nadelspitze einer chronologischen Privatmeinung gestellt ist, und erinnern nur daran, dass unseres Wissens die Hofmann'sche Ansicht, Jerusalem se, statt im Jahr 588 schon 605 zerstört worden, bis jetzt noch weniger Freunde gewissen konnte als die Hengstenberg'sche über den Regierungsantritt Artaxerxes. Wäre auch die Hofmann'sche Chronologie richtig, so wäre darum seine Ansicht über den Anfangstermin der 62 Wochen nicht haltbarer. V. 25 ist also nach Hofmann so zu erklären: Von dem (auch für uns noch zukünftigen) Ausgang des göttlichen Befehls zur Wiedererbauung Jerusalems bis auf (die zweite Erscheinung des) Messias sind 7 Wochen; und (von der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar an) in 62 Wochen wird die Stadt wieder gebaut werden. Wem in aller Welt wird es aber einfallen, wenn Daniel um die Wiederherstellung der Stadt gebetet hat, unter dem "Ausgang des Wortes Jerusalem wieder herzustellen etwas anderes zu verstehen als ein auf den nächst bevorstehenden Wiederaufbau bezügliches Gotteswort? Unmöglich war es für Daniel hier an ein zweites, weit späteres Gotteswort zu denken. Wem wird es einfallen, nachdem in den Worten: "Vom Ausgang des Wortes Jerusalem wieder zu bauen" ein Anfangstermin klar bezeichnet ist, fünf Worte später einen anderen und zwar den gerade entgegengesetzten Anfangstermin, von welchem im Wortlaut und Zusammenhang des Textes auch nicht die geringste Andeutung sich findet, hineinzudenken? Wem wird es einfallen, dass der zuerst genannte Anfangstermin später anzusetzen sein soll als der nachher - nicht genannte? Wem wird es einfallen, ,bei den ganz gleich lautenden Worten in demselben Vers "herstellen und bauen" an zwei verschiedene Erbauungen zu denken, welche um mindestens drei halbe Jahrtausende auseinander liegen sollen? Es ist das wohl einer der stärksten Gewaltstreiche Hofmann'scher Exegese.

W i e s e l e r kommt (a.a.D. S. 124-126) durch eine ganz andere Auffassung von V 25 auf das Jahr 606. Er erkennt den "Ausgang des Worts, Jerusalem wieder zu bauen" als Anfangspunkt der Zählung an, versteht aber unter diesem "Wort" wie E w a l d, das Orakel Jer 25, das nach V. 1 in jenes Jahr fällt. Dies ist aber aus dem schon gegen Ewald geltend gemachten, auch von H i t z i g anerkannten Grunde unmöglich. Nicht minder unmöglich ist die Operation, welche Wieseler weiter mit dem Text unseres 25. Verse vornimmt, um die sieben Wochen vorn hinwegzubringen und hinten an die 63 anfügen zu können. Er will nämlich die Worte מִן־מֹצָא-יְרֽוּשָׁלִַם eng mit den vorhergehenden Worten וְתֵדַע וְתַשְׂכֵּל verbinden und nach יְרֽוּשָׁלִַם stärker interpungieren. Es soll zunächst "der teminus a quo der 70 Wochen durch hinzugefügte וְתֵדַע וְתַשְׂכֵּל aufs Schärfste markiert werden, was des Verständnisses wegen auch durchaus notwendig war." Allein das auch zuzugeben, was gibt nun Wieselern das Recht, die folgenden Worte עַד־מָשִׁיחַ נָגִיד שָׁבֻעִים שִׁבְעָה hier aus dem Text zu werfen, um sie am Schluss von V. 27 anzufügen, und damit zugleich das מִן־מֹצָא נָגִי stillschweigend von dem עַד־מָשִׁיחַ נָגִי hinweg und vor das וְשָׁבֻעִים שִׁשִּׁים וּשְׁנַיִם hinunter zu schieben? "Die Berechtigung, oben die sieben Wochen wegzunehmen und unten anzusetzen, ist nicht dargetan" bemerkt H i t z i g S. 174 mit Recht gegen diese kühne Operation.

Was nun aber H i t z i g selbst betrifft, so gibt er sich eigentlich gar nicht die Mühe, einen Grund aufzuzeigen, warum die 62 Wochen gerade von 606 an zu zählen seien. Er lässt (s. namentlich S. 169f.) seinen Falsarius ganz unbefangen rückwärts zählen und in kreuz und quer rechnen, gerade so, wie es etwa ein Exeget in seinen Verlegenheiten tun mag. Überhaupt muss gegen die unwürdige Art, in welcher Hitzig, zumal im Daniel, das alttestamentliche Wort behandelt*), im Namen der evangelischen Theologie protestiert werden. Von einer auslegung, die alle Pietät gegen den heiligen Text so ganz verloren hat, dass sie z. B. statt bei sich selbst, bei dem Propheten (oder vielmehr bei dem Engel) von dem ??? in der Rechnung" redet, kann man sich nur mit tiefer Entrüstung wegwenden. Übrigens hat diese Auslegung dadurch, dass sie das Vorhandensein eines ??, und zwar eben in den 7 Wochen, anerkennt, sich selbst das Urteil gesprochen. Es ist nur in dieser Hinsicht, wenn Hitzig S. 170 sagt: " das ???? in der Rechnung bilden die sieben Wochen, welche der Verfasser unterbringen musste.

*) Proben S. 168: "Die Ausleger sind hier selbst mit allerlei SchiPUZIM in die Wochen gekommen." S. 17. in Bezug auf Daniel selbst (Kap. 2): "Wenn die Zusammensetzung aus vier Metallen wenig Geschmack beurkundet, so hat die Ausführung auch noch weiter viel Anstößiges und ist im ganzen eine misslungene" usw. Der Verfasser sagt immer vom Buch Daniel, was vom Buch Hitzig gilt.

2) Wird so jede dieser Erklärungen für sich von Schwierigkeiten gedrückt, welche sie unannehmbar machen: so fällt ihnen allen gemeinsam noch eine weitere zur Last. Der Text sagt V. 25 nach H i t z i g s eigener Übersetzung: "während 62 Wochen - oder nach E w a l d s Übersetzung: 62 Wochen hindurch wir Jerusalem wieder hergestellt und gebaut." Beginnt man nun die 62 Wochen mit dem Jahr 606, so würde ja das ganze Exil, während dessen Jerusalem gerade wüst lag, worauf in unserm Kapitel aller Nachdruck fällt, unterschiedslos mit zur Erbauungsszeit der Stadt gerechnet, was widersinnig ist. H o f m a n n z. B. fühlt auch das Gewicht dieses Einwurfs; aber was er (die 70 Jahr S 106f. Weiss. u. Erf. S 302) zu seiner Beseitigung beibringt, wird schwerlich jemand befriedigend finden, zumal, wenn er die Grundanschauungen sich vergegenwärtigt, von denen unser ganzes Kapitel ausgeht.

3) Das Bisherige bezieht sich nur auf den Ausgangspunkt der Berechnung und auf die hieraus sich ergebende Anschauung der 62 Wochen. Wir müssen nun aber auch noch die Gesamtanschauung der 70 Jahrwochen ins Auge fassen, wie sie sich für diese Erklärer ergibt. Denn das ist doch eigentlich der Prüfstein des Ganzen.

In dieser Hinsicht hat H o f m a n n s Auffassung das gegen sich, dass zwischen den 63 und den 7 Wochen eine ganz unabsehbare Kluft befestigt ist, wodurch die Gesamtrechnung und dadurch die Weissagung überhaupt allen Halt verliert, und das mit solchem Nachdruck vorangestellte Grundwort von den 70 Wochen rein illusorisch wird. Die Sache gestaltet sich gerade so wie wenn ich etwa sagen wollte: der altrömische Staat, welcher von 752 v. Chr. bis 476 n. Chr. bestand, habe ungefähr 700-800 Jahre gedauert: 240 Jahre bis zur Vertreibung der Könige und dann wieder etwa 500 Jahre von der Aufrichtung des Kaisertums an; die in der Mitte liegende republikanische Zeit komme nicht in Betracht. So ungefähr, nur noch schneidender, verhalten sich bei Hofmann die 63 und die 7 Wochen. Die Zeit vom Jahr 164 v. Chr. an bis in eine auch für noch unbestimmte Zukunft wir einfach herausgeschnitten. Mit welchem Recht? danach fragen wir vergeblich. Die Übergehung einer Zwischenperiode wäre noch eher zu rechtfertigen, wenn der Punkt, wo der erste Zeitraum abgebrochen wird, ein für die Entwicklung Israel im großen Ganzen entscheidender wäre, wie z. B. die Zerstörung Jerusalems durch Titus. Da, könnte man etwa sagen, beginnen die ???; da beginnt für Israel eine große Paranthese, die erst mit seiner einstigen Wiedersammlung und Bekehrung beschlossen werden wird. (So ungefähr die oben angeführten Vorlesungen über Daniel (S. 106), die Calwer Bibelerklärung u. a., welche die letzte Woche auf die Zeiten des Antichrists beziehen).

Aber warum die Weissagung über "das Volk und die heilige Stadt" mit dem Tod des Antiochus Epiphanes abbrechen sollte, davon sieht man in der Tat keinen Grund ein, da ja, Dank den Weissagungen des 8. und 11. Kapitels, die Israel damals drohende Gefahr ohne wesentlichen Schaden vorüberging, und das Volk noch mehr als 200 Jahre seine Existenz in gleicher Weise, wie zuvor, fristete. Hätte Antiochus Epiphanes etwa Jerusalem zerstört, so ließe sich auch noch eher begreifen, wie von da an auf ein neues Gotteswort, Jerusalem wiederherzustellen, hätte übersprungen werden können. So aber ist es wohl einleuchtend, warum die Weissagungen des 8. und 11. Kapitels überhaupt mit dem Tod des Antiochus schließen; allein das ist nicht begreiflich, dass eine Offenbarung, die nach Hofmanns eigener Meinung auch noch Israels weiteres Schicksal im Auge hat, gerade bei diesem Punkt abbrechen sollte. Wichtigere Ereignisse, wie die erste Erscheinung des Messias und die Zerstörung Jerusalems durch Titus wären dann mit völligem Stillschweigen übergangen, und das ist noch viel unwahrscheinlicher, als die doch auch schon hinlänglich große Unwahrscheinlichkeit, dass in den 62, dem Wiederaufbau Jerusalems gewidmeten Wochen auch die Zeit seiner Zertrümmerung mit eingeschlossen gewesen sei. Was musste doch dieser Engel für eine seltsame Geschichtsbetrachtung haben!

Gegen dieser Erklärung ist W i e s e l e r s Auffassung insofern im Vorteil, als er in den 70 Jahrwochen doch wenigstens ein kontinuierliches Ganzes hat. Allein wir haben schon gezeigt, dass es mit dem Text unvereinbar ist, die 7 Wochen vorn wegzunehmen und hinten anzuhängen. Und es kann hier noch hinzugefügt werden, dass Wieseler selbst in seiner früheren Schrift (S. 71) die von ihm später angenommene, schon zuvor von C o r r o d i (kritische Geschichte des Chilasmus, I, S. 247ff.) aufgestellte Ansicht mit den kurzen und treffenden Worten verwirft: "Die Willkürlichkeit und Untextmäßigkeit einer solchen Verrschiebung liegt auf der Hand." Aber auch abgesehen hiervon ist diese Corrodi-Wieserler'sche Ansicht durch die bedeutende Inkongruenz zwischen Weissagung und Erfüllung gerichtet. Was soll es doch heißen, Christus hätte eigentlich 115 v. Chr. kommen sollen? Sollte der Meister der biblischen Chronologie im Ernst glauben, die Bibel verstehe sich auf die Chronologie so schlecht? Und sollte er nicht unterdessen auch von dieser Auffassung wieder zurückgekommen sein, nach welcher die Weissagung einer matt geschobenen Kugel gliche, die zufällig irgendwo unterwegs liegenbleibt, ehe sie das bestimmte Ziel erreicht hat?

Was endlich H i t z i g betrifft, so fällt zunächst die gesuchte und unnatürliche Art in die Augen, auf welche er den "Ausgang des Worts" historisch nachzuweisen sucht. In der richtigen Erkenntnis, dass Jer 25 nicht gemeint sein kann, suchte er in der Gegend dieses Kapitels nach einer anderen Weissagung, wo vom Wiederaufbau Jerusalems die Rede ist. Es bot sich Kap 30 und 31 an. Aber unglücklicherweise ist diese Offenbarung ohne Zeitangabe, so dass sie sich zu einem chronologischen Anfangstermin schlecht zu eignen scheint. Doch auch hier konnte Rat werden. Es soll nämlich Jer 31:15, wo von der Klage Rahels über ihre gefallenen Söhne die Rede ist, eine Andeutung sein, dass diese Kapitel ins Jahr der Zerstörung Jerusalems gehören. Man weiß nicht, was hier willkürlicher ist, den Herausgriff dieses einzelnen Gottesworts, dem ebenso gut zehn andere desselben Inhalts zur Seite gestellt werden könnten, oder die Herleitung der Zeitbestimmung aus Jer 31:15, oder die Annahme, diese jedenfalls ganz versteckte historische Anspielung sei im Ernst als der terminus a quo der sieben Wochen gemeint. Was nun aber das Ganze betrifft, so ist die Hineinschiebung der 7 Wochen zwischen die 62 zu handgreiflich unvereinbar mit dem Text, als dass sie einer Widerlegung bedürfte. Wie hätte da noch ein Vernünftiger von 70 Wochen reden können? Das verstößt ja gegen die ersten Regeln des Addierens und ist gerade so, wie wenn einer sagte, das Wort Daniel bestehe aus 8 Buchstaben: D, a, n, i, e sind 5, l ist 6, dann müssen a und n noch einmal gezählt werden: macht 8. Dass bei dieser Auffassung auch V. 24, eine der tiefsten und erhabensten messianischen Stellen des A. Testaments, seines eigentlichen Gehaltes völlig entleert werden muss, versteht sich von selbst. Es reduzieren sich nach Hitzig (s. 157) die Verheißungen dieses Verses auf "das große Ereignis der Gegenwart des Verfassers, die Einweihung des neuen Brandopferaltars (1Makk 4:54.56.59)!

Nach diesem allem glauben wir nun getrost an die oben von uns gegebene Darstellung zurückerinnern und es einfach dem Urteil des Lesers anheimstellen zu dürfen, auf welcher von beiden Seiten die größere Einfachheit und Natürlichkeit der Berechnung, die bessere Angemessenheit an den Text, die geringeren chronologischen Schwierigkeit sind. Die gegnerischen Ansichten vermögen offenbar den Kardinalspunkt der ganzen Sache, um den sich alles übrige dreht, nämlich die 70 Jahrwochen selbst, die ein ebenso kontinuierliches Ganze bilden müssen, wie die 70 Jahre des Jeremia, nicht zu deuten. Ihre Berechnung ist im Prinzip verfehlt.

Die Erklärung des Einzelnen

Wir gehen nunmehr von dem äußeren, chronologischen Rahmen zur Betrachtung des Bildes selber fort, das unser Text nach der gegnerischen Ansicht vor uns ausbreiten soll, und das von demjenigen, welches wir gefunden haben, so weit verschieden ist. Zuerst muss auf einige Einzelheit hingewiesen werden; im folgenden Abschnitt soll sodann der Totaleindruck des Ganzen zur Sprache kommen. Nach demjenigen, was über V. 24 und 25 schon aus Anlass chronologischen Besprechung zu bemerken war, können wir uns hier kurz fassen und heben nur die eklatantesten Punkte in V. 26 und 27 hervor.

1) Entscheidend ist hier der Maschiach. Früher verstanden H i t z i g u. a., wie noch jetzt E w a l d, unter demselben einen der Seleukiden, den Vorgänger Antiochus Epiphanes, allein diese Ansicht musste aufgegeben werden, weil, wie wir oben sahen, der Tod desselben einige Jahre zu früh fällt. Schon der Wechsel der Meinung zeigt hier wieder die Verlegenheit. Nun denken H o f m a n n, W i e s e l e r und H i t z i g einstimmig an den Hohenpriester Onias, und doch sind sie auch hierin abermals nicht wirklich einstimmig. Es ließe sich etwa an Onias denken, wenn man mit H o f m a n n das יִכָּרֵת von seiner Absetzung oder vielmehr Verdrängung verstehen könnte, mit welcher allerdings n ach 2Makk 4:7ff. "die verderbliche Einwirkung des Antiochus auf das jüdische Wesen begann." (Weiss. u. Erf. I., S. 295). Allein niemand wird Hofmann glauben, dass יִכָּרֵת anders als von gewaltsamen Tod verstanden werden könne; wenigstens beweist die Formel לֹאַ יִכָּרֵת, auf die er sich selbst beruft, für unsern Fall gar nichts. Und daher behalten W i e s e l e r und H i t z i g mit Recht die allgemein anerkannte Übersetzung bei: "Es wird ein Gesalbter umgebracht". Nun aber ist die Ermordung des seit Jahren verdrängten Onias nicht nur an sich ein bedeutungsloses Faktum, sondern dasselbe eignete sich umso weniger, hier in der Weissagung hervorgehoben zu werden, da sich bei dieser Gelegenheit Antiochus von einer edleren Seite gezeigt hat (2Makk 4:33-38). Auch das וְאֵין לֹו gewinnt bei dieser Ansicht keine rechte Bedeutung; und ebenso wenig ist einzusehen, warum gerade an die Ermordung eines abgesetzten Hohenpriesters das Hereinbrechen des großen Elends angeknüpft ists, von welchem die zweite Vershälfte handelt. Vergegenwärtigen wir uns den tiefen und gewaltigen Sinn, welcher diesem Vers nach der messianischen Deutung innewohnt, und den prägnanten Gedankenzusammenhang, der seine einzelnen Teile verknüpft: so erscheint dagegen bei der modernen Erklärung die Hauptsache so gesucht und prekär, und dabei doch so trivial, so matt und kleinlich, dass die Entscheidung zwischen beiden Auffassungen niemanden schwer werden wird.

2) Im zweiten Teil von V. 26 ist manches mit der Ansicht, dass hier bloß von dem Treiben des Antiochus Epiphanes die Rede sei, nicht vereinbar. So möchte z. B. schwer nachzuweisen sein, dass das הַשָּׁבֻעִים , wo es Stadt und Heiligtum zum Objekt hat - ein anderes ist als Dan 8:24 - auch bloße Verstörung, wie H o f m a n n übersetzt, bedeuten könne statt Zerstörung. Das Wort wird z.B. 1Mo 19:14 von dem Schicksal Sodoms gebraucht. Im Zusammenhang unserer Weissagung vollends wird die Bedeutung desselben durch den Gegensatz zur Erbauung zweifellos festgestellt. Von נָגִיד und קִצֹּו wird unten noch die Rede sein.

3) In V. 27 legt das הִגְבִּיר בְּרִית der modernen Auffassung unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Der Erklärung H o f m a n n s, E w a l d s und W i e s e l e r s, Antiochus werde mit vielen Juden einen starken Bund machen, hat H i t z i g S. 164 f. treffende widerlegt; er erkennt an dass בְּרִית nur von dem Bund Gottes mit Israel verstanden werden könne. Er selbst aber setzt eine unhaltbare Erklärung an die Stelle, indem er der einmal vorgefassten Meinung zuliebe für הִגְבִּיר die unerweisliche Bedeutung "erschweren" erfindet: "Der Bund Gottes lag schwer auf ihnen, seit er und das Volk wegen desselben angefeindet wurde." Da ließe sich noch weit eher violare herbeiziehen. Wir können also auch hier die gegnerischen Ansichten sich untereinander selbst richten und korrigieren lassen. H i t z i g hat den drei andern gegenüber Recht hinsichtlich der Bedeutung von בְּרִית, sie gegen ihn hinsichtliche der von הִגְבִּיר. Die Worte können unmöglich anders übersetzt werden als so: "Und es stärkt den Bund Vielen eine Woche", wobei, wie öfters der Zeit zugeschrieben ist, was in ihr geschieht, und das zwar an unserer Stelle noch mit besonderer Absicht. Wir haben oben gesehen, dass שָּׁבוּעַ als Siebenzeit eine Zeit göttlicher Offenbarung ist. So wird also hier durch das Subjekt selbst schon angedeutet, was dann das Verbum mit seinem Objekt nur rin seinen Wirkungen weiter beschreibt. Gotteszeit und Bundesstärkung gehören notwendig zusammen.

4) Und das ist nun eben ein weiterer Tadel, welcher die gegnerischen Ansichten alle miteinander trifft, dass sei nicht imstande sind, die symbolische Bedeutung der Zahlen, auf welche doch der Engel gleichsam mit Fingern hinweist, irgendwie zu ihrem Recht kommen zu lassen. Am schreiendsten tritt dies bei der ihnen gemeinsamen Auffassung der letzten Woche hervor, wo die Bedeutung der heiligen Zahl geradezu in ihr Gegenteil verkehrt wird. Denn hier würde die Sieben, welche doch anerkanntermaßen die Zahl des Göttlichen ist, zur Signatur des Widergöttlichen. Es wundert uns, wie namentlich H o f m a n n, der doch sonst ein offenes Auge für die biblischen Zahlen hat, diesen Punkt so ganz übersehen und übergehen konnte.

Was wir schon bei V. 25 bemerkt haben, das nehmen wir also auch wieder bei V. 26 und 27 wahr: die moderne Erklärung verträgt sich mit den Worten und einzelnen Zügen des Textes so wenig wie mit dem chronologischen Rahmen des Ganzen. Auch zu V. 27 wird in dieser Hinsicht im folgenden Abschnitt noch einiges beizubringen sein. Am wichtigsten it aber hierbei immer das יִכָּרֵת מָשִׁיחַ, V. 26. Christi Kreuz ist auch hier der Stein des Anstoßes.

Der Charakter des ganzen Kapitels
a. Die Verschiedenheit der auf Antiochus bezogenen Weissagungen

Fassen wir endlich das Verhältnis ins Auge, in welchem die vier Verse der Weissagung zum ganzen neunten Kapitel stehen, und sodann das Verhältnis, in welches das neunte Kapitel zum ganzen Buch Daniels sich stellt: so stößt auch in dieser Beziehung die moderne Auffassungsweise auf die größten Schwierigkeiten. Sie passt weder in den Zusammenhang unseres Kapitels, noch stimmt sie mit der Art überein, wie unser buch sonst von Antiochus redet.

Wir befinden uns hier in einem ganz anderen Gedankenkreis als der auf Antiochus bezogene ist; der Ausgangspunkt, die treibenden Ideen unseres Kapitels vertragen sich mit der Erwähnung des Antiochus nicht. Es handelt sich um Gebete Daniels um die Rückkehr aus dem Exil, um die Wiedererbauung der Stadt und in Verbindung damit um das Heil des Volkes, um die Erfüllung der messianischen Verheißungen. Was hat nun mit dem allem Antiochus Epiphanes zu tun, ,welcher ja namentlich hinsichtlich der Stadt Jerusalem, deren Geschick neben der Zahl 70 den eigentlichen Schwerpunkt unserer Weissagung ausmacht (s. besonders auch הָעִיר V. 26), nicht irgend Entscheidendes gebracht hat? Die 62 Wochen d. h. die Jahre 605-171 v. Chr. sollen die Erbauungszeit Jerusalems sein; aber so wenig diese im Jahr 605 d. h. vor der Zerstörung Jerusalems beginnen kann, ebenso wenig sieht man irgend einen Grund ein, warum sie mit dem Jahr 171 enden, oder inwiefern hier die Zerstörungszeit beginnen soll. Also gerade die beiden Angelpunkte, um die sich, wie schon aus V. 2 hervorgeht, unsere ganze Weissagung dreht, die Zahl 70 und die Wiedererbauung und Wiederzerstörung Jerusalems, vermag die moderne Auffassung nicht zu erklären. Man stelle sich überhaupt einmal vorurteilsfrei und lebendig in die Situation hinein, wie sie, in den 19 ersten Versen unseres Kapitels gezeichnet ist, und man wird finden, dass hier eine Erwähnung des Antiochus nicht am Platze wäre, vielmehr für den Gedanken, wie für das Gefühl etwas durchaus Störendes und Verletzendes hatte, während der von uns aufgezeigte Ideengang sich nicht nur mit Leichtigkeit, sondern mit innerer Notwendigkeit aus der Situation ergibt.

Wir begreifen wohl, wie diejenigen Ausleger, welche nach ihrer vorgefassten Meinung alles in unserem Buch auf Antiochus Epiphanes beziehen müssen, auch hier dazu genötigt sind. Aber dass auch H o f m a n n sich zu dieser Auffassung verstehen zu müssen glaubte, das begreifen wir nicht. Es scheint dies einer der freilich nicht ganz seltenen Fälle zu sein, wo ihn sein rühmenswertes Streben nach Geschichtlichkeit noch auf einem niedrigeren, rationalistischer Auffassungsweise verwandten Standpunkt zurückhält, den er doch sonst so tief und glücklich überwunden hat. Schon von seiner richtigen Einsicht in das Verhältnis des ersten und zweiten Teils unseres Buches aus müsste er zur Überzeugung kommen, dass, wie im ersten Teil die Gestaltung des Gottesreichs sowohl als der Gott feindlichen Weltmacht bis in die fernsten Zeiten hinaus geweissagt ist, so auch im zweiten nicht bloß die Entwicklung der Weltmacht, sondern zugleich die des Gottesreiches, des Heils in der näheren Zukunft geoffenbart sein wird. Er deutet es selbst an (die 70 Jahre S 108), dass man gleichsam a priori schon zu der Erwartung berechtigt ist, es werde in unserem Universalbuch auch irgendwo "der erste Erscheinung Christi auf Erden Erwähnung geschehen."

Lässt sich nun aber, wenn wir den Ausgangspunkt und Zweck unseres Kapitels ins Auge fassen, nicht absehen, wie in demselben auf Antiochus die Rede kommen sollte: so muss auch umgekehrt gesagt werden, dass die Art der Stellen, wo sonst in unserm Buche unzweifelhaft von Antiochus die Rede ist Kap. 8 und 11, nicht zu der Art passt, wie er in unserm Kapitel auftreten würde. Sonst erscheint er durchweg im Zusammenhang mit der Entwicklung der Weltmacht, als die Spitze der dritten Monarchie. Hier dagegen stehen wir ganz auf theokratischem, israelitischem Boden, und Antiochus würde nur so von außen hereinkommen als ein völlig vereinzelte Erscheinung. Wie verträgt sich doch die so unbestimmte Bezeichnung Nagid, die sich von selbst mit dem קָצִין Dan 11:18 vergleicht, was auch ein Staatsoberhaupt und deinen Feldherrn der Römer bezeichnet, mit der ausführlichen und schrecklichen Schilderung, welcher Kap 8 und 11 von Antiochus zum Vorbild des Antichrist gemacht wird? Daniel weist Dan 9:21, als Gabriel erscheint, ausdrücklich darauf hin, dass ihm derselbe schon vom vorigen Gesicht (Dan 8:16) her bekannt gewesen sei. Und Antiochus, von dem eben dieses vorige Gesicht hauptsächlich gehandelt hatte, sollte wie ein ganz Unbekannter auftreten,nicht einmal durch den Artikel als eine schon früher dagewesene Person bezeichnet? Wie kann man überhaupt verkennen, dass unser Kapitel einzig und eigentümlich dasteht in dem Propheten, während die Kapitel 2., 7., 8., 10-12 einen gleichartigen Charakter an sich tragen, durch den sie in einem unverkennbaren Zusammenhang untereinander stehen? Alle diese Gesichte gehen vom Standpunkt der Weltmacht aus, das unsrige dagegen durch und durch von dem des Bundesvolkes. Muss nicht schon aus diesem Grund sich immer wieder von selbst der Gedanke aufdrängen, es werde auch der Inhalt unserer Weissagung ein eigentümlicher, von den übrigen verschiedener sein müssen? Schon dieser eine Punkt ist einleuchtend genug, um uns starke Bedenken gegen diejenigen einzuflößen, welche im Daniel alles ohne Unterschied und um jeden Preis auf Antiochus Epiphanes beziehen.

Durch diese Betrachtungen verwandelt sich auch ein von W i e s e l e r (die 70 Wochen S. 83f.) gemachter und mit besonderem Nachdruck betonter Einwurf gegen unsere Auffassung von Dan 9 in sein Gegenteil. Er meint nämlich, es werde "überhaupt jede messianische Deutung unseres Abschnitts dadurch unmöglich gemacht, dass n ach derselben Daniel der Bedrückung der Juden durch Epiphanes, deren Vorherverkündigung sich unser Buch sonst vorzugsweise zum Ziel gesetzt habe, bei den 62 Wochen auch mit keinem Wort gedenke." Vielmehr ist ja das gerade ein Hauptvorzug der messianischen Erklärung, dass sie nicht genötigt ist, diesem einzigartigen Kapitel die Beziehung auf Antiochus aufzuzwingen. Dass aber in demselben nicht neben dem Messias auch noch von Antiochus die Rede, dass die Zeit desselben, obwohl in die 62 Wochen fallend, ganz mit Stillschweigen übergangen ist, das erklärt sich nach unserer Auffassung von selbst aus dem Anlass sowohl als aus der Bestimmung dieser ganzen Offenbarung, wie dieselbe schon oben im ersten Abschnitt dargestellt wurde. Das 9. Kapitel hat ja gerade die Bedeutung, dem Antichrist der näheren Zukunft, der Kap. 8 und 1012 hinlänglich charakterisieret ist, den Christus gegenüber zustellen. - Die übrigen Einwendungen W i e s e l e r s , H o f m a n n s und H i t z i g s gegen die messianische Auffassung haben, wie wir hoffen, durch die im ersten Kapitel dieses Abschnitts gegebene Entwicklung ihre Erledigung gefunden, auch wenn sie nicht ausdrücklich angeführt wurden. Nur ein einziger Punkt bleibt noch zu berücksichtigen, zu dessen Besprechung wir uns nunmehr wenden, da ihm so ziemlich das Hauptgewicht beigelegt wird.

b. Die Verwandtschaft der auf Antiochus bezogenen Weissagungen

Die gegnerische Ansicht glaubt nämlich, umgekehrt wie wir, in dem Verhältnis des 9. Kapitels zum 8. und 11. die stärksten Stützen für die Beziehung des ersteren auf Antiochus zu finden. Man hält uns ausführliche Register der Ausdrücke, Wendungen und Bestimmungen entgegen, welche diesen Gesichten gemeinsam sind oder sein sollen. So z. B. H o f m a n n, die 70 Jahre S. 97f. Es kann auch nicht unsere Meinung sein, diese Übereinstimmung leugnen zu wollen; wir halten sie vielmehr für eine beabsichtigte und mit dem ganzen Zweck unseres Buches wesentlich zusammenhängende. Nur muss unterschieden werden, was wirklich übereinstimmt, und was bloß übereinzustimmen scheint, oder infolge irriger Erklärung zusammentrifft. Zu letzterem rechen wir z. B, wenn man in dem וְקִצֹּו בַשֶּׁטֶף V. 26 eine ähnliche Beschreibung des Todes des Antiochus findet wie Dan 8:25 בְאֶפֶס יָד יִשָּׁבֵֽר: es wäre hier jedenfalls nur eine ganz allgemeine Ähnlichkeit des Gedankens, allein des Suffixums in קִצֹּו könnte wohl allerdings grammatisch auf den נָגִיד gehen, logisch aber ist diese Beziehung nach dem Zusammenhang wohl nicht möglich; denn es heißt: "die Stadt und das Heiligtum wird zerstören das Volk des Fürsten, der da kommt" und dann unmittelbar fortgefahren wird וְקִצֹּו , so wird jedermann an das Ende des Zerstörten, nicht des Zerstörers denken, um so mehr, da im Folgenden die Schilderung der Verwüstungen fortgesetzt wird. - Ebenso wenig darf das וְהָעִיר וְהַקֹּדֶשׁ יַשְׁחִית עַם נָגִיד הַבָּא Dan 9:26 parallelisiert werden mit dem וְהִשְׁחִית עֲצוּמִים וְעַם־קְדֹשִֽׁים Dan 8:24; denn eine nähere Betrachtung beider stellen macht sogleich deutlich, dass, wie die Objekte verschieden sind, so auch die Bedeutung des Verbums: religiöse Korrumpierung und Verführung des Volkes ist etwas anderes als die Zerstörung der Stadt und des Heiligtums. - Am wenigsten sollte man vor einer Gleichheit der Zeitbestimmungen reden. Es kommen in unserem Buche für die Periode des Antiochus drei Zeitbestimmungen vor, die 2300 Abendmorgen, Dan 8:14; sodann 1290 Tage und 1335 Tage, Dan 12:11.12; dann die 3 1/2 Zeiten, Dan 7:25, gehen auf die Zeit des Antichrists und ebenso die Dan 12:7, welche eine absichtliche Rückerinnerung an jener erstgenannten sind, wie sich auch das כְכַלֹּות נַפֵּץ יַד־עַם־קֹדֶשׁ einfach aus Dan 7:25 erklärt, wenn es daselbst heißt: "die Heiligen werden in die Hand des Antichrist gegeben sein, und er werde sie aufreiben." Je deutlicher es nun in die Augen springt, dass die auf Antiochus bezüglichen Zeitbestimmungen bis auf den Tag hinaus genau sind, desto weniger ist man berechtigt, hier nur in Bausch und bogen zu verfahren und festzusetzen, die 1290 oder auch die 1335 Tage seinen ungefähr der ganzen entsprechend. Das eine ist fast so falsch wie das andere, wie die einfachste Rechnung zeigt; namentlich aber bei der letzteren Zahl geht die Differenz in die Hunderte von Tagen. Und das sollte bei einem Propheten gleichgültig sein, der einen Unterschied von 45 Tagen noch so sorgfältig hervorhebt? Reduziert man aber die 2300 Abendmorgen mit H i t z i g u. a., wie auch schon B e n g e l (ordo temporum p 372 sq) tut, auf 1150 Tage, so ist nicht nur die "eine Woche" ganz ohne Analogie in den auf Antiochus bezüglichen Zeitbestimmungen, sondern man erhält auch statt der halben Woche noch eine dritte, noch viel weiter abweichende Zahl von Tagen.

Ist also in den genannten Beziehungen eine Übereinstimmung des 9. Kapitels mit dem 8. und 10-12. nicht überall vorhanden: so kann dieselbe dagegen andererseits nicht in Abrede gestellt werden. Am auffälligsten ist in dieser Beziehung der Ausdruck Dan 9:27 כְּנַף שִׁקּוּצִים מְשֹׁמֵם, der einerseits an das שֹׁמֵם Dan 8:13 zurück erinnert, und auf den andererseits noch deutlicher Dan 11:31 in dem Ausdruck הַשִּׁקּוּץ מְשֹׁומֵֽם und Dan 12:11 in dem hiermit dem Wesen nach identischen שִׁקּוּץ שֹׁמֵם angespielt wird. Doch ist das, wie wir bald sehen werden, nicht der einzige Berührungspunkt der drei Gesichte. Wie erklärt sich nun bei dem sonst so einzigartigen Charakter des 9. Kapitels diese auffallende Erscheinung? Durch eine einfache Reflexion auf den Zweck unseres Buches und des zweiten Teils insbesondere. Wie im 7. Kapitel das Kommen des messianischen Reiches die Gottesgemeinde über die und in den demselben vorangehenden Trübsalszeiten tröstet: so soll auch in der näheren Zukunft das bevorstehende messianische Heil und das demselben sich anschließende Gericht über die Bundesbrüchigen den Gläubigen für die vorausgehende Versuchungszeit zum Trost und Licht werden. Auch das 9. Kapitel hat eine Bestimmung für die Zeit des Antiochus. Wir wissen aus dem ersten Abschnitt, dass sich dieser König zur ersten Erscheinung Christi ähnlich verhält wie der Antichrist zur zweiten, wir haben ihn den alttestamentlichen Antichrist genannt. Ebenso hat sich gezeigt, dass und warum im ersten Teil unseres Buches, wo vom Wüten des Antichrists und der Erscheinung Christi in Herrlichkeit die Rede ist, diese beiden Momente in ein Gesicht zusammengefasst werden konnten, während im zweiten Teil, wo dem Wüten des Antiochus die Erscheinung Christi im Fleisch gegenübergestellt wird, diese Zusammenfassung nicht möglich war. Sollte nun aber die Gegenüberstellung und gegenseitige Beziehung beider, des Antiochus und des Messias, doch anschaulich gemacht werden, so konnte dies nur dadurch geschehen, dass in den Ausdrücken und Bestimmungen, in welchen von dem einen geweissagt wurde, unverkennbare Anspielungen und Beziehungen auf die den andern betreffende Weissagung sich fanden, ganz in derselben Weise wie wir nach neutestamentlichem Vorgang schon durch die Namen Christus und Antichristus die Beziehung beider aufeinander hervorheben. Durch den auffallenden Parallelismus in den Worten und Gedanken der beiderseitigen Weissagungen sollte also der gläubigen Hoffnung für die Zeit des Antichrists (Antiochus) der trostvolle Ausblick auf die Zeit des Christus nahegelegt; es sollte, da das 9. Kapitel mit dem 8. und 11. nicht in ein Gesicht vereinigt werden konnte, Veranlassung gegeben werden, dass man von der einen Offenbarung in die andere hinüberblickte. Nur aus dieser antithetischen Beziehung erklären sich auch die Parallelen zugehörig. Dieselben finden sich im Dan 9:27 vereinigt., da er der messianischen Woche gewidmet ist; auf ihn nimmt die Schilderung der Befehdung der Theokratie durch Antiochus, wie sie Dan 11:30-35 (Vgl. Dan 8:10-14) gegeben ist, direkte Rücksicht; und auf dieses Verhältnis reduziert sich die ganze Verwandtschaft der Gesichte des zweiten Teils.

Die antithetische Beziehung zwischen der Zeit des Christus und des Antichrist tritt sogleich in den ersten Worten von Dan 9:27 vgl. mit Dan 11:30.32 hervor. Der Inhalt der messianischen Woche ist, das sie הִגְבִּיר בְּרִית לָרַבִּים; in der Zeit des Antiochus dagegen sind die עֹזְבֵי בְּרִית und מְשֹׁמֵם בְּרִית oben an, sie sind bei dem Gewalthaber wohl angesehen und spielen nun die Hauptrolle in Israel, während die Gläubigen und Vernünftigen*), die rechten Israeliter, die auch hier לָרַבִּים heißen (V. Dan 11:33, vgl. Dan 12:10). teils durch die Verfolgungen der Feinde, teils durch die Untreue heuchlerischer Freunde Schweres zu erdulden haben (Dan 11:33-35). Für eben diese Verständigen und nur für sie ist nun aber unser Buch geschrieben, damit ihnen die Leidenszeit zu einer rechten Läuterungszeit werden (Dan 12:10; Dan 11:35). Ihnen sollte mitten unter den am Bund Gottes verübten Freveln zur Stärkung ihres Glaubens der tröstliche Ausblick auf die messianische Epoche dienen, welche eine Zeit der Bundesstärkung für alle Gläubigen sein wird: jetzt ist der Bund Gottes gräuelhaft verletzt und geschändet, bald wird er aufs Neue fester und kräftiger dastehen.

*) R o o s S 266f.: "Verständig das ist gläubig sein. Was heißt verständig sein? Christi Sinn haben, gesinnt sein, wie Jesus Christus auch war. Was dem entgegensteht, ist Unverstand." Vgl. Hebr 11:26.

Im zweiten Glied des Dan 9:27: "und die Hälfte der Woche wird Schlachtopfer und Speisopfer aufhören machen" findet diese merkwürdige Bezeichnung für den Opfertod des Messias und das Aufhören der alten Ökonomie ihre vollständige Erklärung erst, wenn wir auch hier die Anspielung auf die Zeit des Antiochus erkennen, welche durch die Wahl des Ausdrucks beabsichtigt ist. Zwar wenn es von Antiochus heißt: הרים הַתָּמִיד (Dan 8:11), und von seinen Scharen und Anhängern: הֵסִירוּ הַתָּמִיד (Dan 11:31), von der messianischen Woche aber: יַשְׁבִּית זֶבַח וּמִנְחָה (Dan 9:27) so sieht man leicht, dass mit diesen verschiedenen Ausdrücken nicht, wie die Gegner meinen, ein und dieselbe Sache bezeichnet sein kann. Denn die vorübergehende Einstellung des täglichen Opfers ist doch etwas ganz anderes als die gänzliche Abschaffung der Schlacht- und Speisopfer, also des Opferwesens überhaupt; הֵסִיר ist etwas anderes als השְׁבִּית und הַתָּמִיד etwas anderes als זֶבַח וּמִנְחָה. Aber eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Zeit des Christus und des Antichrist sollte hier allerdings hervorgehoben und dadurch den Gläubigen wieder ein Hinweis des Trostes in der Drangsalsperiode gegeben werden. Jetzt liegt, sollten sie denken lernen, mit dem Bund Gottes auch Opfer und Gottesdienst danieder; aber es kommt eine Zeit des Heils und der Bundesstärkung, wo gleichwohl das bisherige Opferwesen ganz aufhören wird. Sie sollten also zu ihrer Aufrichtung und Beruhigung in dieser schweren Zeit innewerden, dass der Tempeldienst, der ihnen jetzt unmöglich gemacht war, nicht absolut notwendig sei, dass sie auch ohne Darbringung der Opfer doch die wahre Gemeinde Gottes sein können, da ja in der bevorstehenden Zeit des messianischen Heils die Opfer sogar völlig aufhören werden. Es ist dies, wie oben gezeigt, ganz derselbe Trost, welchen unter ähnlichen Verhältnissen Jeremia und Hesekiel den Gläubigen geben. Als nämlich die Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und hiermit zugleich die Aufhebung des bisherigen Gottesdienstes bevorstand, da mussten diese Propheten von dem neuen Bund weissagen, der anders sein sollte als der mit den Vätern, wo man der Bundeslade nicht mehr gedenken und wo das Gesetz in die Herzen geschrieben sein werde (Jer 3:16; Jer 31:31ff. Hes 11:19f.)

Am deutlichsten tritt endlich also in den Worten הַשִּׁקּוּץ מְשֹׁומֵֽם (Dan 11:31; Dan 12:11) die Anspielung auf כְּנַף שִׁקּוּצִים מְשֹׁמֵם (Dan 9:27) hervor. Man darf nun allerdings an der zuerst genannten Stelle nicht die abtrünnigen Israeliten zum Subjekt des Satzes machen, wie H e n g s t e n b e r g (Chr S. 498f.) auf gewaltsame Weise tut, indem er das מִמֶּנּוּ auf בְּרִית bezieht, um übersetzen zu können, es stehen Mächtige auf aus dem Bundesvolk; sondern es ist mit fast allen Auslegern bei den Worten זְרֹעִים מִמֶּנּוּ יַעֲמֹדוּ an die Scharen des Antiochus zu denken. Ebenso wenig aber können bei den folgenden Worten וְהֵסִירוּ וְחִלְּלוּ וְנָתְנוּ die abtrünnigen Israeliten von dem zu ergänzenden Subjektbegriff ausgeschlossen werden; denn wenn der unmittelbar bevorstehende Dan 11:30 mit der Hervorhebung des Einverständnisses schließt, in welches der König mit denen treten werde, die den heiligen Bund verlassen haben (1Makk 1:12ff.), so versteht es sich ja von selbst, dass diese mit seinen Leuten bei der Entweihung des Tempels, der Aufhebung des Gottesdienstes und der Einführung des Götzengräuels gemeinsame Sache machen. Darum heißen sie dann sogleich V. 32 wegen ihrer Beteiligung bei diesen Freveln nicht mehr bloß עֹזְבֵי sondern וּזְרֹעִים בְּרִית, und es wird weiter von ihnen hervorgehoben, dass sie nun zu völligen Heiden gemacht werden*)יַחֲנִיף. Das ist für die gläubigen und bundestreuen Israeliten das Schmerzlichste, wenn Angehörige ihres eigenen Volkes sich also an dem heidnischen Verwüstungsgräuel beteiligen und dabei erst noch in Ehre und Würden stehen.

*) R o o s S. 225: "Wenn man Dan 11:32 mit V. 30 vergleicht, so steht man, wie die Argheit sowohl bei Antiochus als auch bei den abtrünnigen Juden gestiegen sei"

Das Glück der Gottlosen und das Unglück der Frommen, dieses große Problem des alten Bundes, stellte sich hier in seiner höchsten Spitze dar. Sollen denn die Gräuel der Abtrünnigen wirklich so ungestraft bleiben, während wir unterliegen müssen? das war die Frage, welche der treugebliebene Teil des Volkes an seinen Gott hatte. Und auf diese Frage war nun Dan 9:27 schon die Antwort gegeben. Die Gräuel (שִׁקּוּצִים) müssen erst den äußersten Punkt, den Gipfel ( כְּנַף) erreichen, das Maß der Sünden muss erst voll werden; dann soll zu derselben Zeit etwa, wo den Gläubigen die Aufrichtung und Stärkung des Bundes durch den Messias zuteil wird, das Gericht über die Gottlosen um ihrer Gräuel willen hereinbrechen. Dies Gericht über die Frevler wird ja auch sonst (z.B. Mal 3:14-21; Mt 3:12) für die messianische Zeit geweissagt und namentlich in der angeführten Stelle Maleachis ist ganz der soeben entwickelte Gedankengang enthalten.

Die Gläubigen bedurften in der Zeit des Antiochus einen dreifachen Trost: 1) über den Bund Gottes: derselbe wird doch nicht für immer so zertreten sein. 2) über sich selbst: sind wir auch noch die wahre Gemeinde des Herrn,obwohl wir ihm nicht mehr in seinem Tempel dienen und Opfer darbringen können? 3) über die Abtrünnigen: dürfen dieselben nur so ungestraft ihre Gräuel verüben? Dieser dreifache Trost für die Zeit des Antichrist ist Dan 9:27 in dem Ausblick auf die Zeit des Christus eröffnet, "und die Verständigen merken darauf" (Dan 12:10). Darf man es nun nicht als ein bloßes Stehenbleiben an der Oberfläche bezeichnen, wenn aus der Verwandtschaft unserer Weissagung mit Kap 11. und 8 geschlossen werden will, sie müsse sich auf Antiochus Epiphanes beziehen?

Wir sind mit der Beurteilung der gegnerischen Ansichten und daher mit unserer Abhandlung über Dan 9 zu Ende. Sollte etwa dem Leser noch Bedenken gegen die von uns verteidigte, kirchliche Auffassung übrig geblieben sein, so sind dieselben jetzt vielleicht vollends zerstreut. Denn soviel ist wohl in dem Bisherigen dem unbefangenen Blick klar geworden, dass von allen den Wendungen, welche man der Beziehung der Engelsworte auf Antiochus Epiphanes gegeben hat, immer eine unhaltbarer ist als die andere, und dass somit die ganze moderne Auslegung von Dan 9 als eine unmögliche wieder aufgegeben werden muss. Eben damit ist aber dieses Kapitel ein mächtiger Schild für unser Buch und seine Echtheit geworden. Das gleiche hoffen wir nun auch von dem 2. und 7. Kapitel zeigen zu können.

Lies weiter:
Dritter Abschnitt
Die Tiere und der Mensch