Die neueren Auffassungen der Offenbarung Johannis

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Abschrift des Buches: Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis
in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert.

Verfasser: Karl August Auberlen (1854)
Verlag: Bachmaier's Buchhandlung, Basel

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel vorher:
A. Die Tiere und das Weib in der Offenbarung


In Bearbeitung

B. Die neueren Auffassungen der Offenbarung Johannis

Unsere Aufgabe isst jetzt ihrem positiven Teil nach gelöst, indem durch die exegetische Betrachtung von Offb 12-20 auch das Verhältnis der beiden Apokalypsen zueinander vollends ins Licht gestellt wurde: Da indessen die in den voran stehenden Blättern gegebene Auffassung des zweiten und wichtigsten Hauptteiles der Offb. Joh. zum Teil neu ist, so bleibt uns noch übrig, dieselbe durch Vergleich und Beurteilung der übrigen Auffassungen zu rechtfertigen, die gegenwärtig vorzugsweise in Betracht kommen. Wir glauben hierdurch zugleich dem Leser einen nicht unwillkommenen Dienst zu leisten; denn es gibt ja wohl kein anderes Buch, wo die verschiedenen Auslegungen so labyrinthisch durcheinander gehen, und wo es so schwer ist, sich auch nur historisch über dieselben zurechtzufinden. Die neuere Zeit hat darin noch keine Besserung gebracht; denn die vermehrte Tätigkeit, welche der Apokalypse zugewendet wird, hat den Widerspruch und die Verwirrung der Meinungen eher vermehrt als vermindert, so dass ein klare, geschichtliche Orientierung um so notwendiger ist, wobei es sich natürlich vor allem um die Klassifikation der verschiedenen Auffassungsweisen handelt.

Es sind drei Hauptgruppen von Auslegern zu unterscheiden, die kirchengeschichtliche, die zeitgeschichtliche und die reichsgeschichtliche.

Die erste Ansicht betrachtet die Offenbarung als ein prophetisches Kompendium der Kirchengeschichte und nimmt an, der erhöhte Herr habe darin im Voraus die Hauptereignisse aller Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung im einzelnen chronologisch genau geoffenbart. Diese Auffassung ist in Deutschland immer noch am bedeutendsten durch B e n g e l vertreten, dessen apokalyptisches System, wenn auch furch den Erfolg bereits in Hauptpunkten als irrig erwiesen, doch seinem Kern nach gerade unter den Gläubigen noch heutzutage viele Freunde hat. Außerdem sind es besonders die Engländer und Franzosen, welchemit Vorliebe dieser Erklärungsart huldigen. Wir werden ihr Behandlung der Apokalypse an zwei der hervorragendsten Werke aus neuester Zeit zu charakterieren suchen, an den Horae apocalypticae des Engländers E l l i o t t, welche 1851 in London in vierter Auflage in vier starken Bänden erschienen ist. (Horae apocalyticae, or a commentary on the Apocalypse critical and historical, including also an examination of the chief prophecies of Daniel), und an der schon wiederholt angeführten Schrift des Genfers G a u s s e n, Daniel le prophète, wovon bis jetzt drei Bände veröffentlicht wurden, seit 1850 in zweiter Auflage. Gaussen berücksichtig dabei die Parallelen der Offb. Joh. ausführlich. Engländer und Franzosen schenken der theologischen und namentlich der apokalyptischen Literatur Deutschlands eine stets wachsende Aufmerksamkeit, so dass wir ihnen gerne die Gegenseite vorhalten.

Die zeitgeschichtliche Auslegung gehört denjenigen Kreisen der neueren deutschen Theologie an, welche den Propheten Daniel für unecht halten. Man geht hier von einem Begriff der Prophetie aus, welcher ein wirkliches, gottgewirktes Schauen der Zukunft ausschließt. Daher schränkt man den Blick des Johannes, wie den des Daniel, auf seine geschichtlichen Umgebungen ein: Nero wird in dem einen Fall zu dem gemacht, was in dem andern Antiochus Epiphanes ist. Hand in Hand mit dieser exegetischen Ansicht pflegt die kritische zu gehen, dass die Offenbarung und das Evangelium des Johannes nicht denselben Verfasser haben können, wobei die einen, E w a l d, de W e t t e, L ü c k e u. a. das Evangelium, die anderen, B a u r und seine Schüler, die Apokalypse dem Apostel beilegen. Eine zweite Art der zeitgeschichtlichen Auffassung ist in neuerer Zeit noch dem Vorgang Herders u. a. von Z ü l l i g geltend gemacht worden. Er schließt die Beziehung auf Rom und da Heidentum aus und will alles auf Jerusalem und das Judentum bezogen wissen. Seine Ansicht hat jedoch so wenige Eingang finden können, dass wir einer näheren Berücksichtigung derselben überhoben sind. Als Hauptvertreter der zeitgeschichtlichen Auffassung haben wir daher neben E w a l d, der sie in seinem Commentarius in Apocal. criticus et exegeticus 1828 zuerst durchgeführt hat, vorzüglich d e W e t t e mit seiner kurzen Erklärung der Offb. Joh 1848 und L ü c k e mit seinem "Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offb. Joh. zweite Aufl. 1852 zu betrachten. Die B a u r 'sche Schule hat kein selbstständiges Werk über die Apokalypse geliefert, sondern nur einzelne Abhandlungen und gelegentliche Erörterungen.

Die reichsgeschichtliche Auffassung ist diejenige, zu der wir uns bekennen. Sie steht, was das Prinzip betrifft, auf einem Boden mit der kirchengeschichtlichen gegenüber der zeitgeschichtlichen. Sie glaubt an wirkliche Weissagung. Sie leugnet auch die Möglichkeit so spezieller Weissagung nicht, wie die kirchengeschichtliche Ansicht sie in der Offb. Joh. findet: der zweite Teil Daniel liefert ja durch die Wirklichkeit den Beweis für die Möglichkeit. Aber wir leugnen, dass die neutestamentliche Apokalypse, wo wie sie faktisch vorliegt, einen detaillierte Zukunftsgeschichte sein wolle und solle. Wollte sie das, dann müsste sie in der Weise von Dan 11 geoffenbart sein, wo sich wirklich einen Spezialgeschichte der Zukunft findet. Faktisch aber ist vielmehr Dan 7 mit seiner Tier- und Menschensymbolik die Grundlage der Offb. Joh. und auch die Zahlen derselben gehen wesentlich auf die Dan 7:25 sich findende Grundzahl der 3 1/2 Zeiten zurück. darum will sie nicht Kirchengeschichte im einzelnen schreiben, sondern sie will die großen Epochen und die leitenden Potenzen der Entwicklung des Reiches Gottes in seinem Verhältnis zum Weltreich darstellen. "Die Apokalypse zeichnet Wesensbeschaffenheiten; dies sind zu ermitteln, unabhängig von der Frage: auf welche äußere, geschichtliche Erscheinung (Staat, Kirche, Begebenheit, Person) trifft dies zu?! (J. T. B e c k).

Wir haben auch oben bereits den Grund aufzuzeigen versucht, ,warum für das alttestamentliche Volk Gottes speziellere Weissagungen notwendig waren als für das neutestamentliche. Die reichsgeschichtliche Auffassung, die ursprüngliche und älteste, wurde zuerst wissenschaftlich wieder angebahnt durch J. Chr. H o f m a n n , welcher 1844 im zweiten Teil seiner "Weissagung und Erfüllung" (S. 300ff.) die Auslegung auf die danielische Grundstelle zurückführte und so für das Verständnis des Tiers neue Bahn brach, während er hinsichtlich des tausendjährigen Reiches die von Bengel so kraftvoll wieder bezeugte Wahrheit aufs Neue hervorhob. Die beiden neuesten Auslegungen der Offb. Joh. von H e n g s t e n b e r g (2 Bd. 1849-51) und E b r a r d (1853) haben auf dem von Hofmann gelegten Grund weiter gebaut, wobei jener zum Teil in die vorbengel'sche Auffassung zurückfiel, dieser französisch-englische Ideen aufnahm.

Die kirchengeschichtliche Auffassung

Das Wesen der kirchengeschichtlichen Auffassung hat L u t h e r treffend ausgesprochen, wenn er sagt: "Weil es soll eine Offenbarung sein künftiger Geschichten und sonderlich künftiger Trübsale und Unfall der Christenheit, achten wir, das sollte der nächste und gewisseste Griff sein, die Auslegung zu finden, so man die ergangene Geschichte und Unfälle, in der Christenheit ergangen, aus den Historien nähme und dieselbigen gegen die Bilder hielte und also auf die Worte vergliche. Wo sich's alsdann würde sein miteinander reimen und eintreffen, so könnte man darauf fußen als auf eine gewisse oder unverwerfliche Auslegung." Dieses Auslegungsprinzip hat auf den ersten Anblick etwas sehr Einleuchtendes und doch ist es nicht richtig. Es verstößt gegen den von der evangelischen Kirche sonst mit so großem Recht und Nachdruck geltend gemachten Grundsatz, dass die Hl. Schrift sich selber auslege. Dieser findet auch auf die Offb. Joh. Anwendung. Obwohl sie als prophetisches Buch in die Zukunft weist, so weist sie doch selbst für ihr Verständnis zunächst in die Vergangenheit. Das ist die hohe Bedeutung, welche der durchaus alttestamentlichen Färbung der Sprache und Darstellung zukommt. Dadurch wird der Leser an die frühere Schrift gewiesen und aufgefordert, die Deutung der an sich so dunklen Bilder bei den älteren Propheten Gottes zu suchen. Tut man das, so gewinnt alles auf einfache Weise Licht, Ordnung, Regen, Zusammenhang; man ist dann des willkürlichen Ratens überhoben, weil sich allenthalben von selber Plan- und Gesetzmäßigkeit herausstellt. Ganze Reichen von Auslegungen beseitigen sich so auf prinzipielle Weise.

So ist z. B. aus Daniel klar zu erweisen, dass das Tier keine geistliche Macht bedeuten kann, wie sich umgekehrt aus der ganzen Bedeutung der Hurerei in der Schrift ergibt, dass die babylonische Hure eine geistliche Macht sein muss und keine bloße Stadt sein kann. Versäumt man aber die biblische Feststellung der Grundbegriffe und Grundsymbole, so ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Und darum gibt es zahllose Systeme kirchengeschichtlicher Deutung, und können und werden deren je nach dem Gang der kirchlichen und weltlichen Ereignisse noch manche aufgestellt werden. Der Grundfehler ist, dass man hier Auslegung und Erfüllung miteinander vermischt und jene von dieser abhängig macht. Dadurch wird aber das Wort Gottes nur zu leicht von der menschlichen Geschichte abhängig, während es doch in sich selbst vollendet ist und durch das Licht, das es in sich selber trägt, denen, die göttlichen Verstand haben, eine Leuchte in der Finsternis der Weltzeiten sein will. Wir sollen aus aus der Offenbarung die Zeit, nicht aus der Zeit die Offenbarung verstehen lernen, obwohl es dann allerdings in der Natur der Sache liegt, dass bei den Verständigen eine Wechselwirkung zwischen beiderlei Verständnis eintritt. In dieser Weises aufgeschlossen, ist das heilige Buch noch weit eindringender nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit (2Tim 3:16), als wenn es nur einzelne Begebenheiten weissagen würde.

Die kirchengeschichtliche Auffassung der Apokalypse war schon vor der Reformation umso mehr vorherrschend geworden, je weiter man von dem ursprünglichen Verständnis derselben und, was damit Hand in Hand geht, von dem urchristlichen Chiliasmus abgekommen war. Je mehr die Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung anschwollen, desto mehr war man versucht, in der Offb. eine Weissagung der Kirichengeschichte zu suchen und namentlich die apokalyptischen Zahlen zu chronologischen Berechnungen zu verwenden; und als nun vollends ein Jahrtausend sich erfüllt hatte, so glaubte man auch dem tausendjährigen Reich in der Kirchengeschichte seinen Platz anweisen zu können. Christentum und Kirche waren eine solche Macht in der Welt und der biblisch-prophetische Geistesblick war eben damit so selten geworden, dass man sich dessen nicht wundern kann, hatte doch selbst A u g u s t i n das tausendjährige Reich schon in seiner Zeit für angebrochen erklärt. Man zählte die tausend Jahre teils von Christi Geburt an, weswegen im elften Jahrhundert ein allgemeines Warten des jüngsten Tages durch die Christenheit ging, teil von Constantin, später auch von Karl dem Großen an, wie heutzutage H e n g s t e n b e r g. auf die wunderlichste Weise wurden die Zeiten durcheinander gemischt, wie L u t h e r s eigene Ansicht beweist. (Vgl. darüber B e n g e l s erklärte Offb. Joh., neue Ausg. Stuttg. 1834, S. 669f.). Er rechnete die tausend Jahre von Anfang des N. T. bis auf Gregor VII, fand dann in dem siebenköpfigen Tier das hildebrandtische Papsttum und bezog die Zahl 666 auf die Dauer desselben. Diese Ansicht wurde für die evangelische Kirche in doppelter Hinsicht maßgebend. Einmal galt es, zumal wegen des bekannten 17. Artikels der augsburgischen Konfession, in welchem, wie B e n g e l (S. 672) sagt, gegen den wiedertäuferischen, frühzeitigen, rasenden Chiliasmus ein rechtmäßiges Zeugnis erhalten ist, für orthodox, das tausendjährige Reich nicht mehr zu erwarten, sondern der Vergangenheit zuzuweisen. Sodann "gehörte es zu dem kirchlichen Charakter der protestantischen Exegese, die Apokalypse als prophetischs Kompendium der Kirchengeschichte zu betrachten, wobei die Beziehung der Weissagung auf das Antichristentum des päpstlichen Roms als ausgemacht angesehen wurde." (Lücke S. 1015f.)

1. Bengel

In letzterer Beziehung ist B e n g e l in die Fußstapfen der protestantischen Auslegung getreten; in ersterer hat er gegen dieselbe den urkirchlichen Chiliasmus siegreich geltend gemacht, und dies ist das eigentlich Neue und Bedeutende an ihm. In historischer und chronologischer Hinsicht schließt er eigentlich nur die bisherige Auffassung ab, indem er sie auf die Spitze treibt. Kirchengeschichtliche Auslegungen und apokalyptische Chronologien, welche immer in irgendeinem Maße miteinander verbunden sind, gab es schon vor ihm viele. Und gerade zu den Chronologien lag in seiner Zeit überhaupt eine Tendenz, wie z. B. der ebenfalls 1752 gestorbene Engländer W h i s t o n zeigt, welche die Wiederkunft Christi zuerst auf das Jahr 1715, dann auf 1766 berechnete (Lücke S. 1036). Es hängt dies wohl mit dem damals erwachenden historischen Sinn zusammen, der sich auch auf diesem Gebiet in seiner Art wiederspiegelte, und von dem Bengel selber Notiz nimmt, wenn er einmal sagt: "Alte Leute machen gerne Personalien; so, weil die Welt anfängt alt zu werden, macht sie auch ihre Personalien; deswegen kommt das Studium der Geschichte so empor (B u r k, Bengels Leben und Wirken, S 297). Neu war in dieser Beziehung an ihm nur dies bestimmte chronologische System, wie er selbst sagt: "Nichts Neues habe ich, als die bestimmte Länge der prophetischen Zeiten." (S. 676).

Auf dieses chronologische System fällt nun aber auch bei seiner gesamten Anschauungsweise ein ungemein starkes Gewicht, und es ist ihm dasselbe eigentlich zum Schlüssel für die Apokalypse geworden. Wir müssen daher näher auf dasselbe eingehen. Es ist teils in dem Ordo temporum (1741), teils in der Einleitung zur erklärten Offenbarung entwickelt, und B u r k gibt a. a. D aus beiden Werken sowie aus den später Streitschriften gute Auszüge.

Bengel nimmt die gesamt Weltdauer von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht, indem dieselbe nach einer in der Hl. Schrift sehr häufigen Analogie in die Siebenzahl gefasst sei zu 7777, näher 7777 7/9 Jahren an. auf den bekannten Termin 1836, als mit welchen das tausendjährige Reich beginne, kommt er von hier aus zunächst durch eine Rechnung rückwärts. Er setzt nämlich den Anfang unserer dionysischen Zeitrechnung ins Jahr der Welt 3943, wobei er annimmt, Christus sei 3 Jahre früher geboren. Zieht man jene Zahl oder vielmehr, da es nicht völlig 3943 Jahre sind, die Zahl 3942 von 7777 oder richtiger 7778 ab, so ergibt sich als Gesamtsumme der neutestamentlichen Zeit die Zahl von 3836 Jahren. Die beiden letzten Jahrtausende hiervon abgezogen, geben für den Beginn des tausendjährigen Reiches die Jahreszahl 1836. Bengel nimmt nämlich an, das Jahrtausend der Gebundenheit Satans (Offb 20:1-3) gehe dem der Herrschaft der Heiligen (V. 4-6) voran, so dass das tausendjährige Reich 2000 Jahre umfasse, und die kleine Frist der Lösung Satans (v. 3.7-10) in den Anfang des zweiten Jahrtausends falle. Hierfür beruft er sich hauptsächlich darauf, dass in eineigen wichtigen Zeugen V. 4 vor dem χίλια ἔτη der Artikel fehle, woraus folge, dass hier nicht das schon V. 2 und 3 genannte Jahrtausend gemeint sein könne.