Der Schriftsteller und seine Geistesart

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Michael Hahn

Einführung in seine Gedankenwelt
mit einer Auswahl aus seinen Werken

Von Gottlob Lang (1921)
Quellverlag der Ev. Gesellschaft, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel davor:
Lebensbild von M. Hahn

Der Schriftsteller und seine Geistesart

Die Schriften Hahns umfassen fünfzehn starke Bände, alles in allem sicher zwölftausend Seiten! Sie sind nach seinem Tod herausgegeben worden von einer „Gesellschaft wahrheitsliebender Freunde“, den nächststehenden Brüdern. Dass sie uns die Originalfassung erhielten, auch wo sie spröd und hart klingt, ist dankenswert (spätere Ausgaben sind geglättet); in der Anordnung und Beigabe von Begleit-Notizen vermisst man die literarisch geübte Hand. Wir versuchen einen Blick in die Entstehung dieses eigenartigen Schrifttums zu tun.

Ein allgemeiner Überblick voraus! Wir finden Betrachtungen im Anschluss an eine Schriftstelle (VIII), Erklärungen der neutestamentlichen Schriften (II bis V, VII und IX), sowie der Psalmen (VI) und des natürlich allegorisch gedeuteten Hohelieds (VIII); Lieder, gesammelt im „großen Liederband“ sowie X; Liederzyklen (in I); Briefe in XI bis XIII. Endlich nimmt eine eigenartige Stellung ein das „System“.

Die Schriften sind zum größten Teil Gelegenheitsschriften. Hahn wird gebeten, eine dunkle Stelle in der Schrift zu erklären oder einen seelsorgerlichen Rat zu geben, und es scheint, dass er dies auch ganz gern dann schriftlich tat, wenn der mündliche Weg nicht unmöglich gewesen wäre. Der Beweggrund war wohl, dass auf schriftlichem Wege die sinnlich-seelische Seite der Beeinflussung ausgeschaltet war, die ihm immer besonders verdächtig erschien. Auch die Lieder mit ihren vierzig bis fünfzig Versen sind eigentlich meist seelsorgerliche und lehrhafte Briefe; und die Wahl der Versform ist wohl durch nichts bestimmt als durch das Empfinden, sich in ihr leichter, ungehemmter aussprechen zu können. Auch scheinbar objektive Lieder haben Spuren und Einschübe, welche eine Art Zwiegespräch voraussetzen („glaub es doch“; „zank doch nicht, Freund“). Es bedarf einiger Anstrengung, durch die Schale zum Kern durchzudringen; die Kraft der Formung, die veredelte Sprache unserer Klassiker dürfen wir bei ihm nicht suchen; weite Strecken trägt diese Mystik das Gewand bäuerlicher Nüchternheit, und doch kann plötzlich das unscheinbare Kleid in satten Farben erglänzen bei einem Lied der Gottesanbetung oder der Sehnsucht nach Ausgeburt und Vollendung. – Viele Lieder entstanden spontan aus dem Bedürfnis, seine Gedanken mitzuteilen, besonders die Zyklen: Versöhnungs-, Gewissens-, Weisheitslieder, Lieder über die Bergpredigt; andre werden dem Bedürfnis der entstehenden Gemeinschaft entsprungen sein, auch im Gesang ihre besonderen Gaben auszumünzen. – In späteren Jahren wurde Hahn von Freundeskreisen oder auch von Einzelnen um die Erklärung ganzer neutestamentlicher Schriften gebeten, und so entstanden die meisten Auslegungen. Gerade die später geschriebenen, die sich an einen auf den Autor schon eingestimmten Leserkreis wenden (II - IV), haben trauliche Briefform, jeder Brief schließt mit einem zusammenfassenden Lied, und Hahn legt sich keine Beschränkung auf, auch einmal durch einen ganzen Brief abseits vom Text von dem zu reden, was ihn augenblicklich bewegt. Die Offenbarung (V) lag seiner Geistesart besonders, über sie hat er zweimal (1794 und 1815) geschrieben.

Das einzige zusammenfassende Werk ist ebenfalls auf Bitten und als Beantwortung von Fragen eines Freundes (A. Egeler) entstanden, der ihn ermahnte: wie Paulus müsse er bei seinem Hinscheiden sagen können, er habe von dem ihm geoffenbarten Rat Gottes nichts „vorenthalten“. Es lautet: „Brief über die erste Offenbarung von der Schöpfung bis ans Ziel aller Dinge oder System seiner Gedanken.“ Hier haben wir in der Tat den Ansatz zu einer kleinen Dogmatik, in der weite Partien von einer wundervollen Klarheit des Gedankenaufbaus sind. Leider ist der ursprüngliche Zusammenhang der im Jahr 1811 und 1812 geschrieben Briefe im Druck gelöst und durch eingeschobene Briefe aus anderer Zeit unterbrochen und nicht leicht wiederherzustellen. Auch diese Briefe sind in der Stoffwahl vielfach durch Zufälligkeiten bestimmt und begrenzt. Als Quelle für die Gesamtanschauung Hahns treten ihnen würdig zur Seite: aus frühester Zeit die „Betrachtungen“ (1784, III), die die Form einer erbaulichen Betrachtung für jeden Tag haben, welche Hahn aus der pietistischen Tradition übernahm und die der stark theosophische Einschlag doch wieder sprengte; aus spätester Reifezeit (1817) die in die Erklärung von Hebr 11,1 eingeschachtelten Ausführungen über das kirchliche Glaubensbekenntnis und seine Stellung dazu.

Also scheinbar eine bunte Literatur ohne einheitlichen Plan, dazu durch weitschweifige Breite und Wiederholungen ermüdend. Und doch steht hinter den Bruchstücken eine geschlossene Persönlichkeit; es gibt wenig Schriftsteller, bei denen so in jedem Wort der ganze Mann sich ausspricht, dass man sofort fühlt: das kann nur von Hahn oder aus seiner Schule sein. Und hinter dem Mann steht seine geschlossene Weltanschauung, die einen ungeheuren Stoff aus Bibelforschung, praktischer Erfahrung, mystischer Vertiefung, intuitiver Erkenntnis, philosophischer Tradition verarbeitet und hinunterzwingt unter einen göttlichen Gesichtspunkt, nämlich den: Gott ruht nicht, bis er in allem zur Vollendung gekommen ist. Diesem Großen gegenüber treten bei näherem Vertraut-Werden alle formalen Mängel zurück.

Für den, dem Hahns Werke, die ja eine Seltenheit geworden sind, zur Verfügung stehen, dürften wegen der verwirrenden Fülle einige Winke zum Einlesen erwünscht sein. Die Gedankenwelt spricht sich am eigenartigsten aus in den zwölf ersten Betrachtungen (VIII, 1.Abt., 1ff), in den zwölf Grundbriefen des Systems und besonders Sprachgewaltig im ersten Ansatz der Erklärung der Offenbarung aus dem Jahr 1794 (V, 2.Abt., 2.Aufl. S. 695ff). Außerdem erscheinen mir schon für die Entwicklungsgeschichte der Seele bedeutsam die unten abgedruckten Weisheitslieder (I, Anhang, S. 59ff). Den Seelsorger in seiner Reife zeigt die Briefsammlung namentlich des zwölften Bandes, den Schrifterklärer auf besonderer Höhe der Hebräerbrief (IV), währen er sich den Blickpunkt für die ihm kongenialen Briefe, Epheser- und Kolosserbrief, durch die Polemik gegen die Brüdergemeinde etwas herabgedrückt hat.

Wir kämen aber dem Schriftsteller Hahn nicht nahe, wenn wir nicht eingehen auf seine eigentümliche Erkenntnis höherer Welten. Er führt seine Erkenntnis zurück nicht auf die schließende Vernunft, auch nicht nur auf die Schrift, wenigstens dem Buchstaben nach, sondern auf jenes intuitive Erkennen, das für ihn eine Funktion, wenn nicht die wichtigste, des höheren Leben ist. Hören wir ihn zuerst selbst über das Wesen dieser Erkenntnis, die er Zentralschau nennt.

„Wenn jemand dies Kapitel (Opfervorschriften aus dem 2. Buch Mose) erklären soll nach allen Teilen, so muss er nicht nur die große und kleine Welt (Weltall und Mensch) erkennen, sondern es muss sich in ihm der Zentralgrund eröffnet haben, dass er mit Geistesaugen von dem eröffneten Zentralgrund in alle Linien, die von dem Mittelpunkt ausgehen, in alle auseinandergehenden Kreise sehen und schauen kann. Mystische [nur auf das innere Leben bezügliche] Erklärungen sind meinem zentralisch erleuchteten Geist nicht genug über die Schattenbilder und Figuren Moses; nein, diese gehen hauptsächlich nur die kleine Welt an. Soll ein zentralischer Lichts-Grund ein Genüge finden, so müssen die Erklärungen aus einem Theosophischen Grund fließen und müssen das kleine und große ganze miteinander verbinden und beleuchten.“ (XI, 1.Abt., S.22; 4.Brief)

„Wer sollte sich’s einfallen lassen, dass das Geistes- und Glaubensleben keine Sinne habe? Hat es Vater und Mutter, so hat es die Ähnlichkeit derselben. Folglich hat es wie sein geistlicher Vater und seine geistliche Mutter geistliche Sinne, Augen zu sehen, Ohren zu hören und ein Gefühl zu fühlen usw. Ein jeder Geist sieht in der Welt seiner Mutter; ist der Glaube ein Sohn der Lichtwelt, sollte er dann von derselben nichts wissen, sehen oder hören?“ (IV, Hebr 586; 46.Brief) „Ich war im Geist – d.h. ich oder mein Geist war in seinen Ursprung versetzt, ich war im Zentrum der Kugel oder des Geburtsrads der Ewigkeit und konnte der Kreatur ins Herz sehen, aus dem Ursprung; ich sah, wie sich ein Leben aus dem anderen entwickelte, und blieb in dem einfachen Leben und Wesen der Herrlichkeit im Geist; mein Erkennen war ein Erkannt-Werden, denn das, was ich erkannte, wurde mir wesentlich mitgeteilt, und ich bin im Geist eben dasselbe geworden und habe also erkannt, wie dass auf diese Weise alles so werden soll, bis Gott alles in allen sein kann und wird...“ (V, 3.Abt., S.95)

„Ich für mein Teil darf es vor Gott ihm zum Preis sagen, dass er auch gegen mich unwürdigen Armen wie überflossen ist in aller Weisheit und Verstand, da er den Heiligen Geist mitteilte, und somit den Verstand in all sein teures Gotteswort schenkte, dass mein Seelen-Aug in einer Wahrheit alle, und wieder alle in Einer erblickte, dass ich sagen musste: Abba! halt doch inne, ich werde sonst überschüttet und kann‘s nicht alles nehmen und erfassen! Ein überraschender, stromartiger Erguss deines Gotteslichts ist mir etwas ganz neues; es bewegt meine ganze Natur! ... ich suchte eigentlich einfältiglich nur Gott in Christo, und fand einen überfließenden Reichtum der Herrlichkeit, von dem mein Seelengeist freilich ewig leben wird.“ (III, Eph, S.97; 18.Brief)

Es ist eine besondere Art von Erkenntnis gemeint, möglich nur aufgrund einer Lebensberührung des Erkennen-Wollenden mit seinem Gegenstand, einer Lebensberührung so eng, dass sie nur in der innigsten Verbindung von Mann und Frau ihr Gleichnis hat (erkennen ist „erkannt werden“ im besonderen Sinn). Die Lebensberührung wieder hat zur Folge und Voraussetzung eine Verwandlung des Erkennenden in das Erkannte: „wie der Seher war nach seinem Grund, so sah er“. (V, 3, S.95; 9.Brief)

Ihrem Inhalt nach ist die Erleuchtung einerseits die Antwort auf das feurige, fast quälende Gottsuchen; andrerseits lässt sie einen Blick von innen tun in den Lebenszusammenhang des Menschen und des Welt-Baus; der Erleuchtete kann „der Kreatur ins Herz sehen aus dem Ursprung“ – mit berühmtem Worten ausgedrückt:

Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
schau alle Willenskraft und Samen,
und tu nicht mehr in Worten kramen. (Goethes Faust, 1.Monolog)

Beides ist so zusammengehalten, dass der Erleuchtete eben mit Gottes Augen sieht. Wie kann er das? Seine Erkenntnis kommt aus jenen Tiefen, wo der befreite menschliche Geist mit seinem Ursprung verbunden ist, in ihn hineinreicht: „Der Zentralgrund meines forschenden Geistes ist die Tiefe Gottes und das Herz Jesu, und wer will meinem Geist wehren, seinen Ursprung zu erkennen? (System 257.)

Dieses Erkennen überragt alles wissenschaftliche Wissen – ohne dass dieses darum gering geschätzt werden müsste.

Nicht Lesen, studieren, Nachsinnen und Dichten
Kann etwas, die Weisheit zu finden, ausrichten,
Verhindern kann dieses oft mehr als zu viel,
Ja es kann uns öfters verderben das Spiel.
Denn Wissenschaft kann uns die Weisheit nicht geben,
Wer sie vorher hätte im heiligen Leben,
Der hätte in ihr auch das Wissen daneben.
(Aus den Weisheitsliedern I, Lied 279, V.3)

Ebenso überragt es den gewöhnlichen, auf Autorität ausgehenden Glauben. „Selig, wer dieses glaubt, noch seliger, wer es auch versteht.“

Ja, es überfliegt sogar den Schriftbuchstaben. „Meiner Gedanken Schranken sind das Wort Gottes, aber nicht einseitig betrachtet; und wo das Wort Gottes Analogie verträgt, und den Geist mit Licht und Leben, mit Ruhe und Frieden sicher schließen und schauen lässt, dehnen sich die Schranken nach dem Wachstum und Geistesalter aus.“ (3 System, S. 257.)

Die höhere Erkenntnis hat ihre bestimmten Bedingungen, unter denen sie gewährt wird. Diese liegen für Hahn vor allem auf ethischem Gebiet – und es müsste der ganze Heilsprozess geschildert werden, wenn diese Bedingungen erschöpfend aufgezählt würden. Nur wer sich rein hält von der Befleckung des Fleisches, von allem, was den Geist verzehrt: Neid, Zorn, Sorgen, irdisches Gewühl, kann die Sinne für das höhere Leben ausbilden. Damit der Seele die Erleuchtung zuteilwerde, müssen die oberen Kräfte die unteren vollständig beherrschen. Sie muss eine ganz bestimmte Stellung Gott gegenüber haben. Wer sich liebt, sieht in allen Dingen sich, nur wer Gott liebt, sieht in allem Gott. Die Seele muss als Leidenswerkzeug sich verhalten, auf alle Eigenheit verzichten. Und weil sie dazu Widerstände genug in sich vorfindet, so geht der Weg zur Erleuchtung durch eine Hölle von Angst und Qual. Auch wenn die Weisheit die Seele berührt hat, kommt alles auf das Verhalten an: wenn sie die Strahlen „in Eigenheit“ zieht, erbleichen sie, nur wenn sie in Gebet und Aufopferung in Gott zurückfließen, werden sie bewahrt und verstärkt. Hahn hat diese inneren Bedingungen in einem Lied einem Bruder geschildert, der ihn um die Zentralerkenntnis beneidete. Prächtig zeichnet sich in der Gegenrede das Bild des von der Wahrheit innerlich erfassten, aber von natürlichem starken Willen beseelten Bruders, eines Bauern aus Gültstein, ab (s. Seite 22 ).

Hahn ist sich vollauf bewusst, dass auch diese Erkenntnisquelle, wenigstens in unserem jetzigen Zustand, viele Trübungen erleidet. Einmal deswegen, weil der schließende Verstand sich sozusagen dazwischendrängt und das, was nur als Stückwerk dargereicht wird, voreilig mit seinen Erkenntnismitteln systematisch ergänzen will. „Ich mag nicht einen unvollendeten Stumpen stehen lassen, jetzt nehme ich meine Zuflucht zum Nachschein, oder zu analogischen oder vernünftigen Schlüssen, und vollende einen Punkt; wo er denn oft getroffen ist, oft vielleicht auch nicht.“ (IV, Hebr, S.5; 16.Brief) „Unser ruhiges sanftes Friedensgefühl weicht, wenn durch den wirkenden Verstand etwas herbeigerafft wird.“ (System S.9) Noch mehr aber ist bei der Begrifflichen Fassung, beim Ausdruck die Gefahr eines Wertverlustes. „Unser Geist kann eine Sache erkennen und mit derselben erkannt sein, aber wenn die Erkenntnis in den begrifflichen Teil der Seele gefasst wird, ist es nicht mehr lauter, deutlich und eigentlich, weil die Bilder der Worte und Ausdrücke eine Art Konfusion verursachen.“ (XI, 1.Abt., S.25; 4.Brief)

Wie oft klagt er, dass ihm die schicklichen [passenden] Worte fehlen, dass der Ausdruck nicht rein den Eindruck wiedergebe! Es ist dieselbe Not, die der Künstler kennt auf dem schmerzensreichen Weg von der Konzeption des Werkes bis zur künstlerischen Gestaltung. Und wir fühlen es Hahn nach, dass er diese Not besonders tief empfand, einmal weil beim schwäbischen Charakter überhaupt die Tiefe des Innenlebens mit einer gewissen Schwerfälligkeit mit der Kundgebung nach außen gepaart ist, dann, weil ihm doch hier eine reichere Bildung mehr Möglichkeiten verschafft hätte. Staunenswert ist, wie klar sich trotzdem der Wahrheitsgehalt in seinem Werk niedergeschlagen hat.

Die besondere Geistesart der Hahnischen Erkenntnis spiegelt sich auch in seiner Schreibweise. Wie der Dichter über die künstlerische Inspiration nicht gebieten kann, sondern sie als Geschenk hinnehmen oder verharren muss, so fühlt auch er und spricht es auch oft aus, dass er „die Sache nicht in seiner Gewalt habe“. Oft findet er eine Perle, wenn er am wenigsten gedacht hat, eine zu finden, oder er muss die Saronsblume betrachten, wenn sie offen ist (IV, Hebr, 594; 46.Brief), er kann sich nicht „ketzern“ im Nachdenken, „künsteln, ordnen und schleifen“, er darf sich nicht nach Art der Gelehrten „zerquälen mit Fächern und Rubriken“. (System, 472ff und öfters). Den Mangel, dass er nie zu einer systematischen Darstellung seiner Gedankenwelt kam, empfand er wohl, aber als einen nicht durch seine Macht aufhebbaren – oft bittet er seine Freunde, sie möchten Ordnung in den oder jenen Abschnitt bringen, und redet davon, dass ein anderer nach seinem Hinscheiden alles zusammentrage, wenn der Herr es ihn heiße. Unser Büchlein kann dazu freilich nur allerbescheidenste Vorarbeit tun.

Es ist bei dem Ernst, mit dem er die erleuchtete Erkenntnis als reale Erkenntnis der göttlichen Dinge wertet, merkwürdig, wie frei er seine Leser von allem sklavischen Nachbeten seiner Lehren bewahren will. Immer wieder heißt es: ihr dürft, was ich euch schreibe, nicht als bares Geld nehmen, als ob es bestimmt so sei und zu einem Lehrsystem und Glaubensartikel ausgestaltet werden dürfe, sondern ich habe geschrieben, wie ich es jetzt erkenne. (System 330) Seine Briefbeantwortungen seien nicht Lehrbücher und Symbole, sondern – mit einem schönen Ausdruck – Tagebüchern zu vergleichen, in die er seine Erfahrungen eintrage. (System 474 f.) Er will sich nicht bloß unmittelbar vom Geist Gottes korrigieren lassen, sondern auch mittelbar von solchen, die Gottes Geist haben. „(Der Geistesforscher) gibt nur sein aus der Wahrheit Gefühltes zu bedenken und begehrt inne zu werden, ob da oder dort einer sei, der ebenso mit ihm gleichgesinnt sei, denn wenn viele Lichts-Liebhaber sollten eins sein mit ihm, würde es ihn freuen.“ Anders vertritt er solche Lehren, für die er festen Schriftgrund unter den Füßen hat oder zu haben glaubt, z.B. die Wiederbringung aller Dinge. Aber in Bezug auf seine Ansichten war er ernsthaft willens, sein schönes freies Wort auch auf sich anzuwenden: „Alles was päpstelt, ist nicht echt protestantisch“. (III, Eph 32; 15.Brief)

Eine besonders schwierige Frage dürfen wir nicht umgehen: wieweit war Hahn original? Er selbst schreibt in einer sehr früh geschriebenen Betrachtung (VIII, 2.Abt., S.26; Betrachtung 131): „Dass ich alles, was ich erkannte im Lichte Gottes, gleich mit Worten namentlich hätte ausdrücken können, trifft nicht zu. Daher ich oft erst Worte in einem gleichlautenden Sinn finde, womit ich meine Erfahrung und Erkenntnis deutlicher machen kann; wie es denn erlaubt ist.“ Wo fand er diese Worte und Ausdrucksformen? Ein Durchblättern auch nur eines Auszugs von Jakob Böhme zeigt, dass hier eine Quelle für eine ganze Reihe von Vorstellungen zu finden ist: Tinktur, Temperatur, Ein-Element, Quintessenz, drei Welten, sieben Eigenschaften der göttlichen Natur u.a. Und doch spricht Hahn in starken Worten von der Unmittelbarkeit seiner Erleuchtung und von seiner Unabhängigkeit gerade Böhme gegenüber; er schreibt, allerdings erst im Jahre 1811: „Ich lernte diesen teuren Gottesmann nicht eher kennen, als [es] für mich gut war ... weil ich das System meiner Erkenntnis sollte unmittelbar von Gott haben, wie er, Böhme, das seine.“ „Ob wir öfters einerlei Wort haben, haben wir nicht einerlei Sinn.“ (VII, S.579; 77.Brief) Böhme wird durch Vermittlungen anderer auf seine Ausdrucksformen gewirkt haben, ehe er ihn selbst las; auch Oetinger und Phil. M. Hahn hatte er manches zu danken.

Ein inneres Recht aber zur Betonung seiner Unabhängigkeit hatte er zweifellos, denn was gleich oder ähnlich lautet kommt aus einem ganz anderen Grund: Böhme ist metaphysisch, dem formalen Aufbau der Welt zugewandt, Hahn ist religiös, Gott und der lichtliebenden Seele zugekehrt, erst in zweiter Linie auch dem All. In der vorliegenden Darstellung ist die Frage der literarischen Abhängigkeit, die ja auch eine eigene Untersuchung erfordern würde, unberücksichtigt gelassen.

Aufgeben der Selbstliebe

der einzige Weg zur wesentlichen Erkenntnis (X, Nr. 11)

Ach, dass ich nicht im Stande bin,
In welchem Adam schon gewesen,
Dass ich mit einem reiner‘n Sinn
im Schöpfungsbuche könnte lesen.
Wie hart versiegelt ist es doch,
Und das fast allen Menschen noch!
Wir sind also sehr tief gefallen;
Es ist ja keiner unter allen,
den nicht die grobe Hülle deckt.
Die auch den Geist erstaunlich drückt...

Du fragst: „kann denn nicht jedermann
Auch zur Zentral-Erkenntnis reifen,
Dem so recht vieles liegt daran,
Und möchte sie so gern ergreifen?
Soll dieser nicht gewürdigt sein?
Sag doch, ach Bruder! sag nicht nein!
Du plagst mich sonst mit Missvergnügen;
Sag doch: ein jeder kann sie kriegen.
Soll alles blind sein in dem Haus,
Unwissend gehen ein und aus?“

Nein, jedermann kommt nicht dazu,
Das hast du oben schon gehöret;
Auch der kommt selten recht zur Ruh,
Der sie am eifrigsten begehret*...
  • (der es erzwingen will)

Die Liebe zu der Finsternis
Lässt uns zu diesem Licht nicht kommen.
Du sagst: „wie gut begreif ich dies,
Das hab ich selber wahrgenommen.
Wenn dieses nur das eine wär*,
So hätte ich auch bald die Ehr,
Zur Punkterleuchtung zu gelangen,
Ich will ja doch nur Licht empfangen,
Ich liebe keine Finsternis,
Hab also nicht die Hindernis.“
  • (die eine Verhinderung)

Nur sachte, Bruder; weißt du dann
Was finstre Liebe will besagen,
Die Gotteslicht verhindern kann,
Dass es so lange nicht will tagen?
Du liebst das Licht und dich dabei;
Sag, ob dies nicht ein Chaos sei?
Wirst du dir nicht zum Abscheu werden,
So kommt’s zu keiner neuen Erden,
Wenn schon der Geist auf Wassern schwebt,
Und alles Gute in dir lebt.

Wenn freilich dein Verlangen wär,
Dich zu vergessen, zu verlassen,
Dieweil dein Chaos öd und leer;
So könntest du ein Angstpunkt fassen.
Der Geist trieb dich aus diesem Haus
Und bräche mit dem Geist heraus;
Und durch sein göttliches Bewegen
Würd er sein edles Licht erregen;
Dies stiege im Gemüte an
Und machte, dass man sehen kann.

Doch dein Verlangen ist nicht rein,
Es steigen oft noch dunkle Dünste.
Und diese sollen nicht mehr sein,
Denn sie sind freilich nicht die schönste.
Das Chaossteigen hindert sehr,
Ach, dass es finster stille wär.
Das sehr vermischte finstre Steigen
Lässt immer nicht das Licht erzeugen;
Es kommt nicht in Impression,
Und also auch nicht rein davon.

Wenn du im Angstquell wärest tot,
So wärest du dir selbst gestorben;
Jetzt hätt es ferner keine Not,
Das Gute würde nicht verdorben.
Jetzt würde dir das Licht aufgehn,
Du würdest Gott in allem sehn;
Verstehe Gott, nicht dich, ich meine,
Nur Gott erblicktest du alleine;
Und deine Freude wäre rein,
Du würdest gar ein andrer sein.

Das Herz, das inn‘re, der Natur
Wär freilich dir jetzt aufgeschlossen;
Mit deiner reinen Lichts-Natur
Könnt sich nichts mengen oder stoßen.
Die Liebe hätte sie beseelt,
Zu ihrem Wagen sich erwählt;
Gott würde in derselben fahren,
Und ihr das Ganze offenbaren;
Sie würde wieder, was sie war
Vor Adams Fall, und das ist klar:

Du würdest aller Dinge Art
Nach ihrem inner‘n Grund betrachten;
Es wäre dir geoffenbart,
Wie hoch ein jedes sei zu achten;
Wie etwas nah und ferne sei,
Wie Paradies sich rege frei;
Wie tief es noch in manchen stecke,
Und wie es sich dereinst erwecke.
Es wäre dir in diesem Stand
Kurz wenig Wahres unbekannt.

Du würdest selbst der Spiegel sein,
In dem sich alle Dinge zeigten,
ein jedes strahlte da hinein,
Als wenn sich alle zu dir neigten.
Denn wenn ich in der Liebe bin,
Und falsch Liebe ist dahin,
So bin ich ja in Gottes Lichte,
Und sein Gesicht ist mein Gesichte.
Jetzt ist mir also nichts verdeckt,
Ich schaue, was ich hab geschmeckt.

Denn alle Welt muss doch vergehen,
Und was am Ende bleibet stehen,
Ist Geist und reinere Natur
Mit einer himmlischen Tinktur!

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