Abschluss des 6. Reichs: Unterschied zwischen den Versionen

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(Die Reformation und ihre Kirchen)
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Über die kirchliche Entwicklung bereits des Altertums und noch mehr des Mittelalters wurde seither manches ernste Wort gesagt. Bedenkt man den Ernst, mit dem Paulus in der Frühlingszeit der Kirche den Zustand seiner Gemeinden beurteilte und den noch größeren Ernst des Urteils des erhöhten Herrn über die in der Offenbarung genannten Gemeinden (Offb 2 und 3), dann kann das Recht zum Vergleich der Erscheinungsform der Kirche mit ihrer  Normalgestalt nicht bestritten werden. Nur dass dann der Schaden nicht nur bei einer einzigen Kirche gesehen werden darf. Vielmehr muss die Bereitschaft vorhanden sein, alles kirchliche Leben am Maßstab der Schrift zu messen. Zwar hat nicht nur die alte Kirchengeschichte, sondern auch die des Mittelalters edle Gestalten aufzuweisen, die längst nicht alle mit Namen aufgeführt werden können. Aus der alten Reichskirche wurde seinerzeit Augustin genannt. Ein edler Vertreter der griechischen Kirche war Chrysostomus. Von  den vielen edlen Gestalten der mittelalterlichen Kirche des Abendlands sei auf Franziskus hingewiesen. Auch die Kirche als Ganzes bietet im Mittelalter vielen Anziehende. Die Geschlossenheit des christlichen Lebens der damaligen Zeit hat angesichts der inneren und äußeren Zerrissenheit der Gegenwart etwas Anheimelndes. Menschlich betrachtet war das, was die römische Kirche im Mittelalter fertig brachte, eine gewaltige Leistung: sie hat altrömisches und germanisches Wesen zusammen geschmolzen; sie hat die bereit in Nationen auseinander strebenden Teile zu einer merkwürdigen Einheit zusammen gebunden; sie hat Zucht und Ordnung gehalten. Sie war Gefäß für das Evangelium. Trotzdem kann, auf das Ganze gesehen, auf das Urteil nicht verzichtet werden, dass die Reichsgottesart der Christenheit in der römischen Kirche des Mittelalters noch mehr abgenommen hat als in der Zeit der römischen und griechischen Reichskirche. Bereits wuchs die Kirche auch in dem Stück in die Rolle des alten Reichs hinein, dass sie zur Verfolgung von solchen überging, die zwar ihre Art nicht hatten, aber Leben aus Gott besaßen.<br/><br/>
 
Über die kirchliche Entwicklung bereits des Altertums und noch mehr des Mittelalters wurde seither manches ernste Wort gesagt. Bedenkt man den Ernst, mit dem Paulus in der Frühlingszeit der Kirche den Zustand seiner Gemeinden beurteilte und den noch größeren Ernst des Urteils des erhöhten Herrn über die in der Offenbarung genannten Gemeinden (Offb 2 und 3), dann kann das Recht zum Vergleich der Erscheinungsform der Kirche mit ihrer  Normalgestalt nicht bestritten werden. Nur dass dann der Schaden nicht nur bei einer einzigen Kirche gesehen werden darf. Vielmehr muss die Bereitschaft vorhanden sein, alles kirchliche Leben am Maßstab der Schrift zu messen. Zwar hat nicht nur die alte Kirchengeschichte, sondern auch die des Mittelalters edle Gestalten aufzuweisen, die längst nicht alle mit Namen aufgeführt werden können. Aus der alten Reichskirche wurde seinerzeit Augustin genannt. Ein edler Vertreter der griechischen Kirche war Chrysostomus. Von  den vielen edlen Gestalten der mittelalterlichen Kirche des Abendlands sei auf Franziskus hingewiesen. Auch die Kirche als Ganzes bietet im Mittelalter vielen Anziehende. Die Geschlossenheit des christlichen Lebens der damaligen Zeit hat angesichts der inneren und äußeren Zerrissenheit der Gegenwart etwas Anheimelndes. Menschlich betrachtet war das, was die römische Kirche im Mittelalter fertig brachte, eine gewaltige Leistung: sie hat altrömisches und germanisches Wesen zusammen geschmolzen; sie hat die bereit in Nationen auseinander strebenden Teile zu einer merkwürdigen Einheit zusammen gebunden; sie hat Zucht und Ordnung gehalten. Sie war Gefäß für das Evangelium. Trotzdem kann, auf das Ganze gesehen, auf das Urteil nicht verzichtet werden, dass die Reichsgottesart der Christenheit in der römischen Kirche des Mittelalters noch mehr abgenommen hat als in der Zeit der römischen und griechischen Reichskirche. Bereits wuchs die Kirche auch in dem Stück in die Rolle des alten Reichs hinein, dass sie zur Verfolgung von solchen überging, die zwar ihre Art nicht hatten, aber Leben aus Gott besaßen.<br/><br/>
  
==='''Die Reformation und ihre Kirchen'''===
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==='''Die Reformation und die Kirchen'''===
  
 
Das Feld wäre reif zur Ernte gewesen. Welches Sehnen und Suchen ging durch das 14. und 15. Jahrhundert, zumal in deutschen Landen, als mit dem Niedergang des Papsttums das kindliche Vertrauen zur bisherigen Führung einen Stoß erhalten hatte! Die Papstkirche konnte dieses Sehnen nicht befriedigen, und ist mancherorts gegen diejenigen vorgegangen, die dem Volk Brot statt Steinen darboten. Das Sterben des römischen Reformators Huss und des wahrhaft priesterlichen italienischen Mönches Savonarola ist bekannt.  Da hat Gott eingegriffen und hat der armgewordenen Christenheit noch einmal das Evangelium aufgehen lassen. In zwei Formen hat er es ihr zukommen lassen, in der Wittenberger Reformation durch Luther und in der Genfer durch Calvin. Zwingli kann in dieser kurzen Zusammenfassung übergangen werden, ohne seine Bedeutung und Lauterkeit zu verkenne. Ohne der Genfer Reformation zu nahe treten zu wollen, wird gesagt werden dürfen, dass die lutherische Reformation die eigentliche ist. Die Genfer setzt die lutherische bereits voraus. Außerdem drang die lutherische tiefer in den Mittelpunkt des Evangeliums ein. Das hängt mit dem Tiefgang zusammen, den Luther gehen musste unter der Zucht des Gesetzes und damit unter dem Gericht der Sünde  und unter dem Druck der Heilandslosigkeit, bis er den Höhenweg des Glaubens geführt wurde und am Herrn Christus und damit an der Gnade froh wurde.  
 
Das Feld wäre reif zur Ernte gewesen. Welches Sehnen und Suchen ging durch das 14. und 15. Jahrhundert, zumal in deutschen Landen, als mit dem Niedergang des Papsttums das kindliche Vertrauen zur bisherigen Führung einen Stoß erhalten hatte! Die Papstkirche konnte dieses Sehnen nicht befriedigen, und ist mancherorts gegen diejenigen vorgegangen, die dem Volk Brot statt Steinen darboten. Das Sterben des römischen Reformators Huss und des wahrhaft priesterlichen italienischen Mönches Savonarola ist bekannt.  Da hat Gott eingegriffen und hat der armgewordenen Christenheit noch einmal das Evangelium aufgehen lassen. In zwei Formen hat er es ihr zukommen lassen, in der Wittenberger Reformation durch Luther und in der Genfer durch Calvin. Zwingli kann in dieser kurzen Zusammenfassung übergangen werden, ohne seine Bedeutung und Lauterkeit zu verkenne. Ohne der Genfer Reformation zu nahe treten zu wollen, wird gesagt werden dürfen, dass die lutherische Reformation die eigentliche ist. Die Genfer setzt die lutherische bereits voraus. Außerdem drang die lutherische tiefer in den Mittelpunkt des Evangeliums ein. Das hängt mit dem Tiefgang zusammen, den Luther gehen musste unter der Zucht des Gesetzes und damit unter dem Gericht der Sünde  und unter dem Druck der Heilandslosigkeit, bis er den Höhenweg des Glaubens geführt wurde und am Herrn Christus und damit an der Gnade froh wurde.  
  
Der Weg, den Calvin geführt wurde, ist nicht der gleiche. Er kannte die Gnade ebenfalls; aber im Vordergrund stand für ihn Gottes Herrlichkeit und Ehre. Daher fasste er das Evangelium zugleich als Gesetz, das er nicht bloß selber in eiserner Selbstzucht auslebte, sondern das ihm auch für die Leitung der neuen Gemeinden unentbehrlich war. Bei Luther ist der tiefe sittliche Ernst ebenfalls vorhanden. Nur auf diesem Untergrund hat er die Gnade so dankbar schätzen gelernt. Und niemals hat er die Gnade so verstanden, als ob das Ruhen in ihr den sittlichen Ernst ersetzen dürfe. -aber er fand im dankbaren freudigen Glauben den Quellort für alles sittliche Handeln. In diesen Unterschieden wird es begründet sein, dass die beiden Reformationen sich bei ihrem Gang durch die Welt verschieden ausgewirkt haben. Die lutherische Art ist weltoffener und hat doch das Evangelium erfasst als Kraft zur Überwindung der Welt. Auf Genfer Boden wurde die Welt viel härter bekämpft; aber zugleich wurde der Versuch gemacht, das Reich Gottes in die Welt hineinzubauen. Das ging ohne Härte in der Praxis nicht ab. Und doch konnte das Reich Gottes so nicht gebaut werden, und die Gefahr war vorhanden, dass das Evangelium zu einem feinen Gesetz gemacht werde. Während die evangelischen Kirchen des Festlands mit Ausnahme des derjenigen Frankreichs und der Niederlande vorwiegend lutherische Art annahmen, haben die übrigen evangelischen Kirchen, auch wenn sie nicht von der Genfer Reformation ausgingen, mehr das Gepräge der letzteren. Eine eigenartige Mittelstellung zwischen evangelischer und katholischer Art nimmt die englische Hochkirche ein, von der später die Rede sein wird.
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Der Weg, den Calvin geführt wurde, ist nicht der gleiche. Er kannte die Gnade ebenfalls; aber im Vordergrund stand für ihn Gottes Herrlichkeit und Ehre. Daher fasste er das Evangelium zugleich als Gesetz, das er nicht bloß selber in eiserner Selbstzucht auslebte, sondern das ihm auch für die Leitung der neuen Gemeinden unentbehrlich war. Bei Luther ist der tiefe sittliche Ernst ebenfalls vorhanden. Nur auf diesem Untergrund hat er die Gnade so dankbar schätzen gelernt. Und niemals hat er die Gnade so verstanden, als ob das Ruhen in ihr den sittlichen Ernst ersetzen dürfe. -aber er fand im dankbaren freudigen Glauben den Quellort für alles sittliche Handeln. In diesen Unterschieden wird es begründet sein, dass die beiden Reformationen sich bei ihrem Gang durch die Welt verschieden ausgewirkt haben. Die lutherische Art ist weltoffener und hat doch das Evangelium erfasst als Kraft zur Überwindung der Welt. Auf Genfer Boden wurde die Welt viel härter bekämpft; aber zugleich wurde der Versuch gemacht, das Reich Gottes in die Welt hineinzubauen. Das ging ohne Härte in der Praxis nicht ab. Und doch konnte das Reich Gottes so nicht gebaut werden, und die Gefahr war vorhanden, dass das Evangelium zu einem feinen Gesetz gemacht werde. Während die evangelischen Kirchen des Festlands mit Ausnahme des derjenigen Frankreichs und der Niederlande vorwiegend lutherische Art annahmen, haben die übrigen evangelischen Kirchen, auch wenn sie nicht von der Genfer Reformation ausgingen, mehr das Gepräge der letzteren. Eine eigenartige Mittelstellung zwischen evangelischer und katholischer Art nimmt die englische Hochkirche ein, von der später die Rede sein soll.<br/><br/>
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====<big>Die Not der Volkskirchen</big>====
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Es ist hier gleich die Frage eingeschaltet, ob das neugeschenkte Verständnis des Evangelium die Fehlentwicklung der Kirche aufgehoben hat. Das war nicht der Fall. Im Schoß der römischen Kirche brach das Evangelium hervor. Den deutschen Reformatoren lag der Gedanke fern, eine neue Kirche zu gründen. Sie hofften, die alte Kirche werde das Evangelium gelten lassen, und sie wären dann gerne bereit gewesen, sich in die bisherigen Formen zu fügen, wenn sie nur nicht göttliches Recht beansprucht hätten. Aber die römische Kirche fand bereits damals den Weg zur Umkehr nicht mehr. Sie ließ sich nicht reformieren. Mit der zum Glaubenssatz erhobenen Behauptung von der Unfehlbarkeit des Papsttums im Jahr 1870 vollends hat sie sich zur Buße unfähig gemacht. Der fortlaufende Gegensatz gegen das in der Reformation ans Licht gekommene Evangelium verstärkt und vertieft das, was an der römischen Kirche ungöttlich ist. Wir denken, sie habe noch eine Zukunft, die aber ihre Kraft nicht aus der Tiefe des Evangeliums schöpft, sondern aus dem Gegensatz gegen dasselbe. Doch ist auch jetzt noch Evangelium in ihr enthalten. Ihr Leuchter ist noch nicht weggestoßen.
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Aber der Widerspruch und die Gegenwirkung der römischen Kirche gegen das neuerwachte Glaubensleben ist nicht der einzige Grund dafür, dass auch in den Reformationskirchen die kirchliche Fehlentwicklung nicht überwunden wurde. Ein weiterer lag in der Art, wie die neuen Kirchen sich bildeten. Nur ungern gingen die Wittenberger Reformatoren an die Gründung neuer romfreier Kirchen. Sie taten es erst, als das Evangelium in der alten Kirche kein Lebensrecht erhielt. Die Einführung des Evangeliums in die von der alten Zeit her fest gefügten Verhältnisse war schwer. Luther wusste wohl, dass die Kirche die Gemeinde der Glaubenden ist. Das geht hervor aus der schlichten Auslegung dessen, was Kirche ist, in der Erklärung des 3. Artikels. Aber um der Liebe zum armen Volk willen, und unter dem Druck der Zeit, der eine freie Gemeindebildung ohne Anlehnung an die landeskirchliche und reichsstädtische Verfassung erschwerte, kam Luther auch für die evangelische Kirche auf die staats- und volkskirchliche Form. Er sah keinen anderen Weg.
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Auch Calvin ging in Genf diesen Weg und bildete das Genfer Staatswesen auf dem Weg strenger Zuchtübung zu einer ob seiner Sittenstrenge weithin leuchtenden halbkirchlichen Gemeinwesen um. Dieser Form der Kirche sind Segen und Jammer gleichzeitig eigen. Das Evangelium wird allgemein dargeboten, und aus dem Evangelium fließt auch denen Gutes zu, die kein tieferes Verhältnis zu ihm gewinnen. Auf diese Weise kam unser ganzes deutsches Volk, soweit die evangelischen Kirchen reichten, unter den Schirm des Evangeliums. Es ist dankbar zu schätzen, dass dieser Weg zum Volksganzen noch möglich ist, infolge des Vorhandenseins der Volkskirchen. Aber eine Not ist dabei, auch wenn sie nicht zu allen Zeiten und nicht von allen in gleicher Weise und in gleichem Maß empfunden worden ist und empfunden wird: in der Volkskirche ist das Volksganze Objekt und Subjekt der Kirche in einem. Das heißt: vertreten und dargeboten und vorgelebt werden kann das Evangelium nur von der Kirche im eigentlichen Sinn des Wortes, d. h. von denen, die selber innerlich vom Evangelium erfasst sind. Von dieser Kirche, die auf der Linie der Gemeinde Jesu steht, geht das Evangelium an das Volksganze der Kirche, dem ihre Liebe und ihr Wort gehört. Aber das  Volksganze soll in der Volkskirche gleichzeitig Träger der Kirche sein, soll die Kirche selber darstellen. Mit anderen Worten: die erst berufen sind, Christen zu werden, müssen bereits als Christen gewertet werden. Diese Not kann kaum empfunden werden in den Zeiten, da nicht bloß kirchliches Interesse in weiterem Sinn vorhanden ist, sondern auch Interesse am Evangelium. Da werden immer wieder, manchmal in rascher Folge und großer Zahl, solche, die bisher erst Objekt der Kirche waren, zu deren Subjekt: erst empfingen sie das Evangelium und dann geben sie es an ihre Volksgenossen weiter.
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Aber die Not kommt zutage in Zeiten der geringen Dinge, wenn die Fähigkeit zu glauben klein ist; und noch mehr in solchen Zeiten, wenn Kirche und Volk auseinander gehen, sofern das Volksganze mehr oder minder des Evangeliums müde ist oder gar ein Widerstand gegen dasselbe oder  ein Gegensatz zu ihm aufwacht, und wenn trotzdem das Band zwischen Volk und Kirche fortbestehen soll. Da kann es sein, dass auch solche Kreise rechtlich zur Kirche gehören und als Kirche anerkannt werden müssen, die das Band mit der Kirche tatsächlich, dem inneren Stand nach, gelöst haben. Wer sein Volk wirklich lieb hat, stellt sich nicht als Pharisäer auf die Seite, trägt vielmehr Leid um sein Volk und beugt sich wegen seiner eigenen Sünde und Unzulänglichkeit, die den ernsten Stand des Volkslebens mitverschuldet hat; wird sich auch hüten, das Band zwischen Kirche und Volk noch mehr zu lockern, vielmehr für sein Volk glauben, hoffen, lieben, auch wenn es schwer fällt.  Aber es kann ihm nicht verwehrt werden, diesen Zustand der Kirche als innere Not zu empfinden und für die Volkskirche zu bangen, auch mit dem Aufhören des genannten Bandes zu rechnen.  <br/><br/>
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====<big>Die Kirche der antichristlichen Zeit</big>====
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Das Schlussbild der Offenbarung kennt eigentlich nur eine wirkliche Volkskirche in der Zeit der antichristlichen Not: das ist die werdende neue Gemeinde aus Israel. Und auch sie ist keine den gesamten Volksbestand Israels umfassende Kirche. Die Zahl ihrer Glieder ist beschränkt. Die Mehrheit  des Volks bleibt draußen stehen und findet den Weg noch nicht. Ob aber sonst innerhalb Offb 11-18 eine Volkskirche denkbar ist, ist eine große Frage. Die eigentliche Zeit der Volkskirchen ist die Zeit des 1000-jährigen Reichs.  Für den Ausgang des gegenwärtigen Zeitlaufs wird kaum eine neue Blütezeit der Kirche zu erwarten sein, wenn nämlich die Kirche in echt evangelischem Sinn verstanden wird. Die eigentliche Kirche der Endzeit wird eher zum Anfang zurückkehren und wieder zum kleinen,zerstreuten Häuflein werden. Dagegen  kann es wohl sein,d ass eine anders geartete Kirche in der Endzeit vorhanden ist, vielleicht sogar eine blühende Kirche, aber eine solche, die des Evangeliums entleert und zur Versammlung des Satans geworden ist (Offb 2:9). Trotzdem kann weder Luther noch Calvin ein Vorwurf gemacht werden, dass sie für die neuen Kirchen des Evangeliums die altgewohnte volksmäßige Form wählten. In der gegenwärtigen Weltzeit ist der im Gleichnis vom Acker Mt 13 beschriebene Weg nicht zu vermeiden, zumal seit die Kirche aus ihrer ursprünglichen Freikirche zur volksmäßigen  Form übergegangen ist.
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Der Weg zur völligen Freiheit ist überhaupt nicht gangbar. Mit naturgemäßer Notwenigkeit wird eine Freikirche bereits im 2. und 3. Geschlecht zu einer Art Volkskirche. Und wollte sie gegen der Lauf der Natur sich als völlige Freikirche behaupten, so ginge es ohne Härte und Pharisäismus nicht ab. Die Not der Volkskirche muss - unter Umständen mit kräftigem Zeugnis gegen das, was in und an ihr nicht "Kirche" ist - getragen werden, nicht mit Murren, sondern trotz allen schweren Empfindungen mit Dankbarkeit, dass eine Volkskirche noch vorhanden und noch möglich ist.  Wird die Trennung von der Kirche eigenmächtig vollzogen, so ist die Scheidung (die Separation) nicht ohne Sünde möglich. Soll es zu einer Trennung kommen, die kein böses Gewissen hinterlässt, so muss Gott selbst auf irgendeine Weise, die kein schlechtes Gewissen hinterlässt, so muss Gott selbst auf unmissverständliche Weise das Zeichen dazu geben. Dann kann sie im Frieden geschehen. Aber dann ist auch die Zeit des Märtyrertums gekommen. Mag es Märtyrertum innerlicher Art jetzt schon geben; äußeres Märtyrertum herbeiwünschen oder gar herbeiführen ist eine gefährliche Sache.<br/><br/>
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==='''Die deutsche Geschichte in göttlichem Licht'''===
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Von Deutschland war bisher noch verhältniswenig wenig die Rede. Aber die Erwähnung der Reformation und der evangelischen Volkskirchen lenkt die Gedanken notwendigerweise auf die deutsche Geschichte. In seinem Wort an die Athener hat Paulus in Apg 17:26 den Satz ausgesprochen, dass jedem Volk seine bestimmten Zeiten und die Grenzen seiner Wohnsitze zugewiesen seien. Lassen wir diesen Satz gelten, dann steht auch die geographische Lage des deutschen Volkes unter göttlicher Vorsehung. Die Deutschen sind ein Teil der Germanen, aus mehreren ihrer Stämme bestehend, die nach langen Wanderungen im Gebiet des heutigen Deutschlands ihre Heimat gefunden haben. Sie können die Grenzen,die fast zu eng sind für ihre Volkszahl, nicht sprengen; die Zeiten, da ganze Völker wanderten, sind für die europäischen Völker vorbei. Die weite Verbreitung des Deutschtums außerhalb seiner eigentlichen Heimat ist in der Hauptsache auf dem Weg der Einzelauswanderung zustande gekommen. Das deutsche Volk nimmt die Mitte Europas ein; es ist der Durchgangspunkt von Westen nach Osten, vom Süden nach dem Norden, und umgekehrt. Das deutsche Volk hat im Laufe seiner Geschichte viel ausgestanden. Viel Anteil an seiner Not hat der deutsche Erbfehler der Uneinigkeit. Jedoch ein großer Teil seiner Not rührt auch von der Eigenart seiner geographischen Lage her. Diese hat ihm aber auch ein Wirkungsmöglichkeit von besonderem Ausmaß geschaffen. Infolge seiner Lage ist Deutschland geographisch das Herz Europas; und das deutsche Volk ist das Herz der europäischen Völker geworden - durch seine Geschichte.
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Ob es nicht mit der geographischen Lage zusammenhängt, dass der Neuanfang des Evangeliums gerade dem deutschen Volk beschert wurde? Also nicht etwa um des deutschen Gemüts willen, als ob dieses für das Evangelium empfänglicher wäre als die seelische Verfassung anderer europäischer Völker. Soviel ist ja an dem letzteren Gedanken richtig, dass das deutsche Volk durch viele Leiden äußerer und innerer Art zu einem vertieften Erfassen des Evangeliums erzogen worden ist. Der Grund für die Betrauung mit dem Evangelium lag vielmehr in dem ihm anvertrauten Beruf, es an die europäische Völkerwelt weiterzugeben. Denn als Volk der Mitte war es dazu leichter imstande als ein Volk an der Außenseite. Nur von hier aus wird die Geschichte Deutschlands und damit auch der europäischen Neuzeit göttlich verstanden werden können. Fern sei es, das deutsche Volk hinsichtlich der ihm zuteil gewordenen Gabe und Aufgabe neben das Volk der göttlichen Wahl, neben Israel zu stellen. Nur eine Nation, eben Israel, hat Gott zum Heilsträger für die Welt bestimmt. Aber im gewissen Sinn laufen die beiden Völker doch nebeneinander her.  Beide sind in die Mitte gestellt: Israel in die des großen Kontinentalblocks, d.h. in die Mitte zwischen den drei großen zusammenhängenden Erdteilen; Deutschland in die Mitte Europas. Beide haben eine große Diaspora, d. h. ein großes Auslandsvolkstum innerhalb der Völkerwelt. Bei sind Völker des Leidens. Beide haben eine große gottgewollte Aufgabe. Beide wurden schwer gezüchtigt, wenn sie ihrer Berufung untreu wurden. <br/><br/>
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====<big>Frage der Weltstellung</big>====
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Darf auch gesagt werden: beide sind nicht endgültig verstoßen?  Von Israel gilt's; aber dessen Wiederaufnahme kommt erst nach furchtbarer Demütigung. Demütigungen unerhörter  Art nach glänzendem äußeren Aufschwung sind in der Gegenwart auch über Deutschland verhängt worden. Wird auf die Demütigung eine Wiederaufnahme durch Gott folgen? Und wenn eine solche kommt, welcher Art wird sie sein? Was Christen für Deutschland begehren, ist eine neue Aufnahme in Gottes Gnade und neue Berufung zum Dienst. Die Bedingung hierfür ist die gleiche wie für Israel: eindringende Buße. Eine Rückgabe seines früheren äußeren Glanzes ohne gleichzeitige inwendiger Erneuerung  wäre für das deutsche Volk gar nicht günstig. Eine solche wäre möglich von ganz anderer als von Gottes Seite her, nämlich von der des Feindes, der dem Judentum, gerade weil es sich gegen seinen Beruf verhärtet hat, Weltstellung zu geben beginnt nach dessen tiefer Demütigung durch Gottes Gericht. Weltstellung ohne Buße, ohne Gott, ist kein Segen, sondern Fluch. An solchem Fluch kranken die Weltvölker, obwohl sie, äußerlich betrachtet, obenan sind.

Version vom 2. Mai 2020, 11:05 Uhr

Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor: 3. Die Zeitdauer Roms als 6. Reich

in Bearbeitung

2. Teil
Vom apostolischen Zeitalter bis zur Gegenwart

4. Abschluss des 6. Reichs

Über die kirchliche Entwicklung bereits des Altertums und noch mehr des Mittelalters wurde seither manches ernste Wort gesagt. Bedenkt man den Ernst, mit dem Paulus in der Frühlingszeit der Kirche den Zustand seiner Gemeinden beurteilte und den noch größeren Ernst des Urteils des erhöhten Herrn über die in der Offenbarung genannten Gemeinden (Offb 2 und 3), dann kann das Recht zum Vergleich der Erscheinungsform der Kirche mit ihrer Normalgestalt nicht bestritten werden. Nur dass dann der Schaden nicht nur bei einer einzigen Kirche gesehen werden darf. Vielmehr muss die Bereitschaft vorhanden sein, alles kirchliche Leben am Maßstab der Schrift zu messen. Zwar hat nicht nur die alte Kirchengeschichte, sondern auch die des Mittelalters edle Gestalten aufzuweisen, die längst nicht alle mit Namen aufgeführt werden können. Aus der alten Reichskirche wurde seinerzeit Augustin genannt. Ein edler Vertreter der griechischen Kirche war Chrysostomus. Von den vielen edlen Gestalten der mittelalterlichen Kirche des Abendlands sei auf Franziskus hingewiesen. Auch die Kirche als Ganzes bietet im Mittelalter vielen Anziehende. Die Geschlossenheit des christlichen Lebens der damaligen Zeit hat angesichts der inneren und äußeren Zerrissenheit der Gegenwart etwas Anheimelndes. Menschlich betrachtet war das, was die römische Kirche im Mittelalter fertig brachte, eine gewaltige Leistung: sie hat altrömisches und germanisches Wesen zusammen geschmolzen; sie hat die bereit in Nationen auseinander strebenden Teile zu einer merkwürdigen Einheit zusammen gebunden; sie hat Zucht und Ordnung gehalten. Sie war Gefäß für das Evangelium. Trotzdem kann, auf das Ganze gesehen, auf das Urteil nicht verzichtet werden, dass die Reichsgottesart der Christenheit in der römischen Kirche des Mittelalters noch mehr abgenommen hat als in der Zeit der römischen und griechischen Reichskirche. Bereits wuchs die Kirche auch in dem Stück in die Rolle des alten Reichs hinein, dass sie zur Verfolgung von solchen überging, die zwar ihre Art nicht hatten, aber Leben aus Gott besaßen.

Die Reformation und die Kirchen

Das Feld wäre reif zur Ernte gewesen. Welches Sehnen und Suchen ging durch das 14. und 15. Jahrhundert, zumal in deutschen Landen, als mit dem Niedergang des Papsttums das kindliche Vertrauen zur bisherigen Führung einen Stoß erhalten hatte! Die Papstkirche konnte dieses Sehnen nicht befriedigen, und ist mancherorts gegen diejenigen vorgegangen, die dem Volk Brot statt Steinen darboten. Das Sterben des römischen Reformators Huss und des wahrhaft priesterlichen italienischen Mönches Savonarola ist bekannt. Da hat Gott eingegriffen und hat der armgewordenen Christenheit noch einmal das Evangelium aufgehen lassen. In zwei Formen hat er es ihr zukommen lassen, in der Wittenberger Reformation durch Luther und in der Genfer durch Calvin. Zwingli kann in dieser kurzen Zusammenfassung übergangen werden, ohne seine Bedeutung und Lauterkeit zu verkenne. Ohne der Genfer Reformation zu nahe treten zu wollen, wird gesagt werden dürfen, dass die lutherische Reformation die eigentliche ist. Die Genfer setzt die lutherische bereits voraus. Außerdem drang die lutherische tiefer in den Mittelpunkt des Evangeliums ein. Das hängt mit dem Tiefgang zusammen, den Luther gehen musste unter der Zucht des Gesetzes und damit unter dem Gericht der Sünde und unter dem Druck der Heilandslosigkeit, bis er den Höhenweg des Glaubens geführt wurde und am Herrn Christus und damit an der Gnade froh wurde.

Der Weg, den Calvin geführt wurde, ist nicht der gleiche. Er kannte die Gnade ebenfalls; aber im Vordergrund stand für ihn Gottes Herrlichkeit und Ehre. Daher fasste er das Evangelium zugleich als Gesetz, das er nicht bloß selber in eiserner Selbstzucht auslebte, sondern das ihm auch für die Leitung der neuen Gemeinden unentbehrlich war. Bei Luther ist der tiefe sittliche Ernst ebenfalls vorhanden. Nur auf diesem Untergrund hat er die Gnade so dankbar schätzen gelernt. Und niemals hat er die Gnade so verstanden, als ob das Ruhen in ihr den sittlichen Ernst ersetzen dürfe. -aber er fand im dankbaren freudigen Glauben den Quellort für alles sittliche Handeln. In diesen Unterschieden wird es begründet sein, dass die beiden Reformationen sich bei ihrem Gang durch die Welt verschieden ausgewirkt haben. Die lutherische Art ist weltoffener und hat doch das Evangelium erfasst als Kraft zur Überwindung der Welt. Auf Genfer Boden wurde die Welt viel härter bekämpft; aber zugleich wurde der Versuch gemacht, das Reich Gottes in die Welt hineinzubauen. Das ging ohne Härte in der Praxis nicht ab. Und doch konnte das Reich Gottes so nicht gebaut werden, und die Gefahr war vorhanden, dass das Evangelium zu einem feinen Gesetz gemacht werde. Während die evangelischen Kirchen des Festlands mit Ausnahme des derjenigen Frankreichs und der Niederlande vorwiegend lutherische Art annahmen, haben die übrigen evangelischen Kirchen, auch wenn sie nicht von der Genfer Reformation ausgingen, mehr das Gepräge der letzteren. Eine eigenartige Mittelstellung zwischen evangelischer und katholischer Art nimmt die englische Hochkirche ein, von der später die Rede sein soll.

Die Not der Volkskirchen

Es ist hier gleich die Frage eingeschaltet, ob das neugeschenkte Verständnis des Evangelium die Fehlentwicklung der Kirche aufgehoben hat. Das war nicht der Fall. Im Schoß der römischen Kirche brach das Evangelium hervor. Den deutschen Reformatoren lag der Gedanke fern, eine neue Kirche zu gründen. Sie hofften, die alte Kirche werde das Evangelium gelten lassen, und sie wären dann gerne bereit gewesen, sich in die bisherigen Formen zu fügen, wenn sie nur nicht göttliches Recht beansprucht hätten. Aber die römische Kirche fand bereits damals den Weg zur Umkehr nicht mehr. Sie ließ sich nicht reformieren. Mit der zum Glaubenssatz erhobenen Behauptung von der Unfehlbarkeit des Papsttums im Jahr 1870 vollends hat sie sich zur Buße unfähig gemacht. Der fortlaufende Gegensatz gegen das in der Reformation ans Licht gekommene Evangelium verstärkt und vertieft das, was an der römischen Kirche ungöttlich ist. Wir denken, sie habe noch eine Zukunft, die aber ihre Kraft nicht aus der Tiefe des Evangeliums schöpft, sondern aus dem Gegensatz gegen dasselbe. Doch ist auch jetzt noch Evangelium in ihr enthalten. Ihr Leuchter ist noch nicht weggestoßen.

Aber der Widerspruch und die Gegenwirkung der römischen Kirche gegen das neuerwachte Glaubensleben ist nicht der einzige Grund dafür, dass auch in den Reformationskirchen die kirchliche Fehlentwicklung nicht überwunden wurde. Ein weiterer lag in der Art, wie die neuen Kirchen sich bildeten. Nur ungern gingen die Wittenberger Reformatoren an die Gründung neuer romfreier Kirchen. Sie taten es erst, als das Evangelium in der alten Kirche kein Lebensrecht erhielt. Die Einführung des Evangeliums in die von der alten Zeit her fest gefügten Verhältnisse war schwer. Luther wusste wohl, dass die Kirche die Gemeinde der Glaubenden ist. Das geht hervor aus der schlichten Auslegung dessen, was Kirche ist, in der Erklärung des 3. Artikels. Aber um der Liebe zum armen Volk willen, und unter dem Druck der Zeit, der eine freie Gemeindebildung ohne Anlehnung an die landeskirchliche und reichsstädtische Verfassung erschwerte, kam Luther auch für die evangelische Kirche auf die staats- und volkskirchliche Form. Er sah keinen anderen Weg.

Auch Calvin ging in Genf diesen Weg und bildete das Genfer Staatswesen auf dem Weg strenger Zuchtübung zu einer ob seiner Sittenstrenge weithin leuchtenden halbkirchlichen Gemeinwesen um. Dieser Form der Kirche sind Segen und Jammer gleichzeitig eigen. Das Evangelium wird allgemein dargeboten, und aus dem Evangelium fließt auch denen Gutes zu, die kein tieferes Verhältnis zu ihm gewinnen. Auf diese Weise kam unser ganzes deutsches Volk, soweit die evangelischen Kirchen reichten, unter den Schirm des Evangeliums. Es ist dankbar zu schätzen, dass dieser Weg zum Volksganzen noch möglich ist, infolge des Vorhandenseins der Volkskirchen. Aber eine Not ist dabei, auch wenn sie nicht zu allen Zeiten und nicht von allen in gleicher Weise und in gleichem Maß empfunden worden ist und empfunden wird: in der Volkskirche ist das Volksganze Objekt und Subjekt der Kirche in einem. Das heißt: vertreten und dargeboten und vorgelebt werden kann das Evangelium nur von der Kirche im eigentlichen Sinn des Wortes, d. h. von denen, die selber innerlich vom Evangelium erfasst sind. Von dieser Kirche, die auf der Linie der Gemeinde Jesu steht, geht das Evangelium an das Volksganze der Kirche, dem ihre Liebe und ihr Wort gehört. Aber das Volksganze soll in der Volkskirche gleichzeitig Träger der Kirche sein, soll die Kirche selber darstellen. Mit anderen Worten: die erst berufen sind, Christen zu werden, müssen bereits als Christen gewertet werden. Diese Not kann kaum empfunden werden in den Zeiten, da nicht bloß kirchliches Interesse in weiterem Sinn vorhanden ist, sondern auch Interesse am Evangelium. Da werden immer wieder, manchmal in rascher Folge und großer Zahl, solche, die bisher erst Objekt der Kirche waren, zu deren Subjekt: erst empfingen sie das Evangelium und dann geben sie es an ihre Volksgenossen weiter.

Aber die Not kommt zutage in Zeiten der geringen Dinge, wenn die Fähigkeit zu glauben klein ist; und noch mehr in solchen Zeiten, wenn Kirche und Volk auseinander gehen, sofern das Volksganze mehr oder minder des Evangeliums müde ist oder gar ein Widerstand gegen dasselbe oder ein Gegensatz zu ihm aufwacht, und wenn trotzdem das Band zwischen Volk und Kirche fortbestehen soll. Da kann es sein, dass auch solche Kreise rechtlich zur Kirche gehören und als Kirche anerkannt werden müssen, die das Band mit der Kirche tatsächlich, dem inneren Stand nach, gelöst haben. Wer sein Volk wirklich lieb hat, stellt sich nicht als Pharisäer auf die Seite, trägt vielmehr Leid um sein Volk und beugt sich wegen seiner eigenen Sünde und Unzulänglichkeit, die den ernsten Stand des Volkslebens mitverschuldet hat; wird sich auch hüten, das Band zwischen Kirche und Volk noch mehr zu lockern, vielmehr für sein Volk glauben, hoffen, lieben, auch wenn es schwer fällt. Aber es kann ihm nicht verwehrt werden, diesen Zustand der Kirche als innere Not zu empfinden und für die Volkskirche zu bangen, auch mit dem Aufhören des genannten Bandes zu rechnen.

Die Kirche der antichristlichen Zeit

Das Schlussbild der Offenbarung kennt eigentlich nur eine wirkliche Volkskirche in der Zeit der antichristlichen Not: das ist die werdende neue Gemeinde aus Israel. Und auch sie ist keine den gesamten Volksbestand Israels umfassende Kirche. Die Zahl ihrer Glieder ist beschränkt. Die Mehrheit des Volks bleibt draußen stehen und findet den Weg noch nicht. Ob aber sonst innerhalb Offb 11-18 eine Volkskirche denkbar ist, ist eine große Frage. Die eigentliche Zeit der Volkskirchen ist die Zeit des 1000-jährigen Reichs. Für den Ausgang des gegenwärtigen Zeitlaufs wird kaum eine neue Blütezeit der Kirche zu erwarten sein, wenn nämlich die Kirche in echt evangelischem Sinn verstanden wird. Die eigentliche Kirche der Endzeit wird eher zum Anfang zurückkehren und wieder zum kleinen,zerstreuten Häuflein werden. Dagegen kann es wohl sein,d ass eine anders geartete Kirche in der Endzeit vorhanden ist, vielleicht sogar eine blühende Kirche, aber eine solche, die des Evangeliums entleert und zur Versammlung des Satans geworden ist (Offb 2:9). Trotzdem kann weder Luther noch Calvin ein Vorwurf gemacht werden, dass sie für die neuen Kirchen des Evangeliums die altgewohnte volksmäßige Form wählten. In der gegenwärtigen Weltzeit ist der im Gleichnis vom Acker Mt 13 beschriebene Weg nicht zu vermeiden, zumal seit die Kirche aus ihrer ursprünglichen Freikirche zur volksmäßigen Form übergegangen ist.

Der Weg zur völligen Freiheit ist überhaupt nicht gangbar. Mit naturgemäßer Notwenigkeit wird eine Freikirche bereits im 2. und 3. Geschlecht zu einer Art Volkskirche. Und wollte sie gegen der Lauf der Natur sich als völlige Freikirche behaupten, so ginge es ohne Härte und Pharisäismus nicht ab. Die Not der Volkskirche muss - unter Umständen mit kräftigem Zeugnis gegen das, was in und an ihr nicht "Kirche" ist - getragen werden, nicht mit Murren, sondern trotz allen schweren Empfindungen mit Dankbarkeit, dass eine Volkskirche noch vorhanden und noch möglich ist. Wird die Trennung von der Kirche eigenmächtig vollzogen, so ist die Scheidung (die Separation) nicht ohne Sünde möglich. Soll es zu einer Trennung kommen, die kein böses Gewissen hinterlässt, so muss Gott selbst auf irgendeine Weise, die kein schlechtes Gewissen hinterlässt, so muss Gott selbst auf unmissverständliche Weise das Zeichen dazu geben. Dann kann sie im Frieden geschehen. Aber dann ist auch die Zeit des Märtyrertums gekommen. Mag es Märtyrertum innerlicher Art jetzt schon geben; äußeres Märtyrertum herbeiwünschen oder gar herbeiführen ist eine gefährliche Sache.

Die deutsche Geschichte in göttlichem Licht

Von Deutschland war bisher noch verhältniswenig wenig die Rede. Aber die Erwähnung der Reformation und der evangelischen Volkskirchen lenkt die Gedanken notwendigerweise auf die deutsche Geschichte. In seinem Wort an die Athener hat Paulus in Apg 17:26 den Satz ausgesprochen, dass jedem Volk seine bestimmten Zeiten und die Grenzen seiner Wohnsitze zugewiesen seien. Lassen wir diesen Satz gelten, dann steht auch die geographische Lage des deutschen Volkes unter göttlicher Vorsehung. Die Deutschen sind ein Teil der Germanen, aus mehreren ihrer Stämme bestehend, die nach langen Wanderungen im Gebiet des heutigen Deutschlands ihre Heimat gefunden haben. Sie können die Grenzen,die fast zu eng sind für ihre Volkszahl, nicht sprengen; die Zeiten, da ganze Völker wanderten, sind für die europäischen Völker vorbei. Die weite Verbreitung des Deutschtums außerhalb seiner eigentlichen Heimat ist in der Hauptsache auf dem Weg der Einzelauswanderung zustande gekommen. Das deutsche Volk nimmt die Mitte Europas ein; es ist der Durchgangspunkt von Westen nach Osten, vom Süden nach dem Norden, und umgekehrt. Das deutsche Volk hat im Laufe seiner Geschichte viel ausgestanden. Viel Anteil an seiner Not hat der deutsche Erbfehler der Uneinigkeit. Jedoch ein großer Teil seiner Not rührt auch von der Eigenart seiner geographischen Lage her. Diese hat ihm aber auch ein Wirkungsmöglichkeit von besonderem Ausmaß geschaffen. Infolge seiner Lage ist Deutschland geographisch das Herz Europas; und das deutsche Volk ist das Herz der europäischen Völker geworden - durch seine Geschichte.

Ob es nicht mit der geographischen Lage zusammenhängt, dass der Neuanfang des Evangeliums gerade dem deutschen Volk beschert wurde? Also nicht etwa um des deutschen Gemüts willen, als ob dieses für das Evangelium empfänglicher wäre als die seelische Verfassung anderer europäischer Völker. Soviel ist ja an dem letzteren Gedanken richtig, dass das deutsche Volk durch viele Leiden äußerer und innerer Art zu einem vertieften Erfassen des Evangeliums erzogen worden ist. Der Grund für die Betrauung mit dem Evangelium lag vielmehr in dem ihm anvertrauten Beruf, es an die europäische Völkerwelt weiterzugeben. Denn als Volk der Mitte war es dazu leichter imstande als ein Volk an der Außenseite. Nur von hier aus wird die Geschichte Deutschlands und damit auch der europäischen Neuzeit göttlich verstanden werden können. Fern sei es, das deutsche Volk hinsichtlich der ihm zuteil gewordenen Gabe und Aufgabe neben das Volk der göttlichen Wahl, neben Israel zu stellen. Nur eine Nation, eben Israel, hat Gott zum Heilsträger für die Welt bestimmt. Aber im gewissen Sinn laufen die beiden Völker doch nebeneinander her. Beide sind in die Mitte gestellt: Israel in die des großen Kontinentalblocks, d.h. in die Mitte zwischen den drei großen zusammenhängenden Erdteilen; Deutschland in die Mitte Europas. Beide haben eine große Diaspora, d. h. ein großes Auslandsvolkstum innerhalb der Völkerwelt. Bei sind Völker des Leidens. Beide haben eine große gottgewollte Aufgabe. Beide wurden schwer gezüchtigt, wenn sie ihrer Berufung untreu wurden.

Frage der Weltstellung

Darf auch gesagt werden: beide sind nicht endgültig verstoßen? Von Israel gilt's; aber dessen Wiederaufnahme kommt erst nach furchtbarer Demütigung. Demütigungen unerhörter Art nach glänzendem äußeren Aufschwung sind in der Gegenwart auch über Deutschland verhängt worden. Wird auf die Demütigung eine Wiederaufnahme durch Gott folgen? Und wenn eine solche kommt, welcher Art wird sie sein? Was Christen für Deutschland begehren, ist eine neue Aufnahme in Gottes Gnade und neue Berufung zum Dienst. Die Bedingung hierfür ist die gleiche wie für Israel: eindringende Buße. Eine Rückgabe seines früheren äußeren Glanzes ohne gleichzeitige inwendiger Erneuerung wäre für das deutsche Volk gar nicht günstig. Eine solche wäre möglich von ganz anderer als von Gottes Seite her, nämlich von der des Feindes, der dem Judentum, gerade weil es sich gegen seinen Beruf verhärtet hat, Weltstellung zu geben beginnt nach dessen tiefer Demütigung durch Gottes Gericht. Weltstellung ohne Buße, ohne Gott, ist kein Segen, sondern Fluch. An solchem Fluch kranken die Weltvölker, obwohl sie, äußerlich betrachtet, obenan sind.