Der Prophet Daniel: Vorwort

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Abschrift des Buches: Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis
in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert.

Verfasser: Karl August Auberlen (1854)
Verlag: Bachmaier's Buchhandlung, Basel

In Bearbeitung


Der Prophet Daniel: Vorwort

In den nachfolgenden Blättern wage ich es, dem christlichen und theologischen Publikum einen zum Verständnis der biblischen Weissagung in die Hände zu legen. Ihrem wesentlichen Inhalt nach schon im Jahr 1852 vollendet, ist die kleine Schrift seither wieder und wieder durchgearbeitet worden.

Das Alte Testament ist weit ausdrücklicher durch unmittelbare göttliche Autorität bezeugt als das Neue, indem es von Jesus und den Aposteln allenthalben als Wort des lebendigen Gottes mit Ehrerbietung genannt und gebraucht wird. Aber unter uns hat dasselbe ein eigentümliches Geschick, welches recht deutlich zeigt, wie verschieden seine ganze Denk- und Darstellungsart, seine gesamte Gottes- und Weltanschauung von der unter uns gangbaren ist; so verschieden, wie etwa ein hehrer mächtiger Urwald von dem Treiben unserer großen Städte. Es ist am frühesten von der rationalistischen Kritik in Anspruch genommen worden, und sie scheint sich auf diesem Boden auch am längsten halten zu wollen. Während sie auf dem dogmatischen und neutestamentlichen Gebiet so ziemlich als überwunden betrachtet werden darf, gibt es immer noch keine unbeträchtliche Zahl namhafter Theologen, welche in ihrer Auffassung des Alten Bundes mehr oder weniger prinzipiell von jenen Einflüssen beherrscht sind. Fast bei keiner alttestamentarischen Schrift ist dies in so hohem Grade der Fall, wie bei dem Buch Daniels, an welches sich auch in diesem Betracht die alttestamentliche und neutestamentliche Schrift des Neuen Bundes, die Offenbarung Johannis, sehr eng anschließt. Die Unechtheit Daniels ist in der modernen Theologie so sehr zum Axiom geworden, dass man sie gar nicht eigentlich mehr beweisen zu müssen glaubt, und dass der neueste Ausleger desselben kurz und rund erklärt, "kein vernünftiger Mensch" könne daran zweifeln. Es liegt in der Natur der Sache, dass unsere Untersuchung in allen Punkten von Daniel ausgehen musste, und zwar mit spezieller Bezugnahme auf die kritische Frage, nicht nur weil diese bei dem jetzigen Stand der dinge immer noch im Vordergrund steht, sondern weil es von ihrer Beantwortung abhängt, welche Bedeutung man der alttestamentlichen und konsequenterweise dann auch der neutestamentlichen Apokalypse zuerkennt.

In letzter Instanz gilt freilich vielmehr das Umgekehrte: von unserer Grundanschauung über Prophetie und Eschatologie hängt unsere kritische Grundanschauung zu diesen Büchern ab. Die ganze Art, wie jetzt Daniel und die Apokalypse behandelt werden, hat ihren eigentlichen Grund darin, dass es an dem Schlüssel zum tieferen Verständnis der Weissagung fehlt, und dass man nun, was über den eigenen Horizont in göttlicher Hoheit hinausragt, der Fülle seines übermenschlichen Gehaltes entleert, um es in dem engen Kreise der hergebrachten oder einmal angenommen Begriffe und Voraussetzungen unterbringen zu können. Sobald die Dogmatik in eschatologischen Dingen heller sehen wird, wird auch die Kritik über die Apokalypsen der beiden Testamente ganz anders urteilen. Dieselben werden von der Theologie ebenso hoch gehoben und in ihrer einzigartigen Bedeutung für die Gemeinde Gottes gewürdigt werden, als man sie jetzt noch verkennt und ausleert. Man darf hier allerdings die Schuld nicht bloß beim Rationalismus suchen. Der biblische Reichsblick hat sich schon früh in der Kirche anfangen zu trüben und verlor sich in demselben Maß, in welchem sie in die Welt sich hineinlebte.

Die Reformation hat wohl Schriftwahrheiten auf den Leuchter gestellt, welche, konsequent durchgeführt, auch den Schlüssel zur Prophetie enthalten; allein eben an dieser Durchführung hat es noch fehlen lassen. Bei einer Theologie nun aber, welche mit ihren eigentümlichen Lebenswurzeln dem Wesen dieser Welt angehört (1Jo 4:5), ist es nicht anders zu erwarten, als dass ihr die Tiefe und Höhe und Weite der göttlichen Reichsgedanken vollends abhanden kam. Für eine solche Theologie ist zunächst die Annahme der Unechtheit Daniels eine Notwendigkeit, aber - das sollte man weder leugnen noch verkennen - keine historische, sondern eine dogmatische. Und diese kritische Voraussetzung fordert dann ebenso notwendig die verflachende Exegese, deren Willkürlichkeit und Unhaltbarkeit wir in Bezug auf das 2., 7. und 9. Kapitel nachzuweisen versucht haben. So ist die moderne Behandlung Daniels ein vorzügliches Beispiel jener unevangelischen Stellung zur Heiligen Schrift, die als der eigentliche Wurm der protestantischen Theologie bezeichnet werden kann. Nach derselben steht in erster Linie die aus Zeitvorstellungen gebildete dogmatische Grundanschauung; von dieser aus wird für's andere an den Büchern der Hl. Schrift Kritik geübt, und erst daran schließt sich dann endlich die Exegese, welche nun im Wort Gottes nichts finden darf, als was Schuldogmatik und Kritik an ihr übrig gelassen haben.