Rom als 6. Reich

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Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)’'
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor: Das weisssagende Wort als Wegweiser

2. Rom als 6. Reich

Das alte Rom

Wir treten nun ein in eine Darstellung der Geschichte seit 70 n. Chr. unter den dargelegten Gesichtspunkten. Die urchristlichen Gemeinden im römischen Reich hatten zuerst teil an der Duldung, die die jüdischen Gemeinden genossen. Aber als Israels ablehnende Haltung gegen die neue Gemeinde entschieden war, wurde der Unterschied der christlichen Gemeinden zu den jüdischen bekannt. Das römische Reich ertrug das Christentum nicht. Zeuge davon sind die vielen Verfolgungen, deren erste noch vor das Jahr 70 fällt. Die Christen wurden trotz ihrer Treue gegenüber dem Staatswesen als Fremdkörper empfunden, der den Bestand des Staates gefährdete. An einem Punkt war der Staat besonders unerbittlich, und der Christenheit war an dieser Stelle ein Entgegenkommen unmöglich: am Kaiserkult, d. h. an der göttlichen Verehrung des Kaisers. Bei diesem Kult handelte es sich nicht eigentlich um Huldigung vor dem jeweiligen Kaiser. Im Kaisertum erwies das Reich sich selbst göttliche Ehre, es setzte sich selbst an Gottes Stelle. Das römische Reich trat an die Stelle des Reiches Gottes, und der Kaiser beanspruchte gewissermaßen die Stelle des Christus. Die göttliche Verehrung des Antichrists und seines Bildes, von der in Offb 13 im Blick auf die Endzeit die Rede ist, bahnte sich bereits im alten römischen Reich an.

Der Staat und die Gemeinde Jesu

Im Jahr 303 n. Chr. holte das Reich zum Vernichtungsschlag gegen die alte Christenheit aus. In dieses Jahr fällt der Beginn der furchtbaren diokletianischen Christenverfolgung, die sich die folgerichtige Ausrottung des Christentums im Reich zum Ziel setzte. Die Verfolgung währte jahrelang. Der Kaiser Konstantin gab dann den Übertritt zum Christentum frei, ja erhob es in seinen späteren Jahren zur bevorzugten Religion. Und seine Nachfolger suchten das Heidentum zu verdrängen. Die Versuche Julians nach der Mitte des 4. Jahrhunderts, dem Heidentum wieder neue Geltung zu verschaffen, misslangen. Fast über Nacht war die Gemeinde Jesu aus einer Schar von Geächteten zur hoch geehrten Kirche geworden. Und die Kirche entwickelte sich zur Reichskirche.

Reichskirche! In diesem einen Wort prägt sich der ganze Umschwung in der Stellung der Kirche aus, der durch die veränderte Haltung des Kaisertums herbeigeführt wurde. Es gab nun zweierlei Reiche: das römische Reich und das Reich Gottes. Die Benennung der damaligen Kirche als Reichskirche will nicht die Beziehung der damaligen Kirche zum Reich Gottes herausheben, sondern ihre Stellung im römischen Reich und zum römischen Reich. Nun war das römische Reich zur Kirche in Beziehung getreten, und schätzte und schützte sie. Das Reich führte der Kirche die Bevölkerung zu, damit sie dieselbe in ihre Pflege nehme, und ihr ihre Pforten öffne. Es begehrte an der Kirche einen Halt für das ganze Volksleben und eine Stütze des Staats. Und die Kirche war dankbar für die Entlassung aus der furchtbaren Verfolgungszeit, und für die Aufschließung des neuen großen Arbeitsfelds. Sie schätzte ihrerseits das Reich. Und nun suchte sie die Bevölkerung des ganzen Reichs zu umspannen. Bereits in den Zeiten des Drucks hatte sie sich feste Ordnungen gegeben, nicht nur für den Gottesdienst, sondern auch für das Zusammenleben in der Einzelgemeinde, und für den Zusammenschluss der Gemeinden zu größeren Verbänden. Nun kam die Kirchenverwaltung auf, deren Mittelpunkte die großen Städte waren. Dem Bischofsamt wurde immer größere Bedeutung zugemessen. Für den Westen des Reichs hatte der Bischof von Rom längst ausschlaggebende Bedeutung. Langsam meldete sich das Papsttum an, auch wenn der Name noch nicht da war.

Es war eine Änderung gegenüber der ersten Zeit eingetreten, angesichts deren es der Kirche bei aller Dankbarkeit bang werden musste. Sie freute sich der neuen Stellung im Reich und - das Reich Gottes wurde ihr darüber ferner. Das römische Reich war da, aber das Reich Gottes war noch nicht da - in der Dankbarkeit für den Frieden nach dem Kampf, war die Reichskirche manchmal nahe daran, sich mit dem Reich Gottes zu verwechseln; selbst Augustin lagen solche Gedanken nicht ganz fern. Es war für die Kirche verhängnisvoll, dass sie sich selbst nicht mehr recht verstand, nämlich dass sie Jesu Gemeinde sei, zwar in der Welt, aber nicht von der Welt. An dieser Stelle, wo von Kirche und Kirchen die Rede ist, ist es von Wert, sich über das Verhältnis der Gemeinde Jesu zu all den Organisationen klar zu werden, die wir heutzutage mit dem Namen "Kirchen" oder Kirchenkörper bezeichnen, ob sie nun großen oder kleinen Umfang haben.

Die Gemeinde Jesu und die Kirchen

Das Reich Gottes ist noch nicht da, weil der Christus, der König des Reichs, der Menschheit noch fehlt. Er ist vorhanden, unsichtbar gegenwärtig, alles erfüllend, gerade wie Gott mit seiner Gegenwart alles erfüllt. Aber offenbar geworfen ist er noch nicht. Denn die Stätte seiner unmittelbaren Gegenwart ist noch der Himmel, der Thron Gottes. Aber er hat bereits eine Schar, die ihm als Erstling, als Angebinde aus der Menschheit gehört, das ist seine Gemeinde. Ihr Kennzeichen ist der Glaube, d. h. die Verbindung mit ihm über alle Schranken des Orts und der Zeit hinüber. Die Glieder der Gemeinde wissen, dass sie sich den Glauben nicht selber gegeben haben, dass er ihnen vielmehr geschenkt ist; dass alles, was sie von der Welt unterscheidet, Gabe und Gnade ist. Die Gemeinde weiß, dass sie berufen ist zum Dienst an der armen christuslosen Welt, berufen auch zum Leiden. Sie weiß, dass ihr eigentliches Gut noch in der Zukunft liegt; aber das, was sie schon hat, möchte sie um keinen, von der Welt gebotenen Preis fahren lassen. Im inneren Leben ist eine Neuschöpfung schon da; aber im übrigen ist sie selber im Warten, und mitten ins Harren der Kreatur hineingestellt. Ihr größtes Gut ist, dass sie Gott nicht mehr gegen sich hat, wie auch bei ihr selbst die Feindschaft des natürlichen Menschen gegen Gott aufgehört hat. Die Versuchung ist damit noch nicht geschwunden, der Kampf ist vielmehr nun erst recht entbrannt; aber mitten darin ist sie vom Frieden Gottes umgeben. Sie bedarf täglicher Buße und täglicher Vergebung; aber sie bekommt sie auch täglich. Es ist eine weltweite Gemeinschaft, in der alle Unterschiede und Gegensätze, die sonst in der Welt Trennung stiften, aufgehoben sind; und doch ist der Zugang zu ihr eng. Weder die Gemeinde selber kann die Tür zu sich aufmachen, noch kann der Zutretende sie öffnen; denn der Schlüssel liegt in Christi Hand. Er ist es, der zu seiner Gemeinde hinzutut, die sich helfen, heilen, retten lassen.

So ist die Gemeinde Jesu innerhalb der Welt ein Geheimnis. Die Welt kann es nicht begreifen. Sogar sich selber ist sie ein Geheimnis. Sie ist kein Volk im gewöhnlichen Sinn des Wortes; denn die natürliche Grundlage des Volkstums fehlt, sie greift über jedes Volkstum hinaus. Sie ist auch kein Verein, zu dem man Zutritt begehren, und von dem man wieder weggehen kann. Das letztere ist besonders wichtig, weil es immer wieder naheliegt, die Gemeinde mit einem vereinsartigen Gebilde zu verwechseln. Menschliche Zusammenschlüsse mögen allerlei Namen tragen; sie können sich Verein, Vereinigung, Körperschaft, Bund, Kreis, Gruppe, Richtung oder Gemeinschaft nennen. Aber die Zugehörigkeit zu einem menschlichen Gebilde bedeutet noch nicht die Zugehörigkeit zur Gemeinde Jesu, und kann diese Zugehörigkeit auch nicht verbürgen oder herbeiführen. Vielen wäre es lieber, wenn es anders wäre; viele meinen mit dem Zutritt zu einer derartigen Gemeinschaft, und mit der Aufnahme in sie, dem Reich Gottes eingefügt zu sein. Aber gerade die Freiheit von allem menschlichen Machen ist ein köstliches Kleinod der Gemeinde Jesu. Sie ist der Beginn der neuen Welt, für Gott geschaffen durch Christi Hand und Geist, noch während der alten Ordnung der Dinge.

Aber nun wird die Frage immer dringender: was ist denn die Christenheit? Was ist die Kirche? Ist Christenheit, ist Kirche nicht gleichbedeutend mit dieser Gemeinde? Dem Namen, der Bezeichnung nach, fällt Christenheit und Kirche mit der Gemeinde Jesu zusammen. Denn das Wort "Christenheit" bezeichnet die Menschheit, soweit sie zu Christus Beziehung hat, und zwar als ein Ganzes. Und "Kirche" könnte mit "Herrnheit" übersetzt werden; diese Benennung fasst also ebenfalls die Beziehung zum Herrn Christus als das bezeichnende Merkmal dessen, was "Kirche" heißt. Nun werden ja beide Beziehungen auch in ihrem Vollsinn gebraucht, so bei Luther in seiner Erklärung des 3. Artikels, wo er die Christenheit auf Erden als die Schar bezeichnet, die von sich aus weder mit ihrer Vernunft, noch mit ihrer Kraft den Weg zu Jesus Christus, ihrem Herrn gefunden hätte, die aber durch die berufende, sammelnde, erleuchtende und heiligende Arbeit des Heiligen Geistes zu ihm gebracht, und im rechten einigen Glauben bei ihm erhalten wird. Aber die tatsächliche Erscheinung der Christenheit, und die geschichtlichen Erscheinungsformen der Kirchen, entsprechen dem eigentlichen Inhalt der Benennungen nicht. Bezeichnend ist schon die Verwendung des Wortes Kirche in der Mehrzahl. Zwar wird das griechische Urwort im Neuen Testament auch in der Mehrzahl gebraucht; aber in all diesen Stellen leuchtet die tatsächliche Einheit der Kirche in aller Deutlichkeit durch. Die Mehrzahl hat da nur geographischen Sinn, sofern die Gemeinde Gottes ihre Glieder an vielen Orten hat, wo sie sich dann normalerweise als zusammengehörig fühlen, so dass sie eine örtlich zusammengehörige, eine Lokalgemeinde innerhalb der einen Kirche, der "una sancta ecclesia", bilden. Der Ausdruck "Kirchen" ist aber längst über die Bedeutung der Mehrzahl hinausgewachsen, welche die örtlichen Besonderheiten der einen Kirche im Auge hat; er bezeichnet jetzt Richtungs- und Wesensunterschiede, ja Gegensätze im Großen wie im Kleinen.

Es gehört zum Jammer der Christenheit, dass sie in ihrer Mitte so grundverschiedene große Kirchenkörper hat; aber zu diesem Jammer gehört auch die, dass es sogar an kleinen Orten Zersplitterungen gibt, die nicht durch das praktische Bedürfnis hervorgerufen sind, sondern durch tiefere Unterschiede. Es sind hier nicht Unterschiede gemeint, die naturgemäß und natürlich sind, wie der Unterschied zwischen Judenchristen und Heidenchristen, oder bei den Kirchen die Besonderheit durch das Volkstum. Solche Unterschiede müssten die Einheit nicht aufheben, könnten vielmehr die Herrlichkeit der großen Gnadengabe in verschiedenartiger Weise widerspiegeln. Gemeint sind solche Unterschiede, die am Wesen der Gemeinde gemessen, eine Unnatur sind, wie z.B. Paulus solche Spaltungen in 1Kor 1-4 mit großem Weh und Ernst gerügt hat. Neben solcher kleinkirchlichen und großkirchlichen Zerrissenheit mutet das die Zertrennungen übersehende ,und die Zusammengehörigkeit betonende Wort "Christenheit" heimelig an. Nur entspricht eben der tatsächliche Stand der Christenheit, dem durch das Wort vorgetäuschten Normalzustand, nicht.

Aber mit der Feststellung, dass die Gemeinde Jesu mit der Christenheit und mit den Kirchen nicht zusammenfalle, weder mit den großen, in langer Geschichte gewordenen, mit ihrer aus der Geschichte zu erklärenden Gebundenheit, noch mit den kleineren sog. freien Gemeinden und Gemeinschaften und Verbänden, die im Grunde auch kleine Kirchen sind - mit dieser Feststellung ist immer noch nicht gesagt, an welcher Stelle der Schaden sitzt. Er liegt nicht an der Größe, als ob sich die Kirche von der Gemeinde Jesu damit entfernen würde, wenn sie an Umfang wächst. Dieses Wachstum hat ja ernste Gefahren gebracht, die aber die Christenheit nicht hätten verderben müssen. Auch Johannes sah in Offb 7:9-17 die Gemeinde Jesu aus der Völkerwelt als eine unzählbar große Schar. Der Schaden muss auch nicht von der Verfassung herrühren, als ob die Christenheit sich selber untreu würde, wenn sie sich bestimmte Formen und Regeln gibt. Gewiss haben sich die Kirchen verdorben durch selbstgewählte Ordnungen, wenn diese nämlich ihrem Wesen nicht entsprachen und noch mehr, wenn sie das Heil abhängig machten von menschlichen Satzungen, und so aus ihnen ein Joch zimmerten für das Gewissen; solche Gefahren haften sogar an den Formen und Regeln, die sich kleine Kreise geben. Aber die Verfassung an sich verdirbt die Gemeinde Jesu Christi nicht, wenn sie dem Wesen des Glaubens entspricht und der Liebe dient, und wenn über der Verfassung nicht vergessen wird, dass die Gemeinde nicht von dieser Welt ist, dass also die Formen als etwas Irdisches und Zeitliches, das Wesen nicht ersetzen können und dürfen.

Dass z. B. die erste Gemeinde die Versorgung der Armen regelte, dass die Gemeinden des Paulus in ihre Gottesdienste und Verhältnisse Ordnung brachten, das entfremdete sie ihrer Berufung und ihrem Beruf nicht. Die Christenheit hat im Anfang gut gewusst, dass bei der Ausübung eines Amts in wahrhaft christlichem Sinn der Heilige Geist nicht entbehrlich, sondern höchst nötig sei. Darum wurde seiner Zeit ein Mann voll des Heiligen Geistes zum Armenpfleger bestellt. Nicht einmal die Mischung hätte die Gemeinde Jesu verderben müssen. Denn die Rückstände des alten Wesens können, und sollen zur Buße und Wachsamkeit, und zum Anziehen der Überwinderkraft treiben. Und die zurückbleibenden und fehlenden Glieder können und sollen Gegenstand der Bruderliebe werden. Und die Erziehungsaufgabe am nachwachsenden Geschlecht, und an den neu Hinzugefügten, gibt der Liebe reichen Stoff, und dem nach oben gerichteten Trieb neue Nahrung. Darum müsste auch die schon manchmal als der Krebsschaden für die Kirche sein, sondern Anlass zum Dank, dass auch die Kinder der Glaubenden von der Wurzel ihres Lebens an unter der entgegenkommenden, suchenden, leitenden und heiligenden Gnade stehen, und unter sie gestellt werden dürfen. Nicht einmal die Sünde, so ernst ihr Vorkommen in der Gemeinde Jesu zu beurteilen ist, müsste sie verderben, wenn nur die eigene Einsicht in die Verfehlung, und die Mahnung der Brüder zur Buße führt. Nicht die Sünde an sich ruiniert die Gemeinde Jesu, sondern der Leichtsinn ihr gegenüber, und die Meinung in der Sünde beharren zu dürfen (Röm 6).

Die Ausrichtung der Gemeinde Jesu

Das bisher Angeführte betrifft an sich Nebendinge. Schlimmer ist’s, wenn die Richtung der Gemeinde auf den Hauptpunkt nicht festgehalten wird. Die Hauptrichtung der Gemeinde muss nach oben gehen und nach vorwärts, dem kommenden Reich entgegen. Oben ist der Herr der Gemeinde, oben ist der eine Gott und Vater, oben ist der Thron Gottes, von dem aus alles gelenkt wird, oben ist der Teil der Gemeinde, der den irdischen Lauf schon hinter sich hat; oben ist bis jetzt noch das Reich. "Suchet, was droben ist!" (Kol 3:1) "Lasset uns aufsehen! Und VOR der Gemeinde liegt das Reich. Nicht die Gemeinde selber ist das Reich, aber sie ist berufen zum Reich Gottes und zu seiner Herrlichkeit, und zum seligen Dienst darin als Christi Organ, und muss alle Kräfte einspannen, des Reichs würdig, und zum Dienst darin fähig zu werden. Und wie der Blick nach vorwärts zur Reinigung treibt, so spornt er auch zum Dienst an der armen Welt schon in dieser Weltzeit. Denn ohne Dienst würde sie selbst des Reichs verlustig gehen.

Daraus geht hervor, dass die Gefahrenpunkte für die Gemeinde an 3 Stellen liegen: die Gemeinde darf sich nicht auf sich selbst einstellen, auch nicht auf die Welt, auch nicht auf die Zeit. An allen drei Punkten kann es zur Entartung kommen, denn der Schwerpunkt der Gemeinde liegt nicht in ihr selbst, auch nicht in der jetzigen irdischen Welt, auch nicht im gegenwärtigen Zeitlauf. Ihre Richtung geht von sich selbst weg, nach oben und nach vorwärts, dem kommenden Reich und seinem König entgegen.

Manche Kirchenkörper, ob sie nun groß oder klein sind, welche Bezeichnung sie auch tragen oder sich geben, verderben sich an einem der genannten Punkte, manche auch an zwei oder an allen drei. So gibt es Kirchen und Gemeinschaften, denen man weder den nach oben, noch den nach vorwärts gerichteten Sinn absprechen kann; aber sie kommen immer wieder auf IHRE Besonderheiten zurück, und sehen mehr oder minder im Zutritt gerade zu ihrem Kreis die Bedingung, oder wenigstens eine Erleichterung der Teilnahme am Reich Gottes. Damit nehmen sie ihrem Herrn einen Teil seiner Ehre, stoßen manche Suchende ab, und erschweren sich selbst innerlich und äußerlich den ihnen aufgetragenen Dienst. Andere Kirchenkörper haben in dieser Hinsicht ein weites Herz; aber sie nehmen zu viel Rücksicht auf Welt und Zeit. Unsere evangelischen Kirchen sind weithin in dieser Gefahr. Der Blick nach vorwärts, und der Mut zum Vorwärtsgehen - nicht im Sinne des weltlichen Fortschritts, sondern der göttlichen Notwendigkeiten - auf die Gefahr des Verlusts der Volksgunst hin, und mit der Bereitschaft zum Leiden: dieser Sinn will mangeln. Vor lauter Rücksichtnahme nimmt die Salzkraft ab und das fad gewordene Salz wird zertreten. Besonders groß ist die Gefahr, in der Welt heimisch zu werden und sich darin einzurichten. Dann wird die Kirche weltlich. Diese Gefahr der Weltfrömmigkeit wird noch verstärkt, wenn die Kirche vergisst, dass das Reich Gottes erst kommen muss, und darüber sich selber mit dem Reich Gottes verwechselt oder meint, in ihrer weltlichen Art und mit weltlichen Mitteln das Reich Gottes darstellen, oder herstellen zu können.

Wenn einmal eine Wendung in eine der verkehrten Richtungen stattgefunden hat, dann werden auch die Punkte gefährlich, die an sich die Gemeinde Jesu nicht gefährden müssten, also der Umfang einer Kirche, ihre Größe und Unübersichtlichkeit; die Betonung der Verfassung und der Formen überhaupt; endlich der gemischte Zustand, der an sich vom Wachstum untrennbar ist - denn dann wird nicht mehr alle Kraft an die Überwindung der Sünde gesetzt, und die letztere wird so zu Gewöhnung.

Die Kirche kann, darf und soll mit heißer Liebe umfasst werden. Aber beim heutigen Gebrauch des Wortes "Kirche" schwingt bereits eine Empfindung dafür mit, dass durch die Entwicklung der Gemeinde Jesu (die die Gemeine Gottes ist) zur Kirche, irgend etwas verloren gegangen ist. Bei vielen ist's das Gefühl, bei nicht wenigen ist es auch bitter, ja schadenfroh geworden. Der Verlust gehet weit zurück. Er meldete sich bereits leise in der Christenheit Jerusalems an; aber auf heidenchristlichem Boden ging es mit dem Verlieren rascher und tiefgründiger. In der nachapostolischen Zeit ging bereits manches verloren; je weiter die Gemeinde sich zur "Kirche" entwickelte, um so rascher ging der Verlust weiter und verbreitete sich auf mehrere Gebiete. Er war schon stark geworden, noch ehe die Kirche zur Reichskirche wurde. Aber nun gab es kein Halten mehr. Die Kirche richtete sich in dieser Welt und für diesen Zeitlauf ein. Sie war nicht mehr bloß IN der Welt, sondern wurde allmählich VON der Welt. Auch die Reformation vor 400 Jahren hat den beschrittenen Weg nicht rückgängig machen können. Die Reformatoren wollten ja keine neue Kirche gründen. Die Kirche zur Gemeinde Jesu zurückzubilden geht über Menschenkraft. Der Weg der Kirche war auch bereits zu sehr festgelegt. Es handelte sich mehr darum, die Gemeinde Jesu innerhalb der Staatskirchen und Volkskirchen zu stärken. So mussten auch die, aus der Reformationszeit erwachsenen Kirchen, das alte kirchliche Erbe weiterführen.

Die Kirchen der Gegenwart

Blicken wir auf die Gegenwart. Da sind Volkskirchen; sie ringen schwer an der riesengroßen Aufgabe, die beiden Größen, Volk und Kirche, zu einer wirklichen Einheit zusammenzubinden und gleichzeitig ihrem Volk und der Gemeinde Jesu zu dienen. Da sind Freikirchen; sie meinen in ihren Anfangszeiten, den Gefahren der geschichtlich gebundenen Kirchen entgehen zu können; aber wenn sie aufrichtig sind, dann merken sie, dass bereits beim zweiten und dritten Geschlecht die gleichen Nöte auftauchen, an denen die Volkskirchen leiden. Da sind die Sekten; manche führen von der Gemeinde Jesu geradezu ab. Aber auch solche, denen die Reinheit der Gemeinde von der Vermischung mit Welt und Zeit am Herzen liegt, verderben sich selbst, weil sie sich mit der Gemeinde Jesu verwechseln. Damit beugen sie sich völlig auf sich selbst zurück, und schließen ihre Glieder und diejenigen, welche sie zu sich heranziehen, in ihre Enge ein, und verletzen gleichzeitig die Achtung und die Liebe gegen diejenigen, die nach ihrer Meinung draußen stehen. Auch die Gemeinschaften sind gegen die Verkehrungen nicht geschützt, welche der Gemeinde Jesu gefährlich werden; weder die örtlichen Gemeinschaften noch die Verbände, zu welchen sie sich zusammenschließen.

Es gibt nur eine Rettung aus den Nöten und Gefahren der Kirchen, der Gemeinschaften und Sekten: das ist nicht die Vereinzelung der einzelnen Christen, der sog. christliche Individualismus, sondern die tägliche Besinnung auf die EINE heilige christliche Kirche des Glaubensbekenntnisses, auf die "una sancta ecclesia", auf die Gemeinde Jesu, die die Gemeinde Gottes ist, die die Gemeinde, der vom Heiligen Geist Geleiteten ist; das ist die Bitte um die Annahme durch Jesus, um die Kindschaft Gottes, um die Gabe des Heiligen Geistes, und damit um die Einfügung in Christi Gemeinde. Diese Bitte muss - Gott sei Dank! - nicht bei Menschen vorgebracht werden; die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde ist zum Glück nicht an die Zugehörigkeit zu einem kleineren oder größeren Kirchenkörper gebunden; wiewohl es auch nicht richtig wäre, solche Zugehörigkeit zu verachten, denn ohne sie wäre die Kenntnis Jesu nicht zustande gekommen. Bei einer von ihnen ist auch mit der Taufe die Berufung zu Jesus erfolgt, und dieser gilt es mit wachsender Treue Folge zu leisten.

Das Beste in den verschiedenen Kirchen ist die Gemeinde Jesu in ihr. Es wurde bereits ausgesprochen, dass diese nicht als äußerlich in die Erscheinung tretendes Ganzes fassbar ist. Ihre sichtbare Darstellung ist unmöglich, obwohl sie kein verschwommenes, zerfließendes Gebilde ist. Diese Gemeinde ist der Halt der Kirchen. So lange sie diese Gemeinde in ihrer Mitte schätzt, ja solange sie dieselbe auch nur dulden, bleibt den Kirchen noch Gnade, Salz und Leuchtkraft für die Welt, sogar bei starken Abweichungen von der Normalgestalt der Kirche.

Die Verkehrung der Gemeinde Jesu, wie sie im Lauf der Kirchengeschichte Wirklichkeit geworden ist, und in noch ausgedehnterem und ernsterem Maße Wirklichkeit werden wird, waren unvermeidlich, obwohl menschliche Schuld dabei auch eine Rolle spielt, aber weniger als Einzelschuld, sondern als Gemeinschuld. Sie begannen ja bereits zur Zeit der Apostel, die schon mit ihnen ringen mussten. Diese Verkehrung ist auch vielfach gar keine Neuerscheinung, als ob sie immer nur eine Verschlechterung eines vorher guten Zustandes wär; sondern sie rührt großenteils von dem vorchristlichen Erbe her, das die neuen Glieder der Gemeinde mitbrachten, das sie noch nicht überwunden hatten, und das sie auch nach ihrem Zutritt nicht völlig überwanden. Je massenhafter der Eingang in die Kirche war, umso mehr suchte auch der Geist, der nicht völlig gewonnenen Mengen, Eingang in die Kirche. So hat die Kirche Erbstücke übernommen, an denen sie schwer zu tragen hatte und noch zu tragen hat. Sie hat Erbstücke aus dem jüdischen Wesen, aber auch sehr ernste aus der griechischen Art, und aus dem römischen Wesen, das sich zumal im Westen des Reichs ausbildete. Und jedes neue Jahrhundert, jedes neue Volk hat neue Art und neue Unart mitgebracht. So wäre es verkehrt, die alte Christenheit zu schelten, dass sie Reichskirche geworden ist.

Ursache der Missstände

Aber die Erkenntnis ist trotzdem wichtig, dass dieser Gang der Kirche, trotz seiner geschichtlichen Unvermeidbarkeit, nicht der gottgewollte ist. Er ist so wenig gottgewollt, wie das Sündigen dem Willen Gottes entspricht. Die Sünde ist auch ein Merkmal des menschlichen Wesens geworden; aber Gottes Wille ist es trotzdem nicht, das gesündigt wird, und das Sündigen macht schuldig. Woher rühren alle Verkehrungen letzten Endes? Daher, dass diese Weltzeit bereits ihren Gott hat (2Kor 4:4). Derjenige, der dem gegenwärtigen Zeitlauf das Gepräge gibt, dessen Art und Wille die ganze menschliche Geschichte beherrscht, ist aber nicht der Vater Jesu Christi, sondern der Widersacher Gottes, der Satan. Er muss abtreten, wenn das Reich Gottes kommt, vorher nicht. Der gegenwärtige Zeitlauf hat für das Reich Gottes noch keinen genügenden Raum. Die Gemeinde Jesu in dieser Weltzeit ist der Wegbereiter des Reichs, aber noch nicht das Reich selber. Wir stehen nun vor der tiefernsten Erkenntnis, dass die Überleitung der Gemeinde Jesu in die Kirchenkörper ein satanisches Kunststück war, dazu bestimmt, die Gemeinde Gottes aus ihrer Bahn zu locken, und Gott sein Organ in der Welt zu entwenden. Es ist richtig, dass schon dieser Gedanke erschrecken muss. Der Gedanke muss aber richtig gefasst werden. Es ist nicht gesagt worden, dass die Kirche oder kirchliches Wesen satanisch sei; sonst müsste man an der Kirche verzagen.

Aber die Tatsache, dass die Gemeinde Jesu in die Bahn der Kirchen hinüberkam - worunter nicht bloß die großen Kirchen zu verstehen sind, wie die katholische und die evangelischen, sondern auch alle die christlichen Zusammenschlüsse bis hinüber zu den Sekten - diese Tatsache ist im satanischen Wirken begründet. Alle kirchlichen Gebilde - wieder im weitesten Sinne des Wortes verstanden - sind gemischter Art: sie haben nicht rein göttliche Art, sondern sind auch satanisch beeinflusst und beeinflussbar, in verschiedenem Grad. Es ist damit nicht mehr gesagt, aber auch nicht weniger, als was Jesus im zweiten Ackergleichnis Mt 13:24-30.36-43 ausgesprochen hat: der Acker, auf dem er guten Samen ausgestreut hat, bringt es im gegenwärtigen Zeitlauf zu keiner reinen Ernte, infolge der listigen Gegenwirkung des bösen Feindes. Jeder Versuch, die Mischung auf dem Ackerboden zu beseitigen, wäre nicht nur aussichtslos, sondern sogar gefährlich. Aber die Absicht des bösen Feindes, die Ernte zu verderben, misslingt doch. Durchkreuzt wird sie aber erst beim letzten Gericht, vorher nicht. Nicht einmal das Reich Gottes auf Erden, das 1000-jährige Reich, bringt bereits die unvermischte Gemeinde hervor; die entsteht erst durch das sichtende und verzehrende Gericht hindurch, das am Ende des Zeitlaufs steht (Offb 13:39.40).

Aufhören der Missstände

Die eben genannte Zeitbestimmung für das Aufhören des Mischzustandes bedarf noch einer Erläuterung durch einen vorläufigen Ausblick auf das Reich Gottes auf Erden, mit welchem der vorliegende Gedankengang abgeschlossen werden soll. Das Reich Gottes auf Erden, dessen Aufrichtung wir vom wiederkommenden Herrn erwarten, gehört z. T. noch zum gegenwärtigen Zeitlauf. Es wird die Wende der Zeiten sein, an der Grenze des jetzigen und des kommenden Zeitlaufs. Das Ende der bisherigen Entwicklung steht erst am Schluss des 1000-jährigen Reiches; denn dann erst wird dem Satan jede Möglichkeit weiteren Verderbenkönnens genommen, dann erst wird die alte Welt durch das Gericht beendet, dann erst tritt die neue Schöpfung in Kraft. Insofern hat die gegenwärtige Stimmung in weiten Kreisen der Christenheit recht, die sich gegen den Gedanken eines baldigen Abschlusses des gegenwärtigen Zeitlaufs wehrt: die Zeit des antichristlichen Reichs ist noch nicht die Endzeit im sprachlichen Sinne des Wortes, als ob sie dem, was man gewöhnlich die "Ewigkeit" nennt, UNMITTELBAR vorausginge. Das Endgericht, der "Untergang der Welt" steht noch nicht vor der Tür, auch wenn der gegenwärtige Lauf der Menschheitsgeschichte rascher seinem Schlusspunkt entgegeneilt, als die meisten ahnen, auch als die christlichen Kirchen das Wort haben wollen. Denn zwischen dem eben genannten Schlusspunkt, und dem Abschluss der alten Welt, steht ja das Reich Gottes auf Erden, das wir gewöhnlich das 1000-jährige Reich nennen.

Das Reich Gottes auf Erden

Wieviel Unklarheit und Missverständnis, wieviel verkehrtes Wirken, wieviel verkehrtes Hoffen und verkehrtes Fürchten würde vermieden, wenn die Christenheit ernstlich mit dem nicht bloß Offb 20, sondern in der ganzen Schrift bezeugten Reich Gottes auf Erden rechnen würde! Dann wäre sie auch nicht veranlasst, immer wieder das Reich Gottes sehen zu wollen in einer Zeit, die dem antichristlichen Reich entgegengeht. So ist auch eine biblische Beurteilung der ganzen kirchlichen Entwicklung, die zwar sich gerne alles Segens freut, den sie aufweist, die aber auch die Augen nicht verschließen kann und will, gegenüber dem Mangel der Kirchenzeit, ja gegenüber der satanisch gewirkten Verderbnis, die selbst auf diesem Gebiet sich breit macht, nur dann möglich, wenn das Reich Gottes erfasst wird als eine hinter dem gegenwärtigen Zeitlauf kommende Größe, an der Schwelle zwischen Zeit und Ewigkeit, die Zeit abschließend, die Ewigkeit einleitend.

Aus den vorstehenden Darlegungen wird ersichtlich sein, dass keine Schmähung der alten Reichskirche beabsichtigt ist, auch keine Geringschätzung, oder gar Schmähung der Kirchen überhaupt, wenn die kirchliche Entwicklung, die mit der Duldung und Anerkennung der alten Kirche durch den Kaiser Konstantin begonnen hat, und die erst in der antichristlichen Zeit zum Abschluss kommt, als sehr ernst beurteilt wird. Die Gemeinde Jesu war zur Kirche geworden, ja zur Reichskirche. Die Wegnahme der Last der Verfolgung, die Eröffnung der freien Bahn in der Völkerwelt für die Gemeinde, war vom Herrn geschehen, der sich auch seither von der Kirche nicht zurückgezogen hat; aber der böse Feind, der schon seither nicht abseits gestanden, griff nun ebenfalls mächtig ein und wirkte richtungsbestimmend. Im Sieb des Satans war die Gemeinde, und die werdende Kirche nicht nur in den Verfolgungszeiten gewesen; jetzt war sie noch mehr im Sieb. Der Unterschied war nur der, dass sie es damals merkte an der Gewalt, die der böse Feind übte; jetzt da er listig kam und deshalb sanft tat, schwand das Gefühl der Anfechtung, und die Wachsamkeit ließ nach.

Rom als politisches und kirchliches Gebilde

Die Reichskirche wurde der Halt des Reichs. Als Konstantin die Hilfe der Kirche begehrte für das Reich, war zwar die Gefahr noch nicht sichtbar, die dem Reich drohte, aber die schweren Tage für das Reich kamen bald. Die nach dem Sturz des ältesten Babel, nach Gottes Willen in Bewegung geratene Völkerwelt, war noch nicht überall zur Ruhe gekommen. In Vorderasien und rings um das Mittelländische Meer war Ruhe; dort hatten die Weltreiche, vor allem Rom Ordnung geschaffen. Die den Japhetiten angehörenden germanischen und slawischen Stämme dagegen hatten noch keine festen Wohnsitze; die ersteren pochten an die nördlichen Grenzen des römischen Reiches. Vielleicht wäre ihre Abwehr nicht so schwer gewesen, vielleicht hätten sie sich still im nördlichen und östlichen Teil Europas festgesetzt - da brach aus Innerasien der Mongolensturm los, also von hamitischer Seite, und schob die germanischen Völker mit Gewalt gegen das römische Reich, und die slawischen Völker rückten nach. Diese bangen Tage standen dem römischen Reich bevor. Als das Reich politisch, bald da bald dort, dem Ansturm nicht mehr standzuhalten vermochte, trat für das römische Reich die Gefahr des Endes heran. Wie oft war schon ein Reich durch das andere gestürzt worden!

Es hätte mit Rom auch so gehen können, zumal der Ansturm furchtbar war, und sich durch annähernd zwei Jahrhunderte hinzog. Trotzdem fiel das römische Reich nicht. Das weströmische Kaisertum erlag zwar; der Westen war am gefährdetsten. Aber das Reichsgefüge blieb. Was das Reich rettete, das war die Reichskirche. Ihre feste Organisation und der Halt, den sie bot innerhalb einer zusammenbrechenden Welt, erhielt das Reich. Schon damals hatte im Westen der Bischof von Rom die Führung; man kann in den Zeiten der gefahrvollen Bedrohung des westlichen Reichsteils bereits von Päpsten sprechen, wenn sie auch noch nicht die spätere Geltung besaßen und beanspruchten. Gewiss bekam auch die Reichskirche schwere Wunden. Aber die Germanen erhielten von der Kirche tiefe Eindrücke, und traten später in die Kirche über. Die Kirche war das Band zwischen den Besiegten und den Siegern. Um des Eindrucks willen, den die Reichskirche auf sie machte, bekam das alte Reich in ihren Gedanken und Erinnerungen einen Ehrfurcht erweckenden Glanz.

Die germanischen Völker wurden reif für den Gedanken, für die Idee der Fortsetzung des alten Reichs. In ihrem Gefühl trat an die Stelle des Kaisers der Papst. Rom war geblieben: einst die Residenz des Kaisers, nun der Thron des Petrus; denn der Papst galt als Nachfolger des Petrus, als der erste in der Christenheit. Als der römische Papst am Weihnachtsfest 800 in Rom dem fränkischen König Karl die römische Kaiserkrone aufsetzte, und damit (in seinem eigenen Interesse) die römische Kaiserwürde erneuerte, da war wieder ein Sinnbild für die alte Reichsherrlichkeit vorhanden. Durch das Mittelalter hindurch wurde die germanische Welt vom Nachglanz des alten Roms geblendet. Aber der eigentliche Herrscher war nicht der, welcher den Kaisertitel führte, und ihn immer wieder in Rom holen musste, sondern der Papst in Rom. Er blieb nach dem furchtbaren, durch einige Jahrhunderte hindurch gehenden Ringen zwischen dem Kaisertum und Papsttum um die Macht, als Sieger auf dem Platz. Im Papst hatte in Rom gesiegt über die Germanen, die das Reich seinerzeit fast aus den Angeln gehoben hatten, ja über die ganze abendländische Welt. Das römische Reich hat im Papsttum den Sturz des weströmischen Kaisertums überdauert. Hatte Jesus seine Gemeinde auf diese Bahn gewiesen? "Die weltlichen Könige herrschen, und die Gewaltigen heißt man gnädige Herrn. Ihr aber nicht also!" (Lk 22:25.26).

Kaiser Konstantin und seine Stadt

Der gleiche Kaiser, der der tatsächliche Begründer der Reichskirche war, Konstantin, nahm seinen Wohnsitz an einer Stelle, wo Abendland und Morgenland zusammentrafen, in Byzanz am Bosporus. Byzanz wurde Konstantins Stadt, „Konstantinopel". Welche Bedeutung hat diese Stadt in der Weltgeschichte erlangt! Sie ist fast zu einem Gegenstück Roms geworden. Doch soll an dieser Stelle die Geschichte Konstantinopels nicht erörtert werden. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, wie auch in diesem Stück Konstantin nur als der menschliche Arm überirdischer Gewalten gehandelt hat. In Konstantinopel bekam nämlich die östliche Hälfte des römischen Reichs ihren Mittelpunkt, so wie Rom sich neben seiner Stellung als Hauptstadt des Gesamtreichs, immer mehr zum Mittelpunkt des Westens des Reichs entwickelt hatte. Auf diese Weise trat nun die Zweiteilung des römischen Reichs in Erscheinung, welche schon Nebukadnezar in seinem Traumbild gesehen hatte in dem, durch die zwei Schenkel des Standbilds, angedeuteten 4. Reich (Dan 2:33). Diese Zweiteilung des römischen Reiches war zwar seit dem Anfang seines Bestehens als Weltmacht vorhanden, denn neben dem Westen mit Italien, Frankreich, Spanien und dem westlichen Nordafrika, stand als Größe für sich das Gebiet des früheren griechischen Reichs. Athen und Korinth waren die Quellorte griechischen Wesens; aber es hatte im ägyptischen Alexandrien und im syrischen Antiochien auch zwei mächtige Einfallspforten in die morgenländische Welt.

Politisch war der ganze griechische Osten völlig an Rom gebunden; aber geistig war er eine Welt für sich von Ehrfurcht gebietender Größe. Geistig setzte sich römische Art sogar im Westen nur langsam durch. So hatte das römische Reich trotz seiner Einheit von Anfang an zwei Teile. Aber nun trat diese Zweiteilung auch äußerlich in Erscheinung durch Konstantin. Konstantinopel wurde politisch, aber immer mehr auch geistig, der Mittelpunkt des griechischen Ostens. Neben ihm verblassten Athen, Antiochien und Alexandrien. Es ist nun merkwürdig, wahrzunehmen, wie gerade diese, im göttlichen Wort bereit vorgesehene Zweiteilung, das römische Reich hinüber geleitet hat in das Mittelalter bis in die Neuzeit. Rom blieb der Mittelpunkt des Westens, zwar nicht als Sitz des Kaisertums, aber als der des Papsttums, und damit als der Mittelpunkt der zur Kirche gewordenen abendländischen Welt; Konstantinopel rettete Ostrom auch politisch aus dem Altertum hinüber bis an die Schwelle der Neuzeit. Bereits Konstantin begründete nach einem Vorgang Diokletians die Doppelgestalt des Kaisertums, sodass die westliche Hälfte des Reiches einen Kaiser hatte, aber ebenso auch die östliche. Das östliche Kaisertum, und damit die östliche Hälfte des römischen Reiches, blieb auch politisch erhalten, bis 1453 dem Islam die Bezwingung Konstantinopels gelang.

In der östlichen Reichshälfte bildete sich die Kirche nach Art und Verfassung anders aus, als im Westen. Sie füllte sich mit griechischem Geist nach seiner, für das Evangelium aufgeschlossenen, wie nach der für das Evangelium gefährlichen Seite. Was der Kirche im Westen gefährlich wurde, das war unter anderem der Einfluss, den der Machtgedanke erlangt, und der im Papsttum mit seiner, die Kirche und die Völker beherrschenden Gewalt, seine Ausprägung fand. Der östlichen Kirche wurde die Regsamkeit des griechischen Geistes gefährlich, welche die glaubensmäßigen Verbundenheit mit der oberen Welt, manchmal fast durch die gedankenmäßige Erkenntnis dieser Beziehungen, ersetzen zu können meinte. Trotzdem hatte die griechische Kirche einen großen Hunger nach Leben aus Gott. In der römischen Kirche blieb von Augustin her, neben der sich tief ins Irdische senkenden Richtung der Kirche, noch das Verständnis für den Ernst der Sünde, und für die Unentbehrlichkeit der Gnade erhalten. Daneben zeigten sich die Zerfallserscheinungen der Gemeinde Jesu in beiden Kirchengebieten an verschiedenen Punkten. Merkwürdig ist in West- und Ostrom die enge Verbindung, welche die Kirche mit dem Reich, und das Reich mit der Kirche einging. Diese Verbindung hat für die rein geschichtliche Betrachtung manches Ansprechende; aber vom Standpunkt des Reiches Gottes aus gesehen war sie von Übel.

Fortsetzung Roms bis zur Gegenwart

Am 4. Reich sah Nebukadnezar in seinem Traumbild nicht nur die eisernen Schenkel, sondern auch die halb eisernen, halt tönernen Füße und Zehen (Dan 2:33). Daniel musste dem König des wieder erwachenden Weltreichs sagen, dass der gewaltigste Vertreter der Weltmacht, das 4. Reich, im Verlauf seiner Geschichte an Gehalt einbüßen werde. Der Zusammenhalt der Teile werde nachlassen; die Versuche, den Zusammenhalt durch Bindemittel zu festigen, werden misslingen; aber dem Reich werde bis zu seinem Zusammenbruch etwas von der Festigkeit des Eisens bleiben. Der Geschichtsverlauf ist dem Traumbild des babylonischen Königs gefolgt. Nach dem Zusammenbruch des griechischen Reichs, das in sich politisch so weich gewesen war wie das Kupfer unter den Metallen, trat das eigentliche Weltreich, nämlich Rom auf die Füße, und zwar als eisernes. Mit zwei gestrafften eisenharten Schenkeln stand es da, vom Beginn der Kaiserzeit an. Eisenhart war der westliche Schenkel schon vorher gewesen; aber unter Roms Regiment kam politische Straffheit auch in den politisch bis dahin so weichen Osten; auch der Osten wurde politisch und militärisch eisenhart. Die Härte des Eisens war auch noch vorhanden, als die beiden Schenkel sichtbar wurden, anlässlich der Teilung des römischen Reichs in eine westliche und östliche Hälfte unter Konstantin, mit Rom und Konstantinopel als Mittelpunkten. Die Schenkel verjüngen sich abwärts zu den Füßen. Deren Bestandteile waren Eisen und Ton, damit auf das Nachlassen des Zusammenhalts hindeutend. Das hat sich in der Geschichte Westroms verwirklicht, in der Einbeziehung der Germanen in das römische Reich; in der Geschichte Ostroms in der kirchlichen Angliederung der slawischen Welt Russlands.

Was Rom im Mittelalter für den Westen Europas für die abendländische Welt war, das wurde Konstantinopel für das östliche Europa. Zwar verloren beide einen Teil ihres Gebiets an die Welt des Islam: Westrom verlor Spanien; Ostrom Syrien und Ägypten, und schließlich Kleinasien. Dafür schoben sie sich beide nach Norden vor: Westrom nach Frankreich und Deutschland; Ostrom nach Russland. Zeugen davon sind im Westen die romanischen Völker mit der Entlehnung ihrer Sprache aus dem Lateinischen, der Sprache Roms, die sogar auch ein Bestandteil der englischen Sprache ist; Zeuge im Osten ist die russische Kirche, die nicht bloß ihre Entstehung, sondern auch ihre Art über Konstantinopel von der griechischen Kirche erhalten hat, und die heute noch die griechische bleibt, wie die Kirche der romanischen Völker die römische geblieben ist.

Damit ist der Blick bereits der Gegenwart zugewandt. Reichen vom römischen Reich der alten Zeit noch Beziehungen herüber zur Gegenwart? Die in der römischen und griechischen Kirche vorhandene Beziehung wurde bereits genannt. Es kann zwar nicht erwartet werden, dass die Beziehungen in der Neuzeit so deutlich seien wie im Altertum, und zum Teil noch im Mittelalter. Denn das Auseinandergehen der Füße deutet auf ein Auseinandergehen der beiden Reichshälften in eine Anzahl politischer Sonderbildungen hin. Tatsache ist, dass die Geschichte der beiden Hälften mit ihren, nach Norden vorgeschobenen Fühlern, die noch im Mittelalter verhältnismäßig einheitlich war, in der Neuzeit in die Geschichte von einer Reihe von Staatsbildungen sich aufgelöst hat. Aber römische Züge sind auch in der europäischen Staatsgeschichte der Neuzeit zu erkennen, und zwar gerade in Beziehung auf Westrom und Ostrom.

Russland als politische Fortsetzung Ostroms

Besonders deutlich ist das im Osten. Das alte Russland war Erbe des oströmischen Reichs und fühlte sich als solchen. Das Zarentum ist die Fortsetzung des oströmischen Kaisertums. Als seine eigentliche Hauptstadt hat Russland nicht Petersburg betrachtet - das war nur seine Ausfallspforte nach dem Westen; nicht einmal das heilige Moskau; sondern Konstantinopel. Um Konstantinopel geht der Kampf seit dem Sieg des Islam über das oströmische Reich. Konstantinopel war der Angelpunkt der Geschichte Osteuropas im 19. Jahrhundert. Das Verlangen nach Konstantinopel war ein Hauptgrund für die Teilnahme Russlands am Weltkrieg als Gegner Deutschlands. Gewiss wurde Konstantinopel von Russland auch aus wirtschaftlichen Gründen begehrt; gewiss sollte sein Besitz Russlands politische Stellung im Südosten Europas stärken, und eine politische Machtstellung im östlichen Teil des Mittelländischen Meeres begründen. Aber der sehnsüchtige Blick nach Konstantinopel hängt in erster Linie mit der Geschichte zusammen. Russland fühlte sich bis tief ins Volksbewusstsein hinein um seiner Kirche willen, als Nachfolgerin des römischen Ostens, und empfand deshalb Konstantinopel als heilige Stadt, von der Moskau eine Art Abbildung war. Der Gegensatz zur Türkei war nicht bloß politischer Art, sondern entsprach den Gefühlen, welche das mittelalterliche Abendland zu den Kreuzzügen veranlasste, um Jerusalem, die heilige Stadt der Christenheit, aus den Händen des Islam zu befreien. So legte sich für Russland, auf den Kampf um Konstantinopel, ein religiöser Glanz.

So war der Besitz Konstantinopels für Russland ein Kriegsziel, und der Eindruck, dass Deutschland der Erfüllung dieses Wunsches im Wege stehe, ein Kriegsgrund gegen Deutschland. Ein Zusammentreffen eigener Art sei in diesem Zusammenhang erwähnt. Im Staatsanzeiger für Württemberg findet sich in der gleichen Nummer, die die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Serajewo brachte, in deren Folge bald darauf der Weltkrieg entbrannte, auch der Abdruck von Ausführungen eines geistigen Führers Russlands, des Inhalts: Russland bedürfe Konstantinopels, Deutschland stelle sich mit seiner Politik diesem Lebensbedürfnis Russlands in den Weg. Wenn Deutschland dabei beharre, dann gehe Russlands Weg nach Konstantinopel über Berlin. Das ist eine Begründung des Krieges, die ihre Wurzeln in der Geschichte des römischen Reiches hat. Diese Geschichte ist eben mit dem Altertum nicht zu Ende gegangen, sondern hat mitgewirkt zur grausigen Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.

Frankreich als politische Fortsetzung Westroms

Sind in der neuzeitlichen Geschichte des westlichen Europas auch Beziehungen zum römischen Reich, genauer gesagt: zu Westrom wahrnehmbar? Um darüber Klarheit zu schaffen, ist ein weiteres Zurückgreifen auf die Geschichte erforderlich. Das alte Westrom hatte im Mittelalter eine politische Fortsetzung im römischen Reich deutscher Nation erhalten. Der politische Retter Westroms, und sein eigentlicher Fortsetzer ist aber nicht das heutige Deutschland, sondern das alte Frankreich, dessen Schwerpunkt im heutigen Frankreich lag. Auf dem Boden Frankreichs fielen die großen politischen Entscheidungen, die das weströmische Reich hinüberretteten in seine nachmalige romanische Form. Dort wurde um 450 den Hunnen Halt geboten, und 732 den von Spanien her eindringenden Arabern, die zu gern über Deutschland hinüber ihren, von Osten her gegen Konstantinopel vordringenden Brüdern, die Hand gereicht hätten, um das ganze alte Reich in die Zange zu nehmen. Das Frankenreich war schon unter den Merowingern wichtig geworden, als das erste Glied der germanischen Völker, das sich der römischen Christenheit anschloss. In anderem Zusammenhang ist schon davon die Rede gewesen, wie die lateinische Sprache auf andere Völker überging. In besonderem Maße war das der Fall in Frankreich, schon in seiner keltischen Zeit. Als Frankreich durch die Franken seinen starken germanischen Einschlag bekam, gingen die römische Sprache, und das römische Wesen auch auf diese über.

Die Kaiserkrone wendete der Papst dem Frankenreich zu, dessen politische Hilfe dem Papsttum vorher zustatten gekommen war. Das Reich Karls des Großen hatte ja seinen Schwerpunkt, wenn auch nicht im jetzigen Frankreich, so doch links vom Rhein. Erst später löste sich Deutschland aus dem großfränkischen Reich heraus, und erst auf diese Weise wurde es zum Träger des mittelalterlichen Kaisergedankens in der abendländischen Welt. Trotzdem war Frankreich in tieferem Sinn Nachfolger und Vertreter des alten Rom. Was Deutschland und seine Herrscher berauschte, und sie zum Opfer von Kraft, Blut und Einheit veranlasste, das war der ReichsGEDANKE, die KaiserIDEE, was dagegen von Rom auf Frankreich überging, das war römisches WESEN. Auch das Papsttum hat die anspruchsvolle Art, die seine mittelalterliche Höhe begründete, aus Frankreich bezogen. Denn die Gedanken, welche die Kirche, und damit das Papsttum zum Alleinherrscher über den ganzen Bereich des Lebens, auch auf dem bürgerlichen und politischen Gebiet machen wollten, und die von Gregor VII. aufgegriffen, und dem Kaiser Heinrich IV. gegenüber durchgesetzt wurden, stammen von den im Innern Frankreichs heimlich gewordenen Kluniazensern.

Der Ernst der weltverleugnenden Frömmigkeit soll weder bei diesem Mönchsorden noch bei Papst Gregor bestritten werden. Aber der Sauerteig, der dieser Frömmigkeit beigemischt war, und der sie, und das Papsttum und die ganze abendländische Welt durchsäuerte, war römischer Art. Da kam die alte römische Größe, das alte römische Machtstreben noch einmal zur Geltung und wandelte die Weltflucht in Weltsucht um, ohne dass die Welt sich über diese grundlegende Veränderung Rechenschaft gab. Der Herd, der eigentlich römischen Art des Mittelalters, war also Frankreich! Wie vorher den Kaisergedanken und die Reichsidee, so griff das deutsche Wesen auch diese Ausprägung des alten römischen Geistes im Gewand der Frömmigkeit gutgläubig auf, und wurde und blieb seine Stütze, auch als Frankreich längst sich den, einst von seinem Boden ausgegangenen, kirchlichen Machtbestrebungen entzogen hatte.

Frankreich ist als Nation viel rascher erstarkt als das, unter dem Einfuss des Kaisergedankens der Zerklüftung, verfallene Deutschland; und bald nach den Erschütterungen der Kriege mit England regte sich sein Machtstreben auf dem Festland über seine Grenzen hinaus: das römische Geisteserbe wirkte sich aus. Frankreich hat auch einen Frühling neuen Lebens bekommen; von Genf aus zog das Evangelium mit Macht in das Land. Was hätte Großes geschehen können, wenn das Evangelium die Seele dieses regen Volkes hätte erfassen können! Aber das Königshaus hat das Evangelium unterdrückt. Ein Zeuge davon ist die Bartholomäusnacht des Jahre 1572. Nun musste Frankreich eine traurige Rolle spielen; zuerst sein Herrscherhaus, dann aber auch sein Volk. Es sei erinnert an Ludwig XIV. und an die französische Revolution. Frankreich wurde der Herd der politischen und geistigen Erschütterungen Europas. In seine eigentliche politische Rolle wuchs es hinein unter Napoleon I.. Nun wachte der Kaisertitel wieder auf, mit ungleich größerer Kraft als zur Zeit des mittelalterlichen Reichs, mit seinem schwachen Nachglanz im österreichischen Kaisertum, das unter Napoleon zusammenbrach. Der neue Kaisertitel hat Frankreich bezaubert; und mit dem Kaisertitel stand der Reichsgedanke auf in neuer Gestalt.

Westroms griff nach Ostrom

Napoleon ist die Wiedererstehung der römischen Cäsaren. Dieses Wiederauftauchen des alten Rom, unter Führung Frankreichs, hat nicht bloß zeigeschichtliche Bedeutung gehabt, denn Frankreich hat nicht bloß damals die europäische Geschichte bestimmt, als der Schritt von Napoleons Legionen durch Europa hallte und so vieles zusammentrat. Vielmehr hat die napoleanische Zeit, trotz ihrer verhältnismäßig kurzen Dauer, die ganze bisherige Geschichte Europas beeinflusst. Die Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Entstehung des neuen Deutschen Reichs, letztlich auch der Weltkrieg, sind nur auf diesem Hintergrund zu verstehen.

Zu diesem Zweck ist aber eine weitere Erwägung nötig, Napoleon, der Erbe der französischen Revolution - wie nahe beinander sind Revolution und Gewaltherrschaft, Volksherrschaft und Imperialismus! - hat sich auch in dem Stück als Nachfolger der alten römischen Kaiser erwiesen, dass er nach dem ganzen Umfang des alten römischen Reichs griff. Er griff nach Italien, dem Mutterland des römischen Reiches, er griff nach Ägypten, dem Schlüssel des Südostens des alten Reichs. Er griff nach Russland. Fassen wir Russland, als den Nachfolger und Vertreter Ostroms, und das Frankreich Napoleons als Vertreter Westroms, so lässt sich der weltgeschichtliche Vorgang des Zugs Napoleons nach Russland, der sein Werk auf dem Festland hätte krönen sollen, auf den Satz bringen: Westrom griff nach Ostrom! Es war der Versuch, die beiden früheren Reichshälften wieder zusammenzuschließen. Napoleon III. hat in anderer Form den gleichen Versuch gemacht (Krimkrieg). Der Versuch wurde zum dritten Mal gemacht, als das neue Deutsche Reich auf den Trümmern des 2. französischen Kaiserreichs erstanden war; diesmal nicht mit dem Schwert, sondern auf dem Weg der Politik. Und nun gelang er.

Ostrom (Russland) ließ sich auf friedlichem Weg dann an Westrom (Frankreich) ketten; und gemeinsam ging dann im Kampf gegen Deutschland, den Fremdkörper im römischen Reich, um ihn als Machtfaktor auszuschalten, d.h. um seine Bedeutung und seinen Einfluss in der europäischen Politik zu beseitigen. Das Ziel ist erreicht worden nach furchtbarem Kampf. Das alte Russland wurde freilich dabei ebenfalls ausgeschaltet; und Frankreich ist nun die politische Vormacht im festländischen Europa. Das römische Reich unter Frankreichs Führung ist wieder erstanden, trotz des Auseinandergehens der Füße in Zehen. Und des Eisens Art ist geblieben trotz der Beimischung von Ton.

Es war kein politisches Interesse, was diese Ausführungen veranlasst hat. Das Interesse haftet vielmehr bei diesem Überblick über die europäische Geschichte von zwei Jahrtausenden, die übrigens noch nicht vollständig ist, am göttlichen Wort, das in Erfüllung gegangen ist. Daniel hat recht gesehen, wenn er dem 4. Tier eine besondere Art zuschrieb, und wenn er dessen Dauer reichend sah bis zum Anbruch des Reiches Gottes. Und der das römische Reich darstellende Teil von Nebukadnezars Traumbild, in welchem Schenkel, Füße und Zehen unterschieden, und trotz der Besonderheit und trotz der Beimischung eines nicht haltbaren Bestandteils die Einheit betont war, hat eine merkwürdige geschichtliche Verwirklichung gefunden. Die eisernen Schenkel fallen noch in die Zeit der Geschichte, die man herkömmlicherweise das Altertum nennt; die Füße mit ihrer Tonbeimischung in der Hauptsache ins Mittelalter, und die Zehen sind nur die letzten Ausläufer der Gestalt. Das alte römische Reich hat sich zur europäischen Staatenfamilie erweitert. Sie ist der Ausgangspunkt der neuzeitlichen europäischen Reiche und, der ihre Beziehungen zueinander bestimmende Hintergrund, der römische Reichsgedanke. Was festgehalten werden muss, das ist die Dreiteilung der römischen Reichsgeschichte in 3 aufeinander folgende Abschnitte.

Die geistliche Fortsetzung Roms

Die Wahrnehmung der politischen Fortdauer des römischen Reichs bedarf nun einer wichtigen Ergänzung: Rom hat auch eine kirchliche Seite, und diese Seite wirkt ebenfalls bis zur Gegenwart weiter. Von der Reichskirche zur Zeit der alten Reichsform war bereits die Rede. Die Reichskirche wurde das religiöse Gegenbild des Kaiserreichs. Das Kaiserreichs umfasste die Bevölkerung politisch und bürgerlich, die Reichskirche religiös im Rahmen des Christentums. Das weströmische Kaisertum bekam ein, ihm entsprechendes kirchliches Nachbild im Amt des Bischofs von Rom, dessen Wort in zunehmendem Maß im ganzen Westen gehört wurde, und dessen Geltung im Papsttum seinen Niederschlag fand. Eine dem Papsttum entsprechende Spitze erhielt die griechische Kirche nicht; doch lief die Geltung des Bischofs (des Patriarchen) von Konstantinopel innerhalb der östlichen Reichskirche, neben der Geltung des Papsttums innerhalb der westlichen Kirche her. Im Westen wurde die Reichskirche geradezu die Erbin des Reichs; im Osten blieb die griechische Kirche wenigstens Stütze des alternden Reichs.

Von der Fortsetzung des alten westlichen Reichs, durch das trotz beginnender nationaler Sonderung noch merkwürdig einheitliche Gefüge der abendländischen Welt des Mittelalters, war bereits die Rede. Was sie zusammenhielt und ihr das eigenartige einheitliche Gepräge gab, das angesichts der heutigen Zerrissenheit die einem mit Verwunderung, die anderen mit sehnsüchtiger Bewunderung erfüllt, das war die Kirche mit dem Papsttum an der Spitze. Sie schuf die mittelalterliche Kultur, die in allen ihren Formen kirchlich war. Auch das Kaisertum gedieh, trotz aller Kämpfe mit dem Papsttum, nur im Schatten der Kirche. Die Kirche des Abendlandes war römisch. Katholisch oder römisch war gleichbedeutend.

Die kirchliche Entwicklung der Osthälfte des Reichs ging nicht in den gleichen Bahnen. Das Kaisertum in Konstatinopel behauptete sich neben der griechischen Kirche, ja zwang dem Patriarchat von Konstantinopel manchmal seinen Willen auf. Aber auch da war die Kirche das Abbild des Reichs ,und gab dem Reich seinen Gehalt und seinen Halt. Politisch kam die Verbindung mit Russland nicht zustande. Aber die Kirche war das Band mit Russland; der Einfluss, den der oströmische Kaiser nicht ausüben könnte, fiel dem Patriarchen von Konstantinopel zu. Auf dem Weg über die Kirche entstand das enge Band zwischen Ostrom und Russland, das die politische Geschichte der neuesten Zeit wesentlich bestimmt hat, wie weiter oben ausgeführt wurde. Dieses Band ist unter anderen Formen, in den letzten Jahren neu geknüpft worden, durch die Interessengemeinschaft zwischen Bolschewismus und Islam, über dessen tiefere Zusammenhänge an anderer Stelle zu sprechen ist.

In der Neuzeit scheint das frühere Gebiet Ostroms aus der Geschichte ausgeschaltet zu sein, weil es dem Ansturm, der mohammedanischen Türken erlag. Aber es hat unter dem türkischen Druck weitergelebt, und hat in den letzten 100 Jahren ein Wiedererwachen erlebt. Konstantinopel blieb freilich verloren. Die Balkansaaten sind die Erben Ostroms. Sie sind durch das kirchliche und politische Gefühl bis zum Beginn des Weltkriegs mit Russland verbunden gewesen. In welchem Maß dies bei Serbien der Fall war, hat der Ausbruch des Weltkriegs gezeigt. Kirchlich ist der Osten Europas einig; seine Kirche ist die griechische Kirche Ostroms.

Verschiedene Erschütterungen

Gibt es eine Fortsetzung der römischen Kirche des Mittelalters im europäischen Westen? Ja. Drei Erschütterungen hat sie überdauert. Einmal die, welche sie traf, als die abendländische Welt mit ihrer einheitlichen, kirchlich bestimmten Kultur sich in die Völker und Staaten West- und Mitteleuropas auflöste. Die Erschütterung war um so größer, weil diese Absonderung zeitlich zusammenfiel mit dem Zusammenbrung ihrer moralischen Geltung, nach der Überspannung ihres Herrschaftsanspruchs am Anfang des 14. Jahrhunderts, und weil dem Nachlassen der Geltung auch ein sittlicher Niedergang des Papsttums folgte. Nicht bloß die römische Kirche, sondern auch ihre Zusammenfassung im Papsttum, hat diese Erschütterung überstanden. Es beansprucht heute unter den europäischen Völkern und Staaten moralische Geltung und erhält sie über die Grenzen der römisch-katholischen Kirche hinüber. Seine Absicht ist auf Weltgeltung ausgerichtet.

Die zweite Erschütterung ging von der Reformation aus, von der Wittenberger und Genfer. Die römische Kirche hat ihr mit Erfolg staatliche Mächte entgegengesetzt. Frankreich, und noch mehr Spanien wurden auf diese Weise von reformatorischen Einflüssen fast gesäubert; Deutschland kam so an den Rand des Zusammenbruchs im 30-jährigen Krieg. Aber auch geistig trat die römische Kirche gegen die Reformationskirchen auf den Plan: sie legte sich gegen dieselben eine geschlossene Rüstung von Glaubenssätzen an, und machte auch ihre Verfassung einschließlich des Papsttums, mit seinem Anspruch auf Weltherrschaft zum verbindlichen Glaubenssatz. Das letztere geschah im Jahre 1870 mit der Festlegung des Satzes von der Unfehlbarkeit des Papsttums, wenn es als Mund der katholischen Kirche spreche. Mit diesem Satz ist dem römischen Reich in Form der römischen Kirche göttliche Ehre zugesprochen. Außerdem trat der römischen Kirche im Jesuitenorden ein hilfsbereiter Streiter zur Seite. So hat sich die römische Kirche gegen die, aus der Reformation erwachsenen, Kirchen gewappnet.

Die dritte Erschütterung hätte kommen können aus der Umgestaltung der ganzen modernen Welt. Sie begann im Schoß des Abendlandes. Auf amerikanischem Boden hat sie später ein rasches Tempo angenommen, aber ausgegangen ist sie vom westlichen Europa. Der Vorläufer der Umgestaltung war die nationale Absonderung. Dieser folgte das Aufwachen eines neuen Lebensgefühls neben dem völkischen. Trotz allen religiösen Sehnens, Suchens, Tastens verlor die kirchliche Bindung an Stärke. Das alte Heidentum wurde aufgefrischt in schöner gefälliger Form. Es erfolgte ein Wiederaufleben des vorchristlichen griechischen und römischen Geistes, Renaissance genannt. Der Humanismus in Deutschland zur Zeit der Reformation ist eine feine, kirchlich gemäßigte Form der Renaissance, welche letzte in Italien mancherorts, bis in den Vatikan hinein, mit der Pflege des Fleisches verbunden war. Aber der Humanismus hatte mit der Renaissance die Schätzung des Menschen gemeinsam. Der griechische Geist in seiner vorchristlichen Gestalt, der den Menschen hochhob, auch den, welchen die Schrift fleischlich nennt, lebte wieder auf.

Um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert wurde die Renaissance erst in den oberen Schichten vertreten; aber in abgewandelter Gestalt drang sie durch alle Schichten der Bevölkerung, und erfasste im Rationalismus, und in der Aufklärung das ganze Abendland. Der Mensch, oft in gut kirchlicher Hülle, wurde wieder zum Maß aller Dinge. Das Überirdische, auch die Offenbarung Gottes, durfte nur insoweit Ansprüche erheben, als die menschliche Vernunft sie anerkannte. Der Mensch sei im Grunde gut. Wenn er nur vernunftmäßig lebe, und die Welt nach den Grundsätzen der Vernunft einrichte, dann gehe die Entwicklung mit Naturnotwendigkeit aufwärts. Solcher Art war die Stimmung, als die rationalistische Welle über das Abendland ging. Die bitteren Früchte der französischen Revolution und der Ernst der napoleonischen Zeit wirkten ernüchternd. Aber die rationalistische Welle, verstärkt durch Naturerkenntnis und Naturbeherrschung, ist im vorigen Jahrhundert zurückgekehrt und hat das alte, an die Kirche und an Gott gebundene Denken, bis auf den Grund erschüttert.

Wirtschaftliche Umwälzungen

Zu diesen Änderungen des Denkens, des Lebensgefühls und der Stimmungen kamen die gewaltigen wirtschaftlichen Änderungen und Umschichtungen. Von tief eingreifender Wirkung war bereits das Aufkommen des Handwerks und des Handels in der erwachenden städtischen Kultur der abendländischen Welt gewesen. Aber erst die Maschine brachte den wirtschaftlichen Umschwung mit seinem Gewinn, und mit seiner Not. Und diese Entwicklung nahm ein noch rascheres Tempo, als es gelang, mit Hilfe der Maschine die Naturkräfte in den Dienst der menschlichen Gesellschaft zu stellen, so den Dampf und die Elektrizität. Diese Entwicklung hat sich in der Gegenwart im Eiltempo vollzogen. Sie hat die soziale Frage zum Brennpunkt gemacht. Die soziale Frage erschöpft sich nicht in Lohn- und Standesfragen. Was sie am ernstesten macht, das ist die Entwurzelung, welche die Maschine im Gefolge hatte. Sie entwurzelt diejenigen, die sich mit ihr dauernd befassen müssen, aus der Fühlung mit dem Boden, mit dem Volkszusammenhang, mit der Familie, aus dem seelischen Gleichgewicht. Die Maschine droht das Handwerk zu vernichten, und überwuchert sogar das bäuerliche Leben. Die Maschine hat die gesamte Einstellung des menschlichen Lebens und Arbeitens auf das Geld beschleunigt, und bedroht einen seelischen Wert nach dem anderen.

Der ernste Blick in die Nöte des wirtschaftlichen und sozialen Lebens soll zwar die Errungenschaften nicht verdunkeln, welche die Maschine gebracht hat. Wir denken namentlich an die vielen dadurch geschaffenen Verkehrsmöglichkeiten und geistigen Bereicherungen. Auf diese Weise sind die Völker einander in ungeahnter Weise nähergerückt worden. Sie hat mitgeholfen, dass die Geschichte zur Weltgeschichte geworden ist. Sie ist ein wesentliches Stück zur Erfüllung des göttlichen Auftrags an die Menschheit: Macht euch die Erde untertan! (1Mo 1:28). Aber alles stolze Gefühl über die neuzeitlichen Errungenschaften können nicht über die Erkenntnis hinwegtäuschen, dass diese ganze Entwicklung die Menschheit nicht nur reicher, sondern gleichzeitig viel ärmer gemacht hat. Nur eine göttlich geordnete Welt, nicht die durch die Sünde entstellte, entartete und schwach gewordene Menschheit, kann die Fortschritte der Kultur ohne Schaden an der Seele ertragen.

Die angeführten Umwälzungen, welche die neuzeitliche Welt umgestaltet haben, dürfen nun nicht in ihrer Vereinzelung ins Auge gefasst, sondern müssen zusammengeschaut werden: die nationale Absonderung, des neuen, nicht mehr vom Christentum, sondern viel mehr vom Heidentum getragene Lebensgefühl, die durch die neue Naturerkenntnis, und durch dieselbe verwertende Maschine umgestalteten Lebensverhältnisse, die wirtschaftlichen und sozialen Umschichtungen, beherrschen die moderne Welt. Der Herd der gewaltigen Umwälzung ist das Abendland; die Stätte, wo sie sich hauptsächlich auswirkt, ist die Union in Nordamerika; aber ihr Ausbreitungsgebiet erfasst in stufenmäßiger Folge die ganze Erde und die ganze Menschheit.

Die römische Kirche heute

Die Ausführungen über den Gang der modernen Kultur sind über den Rahmen der vorliegenden Erörterungen hinausgetreten und müssen nun zu ihm zurückkehren. Die Frage war, ob die römische Kirche, die aus der alten Reichskirche sich entwickelt, und welche im Mittelalter die ganze abendländische Welt zusammengehalten hat, auch unter den ganz anders gearteten Verhältnissen der modernen Welt, sich behaupten und durchsetzen konnte und kann. Gegenüber der nationalen Besonderheit und gegenüber der Reformation ist die Frage schon oft bejaht worden. Hat sich aber die römische Kirche auch der neuen Zeit mit ihren unheimlichen Umwälzungen auf allen Lebensgebieten gewachsen gezeigt? Auch diese Frage wird bejaht werden müssen. Die römische Kirche vereinigt in ihrer Haltung gegenüber der modernen Welt zwei Gegensätze: Unnachgiebigkeit und Anpassungsfähigkeit. Übte sie nur die erstere Haltung, dann würde die heutige bewegliche Welt ihrer Starrheit entlaufen; wäre sie weich, dann würde sie der Geringschätzung anheim fallen. Die römische Kirche versteht beiden Gefahren zu entgehen. Und gerade auf diese Weise übt sie in der modernen Welt einen großen Einfluss aus. Denn der von der Kultur übersättigte, und von der Zivilisation angekränkelte und angefressene Teil der Menschheit ist innerlich schwach geworden. Hinter seinem hochgetragenen, selbstbewussten und aufgeregten Wesen steht eine große seelische Leere und Haltlosigkeit. Er sehnt sich nach etwas Festem, nach einem Halt. Diesem Bedürfnis kommt die römische Kirche entgegen. Sie bietet sich als unbeweglicher Fels an, als Autorität, die nicht wankt, die ihre Zuverlässigkeit in einer 2000-jährigen Geschichte bewiesen hat. Dabei stellt sie an den modernen Menschen keine, in die Tiefe des Gewissens gehenden Anforderungen, wenn er sich nur ihrer Führung, ihrer Autorität unterstellt. So empfiehlt sich die römische Kirche, dem im Umtrieb der Zeit ruhelos gewordenen Einzelmenschen, als Friedens- und Heimatort, und sie weiß sich auch den Staaten und Völkern darzustellen als Halt und Schutz, gegenüber den aus der allgemeinen Gärung entstandenen und entstehenden Auflösungserscheinungen und Auflösungsbestrebungen, innerhalb der heutigen Gesellschaft.

So zeigt sich, dass das römische Reich das Ende seiner Zeit noch nicht erreicht hat, weder als politische Macht noch als religiöse, ob man nun unter der letzteren die römische Kirche versteht oder die griechische. Roms Geschichte (im weitesten Sinn des Wortes) ist noch nicht zu Ende. Es kann unter Vorausnahme von Erwägungen, die später anzustellen sind, sogar der Satz gewagt werden, dass Rom seiner Ausgestaltung erst entgegen geht, und dass der Weltkrieg eine wichtige Stufe gewesen sei zur Ausgeburt Roms.

Wenn nun der Satz richtig ist, dass Rom das 4. Reich Daniels ist, und der 6. Kopf des Tieres der Offenbarung, dann erscheint die bisher in kurzen Zügen dargestellte Geschichte Europas in tiefernstem Licht. Nicht als ob die göttliche Oberleitung fehlte - die fehlt niemals beim Geschehen; aber die eigentliche Triebkraft, die die Geschichte durch die Jahrhunderte hindurch leitet, welche Menschen und Stimmungen und Bewegungen, und namentlich Leitgedanken, die Ideen und Ideale lenkt und benützt im festen Blick auf IHR Ziel, stammt nicht aus der oberen Welt. Gerade die Folgerichtigkeit des römischen Gedankens, der sich durch bald zwei Jahrtausende durchgesetzt hat im Wechsel der Zeiten, der Völker und der Verhältnisse, und der geblieben ist, auch als Völker und Kulturen starben, und neue Völker und Kulturen aufkamen, gibt zu denken. Es liegt dieser Darstellung fern, Menschen und menschliche Strömungen der Vergangenheit und der Gegenwart verantwortlich zu erklären für das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung, sowohl jeder, der einer nicht von oben stammenden Bewegung dient, oder sich willenlos von ihr treiben lässt, in irgendeiner Weise Anteil an der Gesamtschuld der Geschlechter zu geben. Aber es ist gut, die Richtung wahrzunehmen, wohin die Zeit treibt und wohin sie getrieben wird. Die Empfindung und die Lebensgestaltung mag ob solcher Erkenntnis schwer werden. Gottes Wille geschieht, sein Reich kommt, sein heiliger Name gelangt noch zur Geltung; und in dem Verlangen: Gottes Wille werde durchgeführt, sein Reich komme, sein Name werde gepriesen!

Das Ewige ist stille,
Laut die Vergänglichkeit.
Schweigend gehet Gottes Wille
über den Erdenstreit.

Lies weiter:
3. Die Zeitdauer Roms als 6. Reich