III. Die Prophetie Daniels

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Abschrift des Buches: Zeitenwende
Eine Bibelhilfe aus dem Danielbuch

Verfasser: Georg Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach)
Verlag: Wilhelm Fehrholz Baden-Baden (1947)

Siehe weitere interessante Bücher unter: Abschriften

Inhaltsverzeichnis
Einführung
I. Die Wende zur Zeit Daniels
II. Das Vorbildliche an der Haltung Daniels

III. Die Prophetie Daniels

In den seitherigen Ausführungen wurde ein Doppeltes versucht: einmal die große Zeitwende zu verstehen, innerhalb deren D a n i e l lebte und wirkte, und von solchem Verständnis aus hinüberzublicken auf die Zeitwende der G e g e n w a r t ; sodann aus Daniels persönlicher Haltung Richtlinien zu gewinnen zum Durchleben der Gegenwart in biblischem Sinne. Daniel hat aber auch p r o p h e t i s c h e Einblicke bekommen, die bis zum Ende der Wege Gottes reichen Für seine Zeitgenossen waren sie noch nicht bestimmt, im Unterschied von den anderen Propheten, die Gottes Wort und Weisungen m ü n d l i c h auszurichten hatten an die Menschen i h r e r Zeit. Die dem Daniel gewährten Blicke umfassen alle Zeiten bis zur Vollendung des Reiches Gottes. Was er im besondern im voraus zu sehen bekam, das waren die Zeiten, die eine W e n d e im Geschehen darstellen, während die Zeiträume z w i s c h e n solchen wenden nur mit wenigen Worten angedeutet sind.*

Anmerkung 24:

Gibt es Prophpetie auf weite Zeit hinaus?
* Es ist schon oft gefragt worden, ob eine Prophetie möglich sei, die sich auf lange Zeiten, ja über den ganzen Geschichtslauf hinüber erstrecke; ebenso ob außer den weiten Ausblicken auch eine Vorausdarstellung erst künftiger Geschehnisse bis auf E i n z e l h e i t e n hinaus denkbar sei. Namentlich die letztere Frage hat auch solchen Schriftforschern Not gemacht, die der Bibel ein ganz großes Zutrauen entgegenbrachten. In dieser Hinsicht ist es namentlich das 11. Kapitel des Danielbuches, an dem geradezu Bibel n o t entstanden ist (vgl. dazu auch Anm. 1). Das genannte Kapitel blickt hinaus auf die makkabäische Notzeit, die das Ergebnis der jahrzehntelangen Kämpfe zwischen Syrien und Ägypten waren. Die beiden Länder werden in jenem Kapitel - vom Standort des Heiligen Landes aus gesehen - das Nordreich und Südreich genannt. Diese beiden Reiche waren die Ausläufer des durch Alexander den Großen zustande gekommenen griechischen Reichs, welches das dritte darstellt unter den in Nebukadnezars Traum (Dan 2) und im Gesicht Daniels von den vier Raubtieren (Dan 7) genannten Weltreichen. Jene Kämpfe haben, wie aus alten außerbiblischen Nachrichten zu ersehen ist, tatsächlich in der Weise stattgefunden, wie sie in Dan 11 des Danielbuchs vorausgesagt worden sind. Die Not des Gottesvolks unter dem syrischen König Antiochus Epiphanes ist ebenfalls in der im 11. Kapitel des Buchs vorhergesagten Weise eingetroffen. Jene Zeit hat im 1. Makkabäerbuch eine sachkundige geschichtliche Darstellung erhalten.
Was soll dazu gesagt werden? Was nach unserem menschlich begrenzten Denk- und Urteilsvermögen m ö g l i c h sei, das muss sehr sorgsam durchdacht werden. Beispielsweise wurde noch vor einem halben Jahrhundert der Gedanke des lenkbaren Luftschiffes für etwas Unmögliches angesehen; an ein Flugzeug, das ohne Ballonhülle die Luft durchqueren könne, dachte man vollends nicht. Und doch ist der letzte große Krieg - menschlich gesprochen - hautsächlich durch Flugzeuge von gewaltigem Ausmaß und Gewicht entschieden worden. Dementsprechend sind Urteile, wie sie n och vor einem halben Jahrhundert üblich waren, sehr vorsichtig geworden. wollte man nur gelten lassen, was der menschlichen Natur als möglich erscheint, dann müssten wir auch das W u n d e r streichen. Das Wort „unmöglich“ rechnet nicht mit dem lebendigen Gott, und vergisst zugleich die Grenzen unseres menschlichen Erkenntnisvermögens. Ob diese Grenze nicht auch überschritten wird, wenn man meint, mit den Mitteln der menschlichen Vernunft eine Prüfung darüber anstellen zu können, bis zu einem Grade, in welchem Ausmaß, und auf wie lange hinaus Prophetie möglich sei? Prophetie entspringt ja gerade n i c h t menschlicher Vernunft, sondern ist eine Enthüllung des gegenwärtigen und zukünftigen Geschehens durch G o t t e s Geist.
Wenn man die prophetischen Voraussagen nicht antastet und einschränkt, dann werden freilich n e u e Fragen wach: inwiefern noch von menschlicher V e r a n t w o r t u n g gesprochen werden könne, wenn Menschenhände, allerdings ohne es zu wissen, nur ausführen, was nach Gottes längst gefasstem Plan geschehen soll? Und bleibt noch Raum übrig für Gottes Eingreifen im e i n z e l n e n , wenn der Gang des Geschehens in großen Zügen schon mehr oder minder festgelegt ist? Hat dann ein gläubiges B i t t gebet, das doch mit dem Eingreifen Gottes rechnet, noch einen Sinn?
Um solche letzten Fragen durchzudenken und zu einer befriedigenden Lösung zu gelangen, dazu reicht unser menschlich beschränktes, und zudem noch durch die Gottesferne getrübtes Erkenntnisvermögen nicht aus, selbst wenn es sich an Hand der Schrift schulen lässt. Unser Erkennen bleibt in unserem irdisch-zeitlichen Stand noch Stückwerk (1Kor 13:9). Auch Paulus hat mit solchen Fragen gerungen. Sie haben ihn letzten Endes zur Anbetung Gottes veranlasst (Röm 9-11, besonders Röm 11:33-36). „Einst werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin“ (1Kor 13:12). Für jetzt werden solche Fragen still unter dem Kreuz Christi.’'
Darum ist ein Blick auf die Passionsgeschichte des Herrn besser als alle noch so tiefgründigen Erwägungen. Seine Passion war im g a n z e n Alten Testament bis in ihre Einzelheiten hinein im voraus dargestellt, und zwar nicht nur im prophetischen Wort des Alten Testaments, sondern auch in dessen G e s c h i c h t e n. Nur waren die vielen E i n z e l züge der Passion im Alten Testament noch nicht zu einem prophetischen G e s a m t bild zusammengefasst. Israels Führer haben trotz ihrer, bis in das Einzelne gehenden Bibelkenntnis nicht geahnt, dass sie mit ihrem Handeln das prophetische Wort zur E r f ü l l u n g brachten. Als sie Jesus am Kreuz erhöhten, wussten und bedachten sie nicht, dass ihre höhnenden Zurufe im Ps 22 im voraus schon fast wortwörtlich aufgezeichnet waren. Hat das ihre Schuld aufgehoben? Schuldig waren sie d o c h, obwohl sie das Wort der Schrift verwirklichten. Und trotz der V o r a u s verkündigung der Passion Christi war sein Kreuzesleiden doch seine b e w u s s t e Tat. Und innerhalb der Passionsgeschichte konnte sich, trotz aller Vorausverkündigung der m e n s c h l i c h e n und s a t a n i s c h e n Übeltaten, das v ä t e r l i c h e Wirken Gottes am Sohn und an den Jüngern wunderbar auswirken. „Die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen“ (1Kor 1:25).
Daniel selber hat vieles von dem, was er sehen durfte und m u s s t e, noch nicht verstanden und hat, und weil er doch nichts Unverstandenes aufzeichnen wollte, mehrmals erst um Aufschluss bitten müssen. Vieles ist ihm aus den verhüllenden Zeichen heraus in die Wirklichkeit des Geschehens übersetzt worden. Aber nicht alles. Er hat diese Blicke auch nicht mit einem satten Gemütszustand aufgenommen, sondern mehrmals unter einer solchen Beunruhigung und Erschütterung, dass er darüber zusammenbrach, und erst wieder durch Boten aus der unsichtbaren Welt aufgerichtet werden musste, ehe er zum Empfang weiterer Weissagung fähig war. Und dies, obwohl ihm das Zeugnis zuteil wurde, er sei Gott lieb und wert.
Übrigens ist der letztgenannte Charakterzug Daniels auch ein Hinweis auf unsere Zeit. Gewiss: es ist eine Erquickung und Befreiung, zu ahnen und wahrzunehmen, dass auch die Gegenwart und was noch kommen mag, von Gott längst vorbedacht ist. Aber es wäre gut, wenn mit der Wahrnehmung, dass wir etwas vom Schritt G o t t e s durch die Weltgeschichte sehen, auch eine innere E r s c h ü t t e r u n g verbunden wäre.
Der vorstehende Gedankengang möge noch ergänzt werden durch einen Ausblick in die Ewigkeit. Wir werden alle einmal vor Gottes Angesicht und vor Christi Thron stehen. Wenn es so weit ist, werden wir den Verlauf unseres Lebens während unserer Erdenzeit in einer Weise übersehen, wie es uns jetzt, solange wir noch leben, noch nicht möglich ist. Gewiss werden wir auch jetzt schon in unserem Leben nicht nur eine Aneinandereihung von e i n z e l n e n Geschehnissen und Handlungen erblicken, sondern etwas ahnen von einem inneren Z u s a m m e n h a n g. So ist vor einer Anzahl von Jahren eine Lebensbeschreibung erschienen mit dem Titel: “Die Fußspuren Gottes in meinem Leben“. Diese Überschrift besagt viel. Aber einst werden wir in ungleich stärkerem Maß wahrnehmen, dass nicht wir selber es gewesen sind, die unser Leben nach eigenen Gedanken und Plänen gestaltet haben, sondern dass sich durch unser Leben ein roter Faden durchzieht, an dem Gottes Gedanken und Pläne und Ziele mit uns aufgereiht sind. Dann werden wir mit Beschämung wahrnehmen, wie wir den von Gott geplanten Grundriss unseres Lebens und Wirkens oft gestört haben, so dass Gottes Regierung wieder neu mit uns anfangen musste, um doch so noch zu Stand und Wesen zu bringen, was er sich mit uns vorgenommen hatte. „Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und Mühe mit deinen Missetaten“ (Jes 43:24). W i e unser e i g e n e s Wollen und Wirken mit G o t t e s Gedanken und Wegen in unserem Leben sich zusammenreimt, das können wir jetzt noch nicht ü b e r s c h a u e n. Aber es ist gut, wenn wir es einmal a h n e n; und wenn es uns zu einem Anliegen wird, endgültig auf Gotte Bahnen e i n z u g e h e n. Unser eigenes Wollen und Wirken wird durch Gottes Planen und Eingreifen in unser Leben nicht ausgeschlossen, und ebensowenig unsere Schuld, wenn wir hinter dem Plan Gottes mit uns zurückbleiben und seine Wege kreuzen. An dieser Stelle haben wir wieder einen der wundersamen biblischen Z u s a m m e n blicke vor uns, und n e b e n einander und i n einander sehen, was wir mit dem Mitteln unseres menschlichen Verstandes nicht zusammenreimen können. Deswegen heißt es einmal (Phil 2:12.13): gerade deswegen, w e i l Gott es ist, der uns zum Wollen befähigt und zum Wollen das Vollbringen hinzufügt, d e s w e g e n lasst uns unser Heil wirken mit Furcht und Zittern!

1. Die Einordnung der prophetischen Blicke Daniels

Daniels Weissagung ist aus seinem Lebenslauf herausgewachsen. Dass Gottes Hand nicht nur über dem Leben der S e i n e n waltet, sondern die Weltgeschichte im G r o ß e n lenkt mit dem Ziel, sein Reich herbeizuführen, das hat Daniel erlebt, als er auf seine, und seiner Freunde Bitten hin gewürdigt wurde, den Traum Nebukadnezars und dessen Deutung durch Gottes Geist zu erfahren.

Geraume Zeit nachher, als Nebukadnezar bereits gestorben, und sein Sohn die Herrschaft übernommen hatte, wurde ihm in neuer, vertiefter Form die Weissagung zuteil, die er bereits bei der Deutung jenes Traumes kennengelernt hatte, nämlich von den vier großen Weltreichen. Die letzteren waren in Nebukadnezars Traum durch das große Standbild in menschlicher Gestalt mit seinen vier Teilen dargestellt (Dan 2). Daniel durfte nun selber das gleiche sehen, aber nicht unter den Zeichen einer herrlichen, menschlichen Gestalt, sondern abgebildet durch vier Raubtiere (Dan 7). Und das Gottesreich, von dem Nebukadnezar durch den kleinen Stein erfahren hatte, der das stolze Menschenbild zertrümmerte und dann so groß wurde, dass er die Welt ausfüllte, das sah nun er unter dem Zeichen des Menschensohnes (Dan 7). Zwei Jahre nachher - vielleicht war es damals bereits offenbar, dass die Blütezeit des babylonischen Reichs mit dem Tod seines Begründers dem Ausgang entgegenging - wurde ihm das Gesicht zuteil vom Aufkommen des medisch-persischen Reichs in Gestalt des zweihörnigen um sich stoßenden Widders, und zugleich von dessen einstigem Ende durch den daherstürmenden Ziegenbock (Alexander den Großen), durch den das griechische Reich an Stelle des persischen trat. Auch der Griff des Griechentums nach dem Gottesvolk wurde ihm damals schon gezeigt, wie er durch einen König aus einem der Nachfolgestaaten nach Alexanders Tod erfolgte.

Ein neues Gesicht wurde ihm zuteil unter dem medischen König Darius, als das babylonische Reich durch das medo-persische abgelöst wurde. Damit war ein weissagendes Wort Jeremias von der 70-jährigen Dauer der babylonischen Herrschaft in Erfüllung gegangen. Daniel war damals bereits ein alter Mann. Nun legte sich ihm unter dem Eindruck der Weissagung die Frage nahe, ob der Sturz B a b e l s auch die Erlösung I s r a e l s bedeute, und Gottes neue gnädige Gegenwart in Jerusalem und in einem neuen Tempel. Sein damaliges flehentliches Bittgebet wurde erhört, indem ihm die Weissagung von den 70 Jahr w o c h e n zuteil wurde. Sie besagt, dass die e i g e n t l i c h e und e n d g ü l t i g e Erlösung Israels erst in weiter Ferne zu erwarten sei, nach einem jahrundertelangen Leben unter kümmerlichen Verhältnissen. Dann, an einem ganz bestimmten Zeitpunkt, werde seinem Volk die Erlösung nahetreten unter dem Messiaskönig. Aber nach dessen Ausrottung werde ein neuer Sieg der Weltmacht erfolgen mit großen Verwüstungen bis zum Schluss der Endzeit.

Daniels letztes Gesicht stammt aus dem dritten Jahr des Kores (Cyrus). Es fiel wohl in die Zeit, als Daniel die Erlaubnis zur Heimkehr seines Volkes erwartete. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass diese Heimkehr kurz vorher schon erfolgt war, nur dass vielleicht Daniel in seinem hohen Alter für seine Person nicht davon Gebrauch machte. Vielleicht gelangten damals die ersten betrüblichen Nachrichten über die Schwierigkeiten des Neuanfangs in Jerusalem, und über die Stockungen im Tempelbau nach Babel. Wäre es so, dann wäre damit erklärt, dass Daniel damals sehr betrübt war, und dass er das neue und letzte Gesicht nach einem dreiwöchigen Fasten erhielt.*

Anmerkung 25:

Geschichtliche Fragen zum Danielbuch
*Die Angabe Dan 10:1, wonach Daniel sein letztes Gesicht im d r i t t e n Jahre des Kores erhielt, scheint nicht zu stimmen mit der Bemerkung in Dan 1:21, wo es heißt, er habe noch das e r s t e Jahr des Kores erlebt. Denn am letztgenannten Satz entsteht der Eindruck, dieses erste Jahr des Cyrus sei Daniels Todesjahr gewesen. Wahrscheinlich ist es ja, dass das letzte Gesicht (Dan 10-12) in den Ausgang seines Lebens fiel. Denn es schließt mit der Ankündigung seines Todes, dem zu seiner Zeit eine fröhliche Auferstehung folgen werde (Dan 12:13).
Wie sind diese beiden Zahlenangaben zusammenzureimen? Die Stuttgarter Jubiläumsbibel nimmt an, dass die Bemerkung Dan 1:21 nicht Daniels Todesjahr benennen solle, sondern nur sagen wolle, er habe noch das Jahr erlebt, in welchem die Gefangenschaft Israels zu Ende ging. Die Heimkehrerlaubnis, die Cyrus den Gefangenen gewährte, fiel ja nach Esr 1:1 in sein erstes Regierungsjahr. Wenn diese Auffassung recht hat, dann hat Daniel, wie schon weiter oben als möglich angesehen worden ist, von der Heimkehrerlaubnis für seine Person keinen Gebrauch gemacht. Das wäre angesichts seines damaligen hohen Alters wohl verständlich, wiewohl unter den Heimkehrern sich offenbar auch manche Hochbetagte befanden. Denn sonst könnte nicht gesagt werden, ein Teil der Heimkehrer habe den alten Tempel noch mit eigenen Augen gesehen.
’'Es besteht aber auch noch eine andere Möglichkeit, die beiden Zahlenangaben zusammen zu sehen. Nämlich dann, wenn der m e d i s c h e Darius - der vom P e r s e r könig Darius zu unterscheiden ist - ein Mitregent des Kores war, aber vor Kores starb. In diesem Fall könnte eine doppelte Zählung der Regierungsjahre des Kores vorliegen, von denen die eine die M i t regenschaft mit Darius einrechnet, während die andere seine Regierungsjahre erst von seiner A l l e i n herrschaft an zählen würde.
Ein ähnlicher Fall liegt vor beim z w e i t e n römischen Kaiser, Tiberius, der in den letzten Lebensjahren des Augustus dessen Mitregent war. In Lk 3:1 ist das 15. Jahr des Tiberius als das Jahr genannt, in welchem Johannes der Täufer sein Heroldsamt antrat. A l l e i n herrscher wurde Tiberius nach des Augustus Tod im Jahr 14 nach Beginn unserer Zeitrechnung. Es fragt sich nun, ob in der Zeitangabe „15. Jahr des Tiberius“ die Mitregentschaft des Augustus miteingeschlossen ist oder nicht. Wäre das letztere der Fall, dann fiele das Auftreten des Täufers etwa in das Jahr 29 nach Beginn unserer Zeitrechnung. Wird dagegen die Mitregentschaft eingerechnet, dann ist der Beginn von Israels großer Erlösungsjahrwoche einige Jahre vorher anzusetzen. Dass dieser Hinweis nicht ganz unwichtig ist, das wird sich ergeben bei der Besprechnung der Weissagung Daniels von den 70 Jahrwochen im 9. Kapitel.
In diesem Zusammenhang seien noch zwei Unstimmigkeiten zwischen der üblichen weltlichen Darstellung der Geschichte, und den Angaben des Danielbuchs genannt. Die erstere hält sich an außerbiblische Nachrichten aus griechischen Quellen und aus den alten Keilinschriften, die aber unter sich nicht immer zusammenstimmen, und sucht diese in einem Gesamtbild zusammen zu sehen. Für die beiden letzten Jahrzehnte des babylonischen Reichs stimmt das so gewonnene übliche Geschichtsbild nicht mit dem Bericht im Danielbuch zusammen. So ist die weltliche Geschichtsschreibung der Meinung, es gäbe nur einen P e r s e r könig Darius, der übrigens auch im Buch Esra genannt ist. Dagegen könne man von einem M e d e r könig gleichen Namens, den das Buch Daniel nennt, nicht sprechen. Ferner dürfe man das medische und persische Reich nicht als ein zusammengehöriges D o p p e l r e i c h sehen, wie es in Dan 5:28 und Dan 8:20 dargestellt ist. Vielmehr sei die medische Herrschaft der Perserherrschaft v o r a n gegangen und von der letzteren beseitigt worden.
Auch diese Unterschiede waren für manche Bibelforscher ein Anlass zu besorgter Frage, ob den Angaben im Danielbuch volles Zutrauen geschenkt werden dürfe. Dieser Sorge gegenüber möge, wie schon in Anmerkung 1, die Frage entgegengestellt werden: warum soll dem biblischen Bericht nicht mindestens die gleiche Glaubwürdigkeit zugesprochen werden wie außerbiblischen Nachrichten, die ohnedies nur mit Mühe zu einem Gesamtbild zu vereinigen sind? Vielleicht kommt noch die Zeit, welche die Richtigkeit des biblischen Berichtes n a c h z u w e i s e n imstande ist; aber auch solange dies noch nicht in vollem Maß möglich ist, darf der Bibelleser ermutigt werden, der i n n e r e n Selbstbezeugung der Bibel zu trauen. Solches Zutrauen wird belohnt durch den großen Gewinn, der gerade aus den Teilen der Bibel entnommen werden kann, die in Anfechtung stehen.’'
Was den im Danielbuch genannten M e d e r könig Darius betrifft, so ist es wohl möglich, dass manche Herrscher der damaligen Zeit mehrere Namen hatten, von denen die Bibel den einen, und sonstige Nachrichten den anderen nennen.

Was dem fastenden Daniel damals zuteil wurde, das war die Erscheinung eines himmlischen Boten von großer Herrlichkeit. Die letztere hat eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Glanz, in welchem der Apostel Johannes den erhöhten Herrn sah, als er ihm die im letzten Buch der Bibel niedergelegten Gesichte zuteil werden ließ. Im Hebräerbrief, aber auch durch Paulus, wird darauf hingewiesen, dass der Herr bereits v o r seinem Erscheinen im Fleisch in der Geschichte des alten Gottesvolkes wirksam gewesen ist, in das er dann mit seiner Geburt gliedmäßig eintrat. So ist es wohl möglich, dass hinter dem Engelfürsten, der damals dem Daniel Aufschlüsse gab, der Herr selber stand, der den treuen Knecht nach dem letzten Blick, den er ihn noch tun ließ, vom irdischen Tagewerk abrief zur Ruhe des Volkes Gottes, ähnlich wie einstens Mose. Der Inhalt des letzten Gesichts, das dem Daniel zuteil wurde, zielt zwar auf die größte Gefahr, die Israel in seiner vorchristlichen Zeit durchzukämpfen hatte, als das Griechentum mit Schmeicheln und Locken und ein Vertreter der griechischen Weltmacht, nämlich Antiochus Epiphanes, es mit Gewalt seiner göttlichen Berufung entkleiden wollte. Aber es ist wohl möglich, ja wahrscheinlich, dass das Gesicht ohne dass Daniel es damals schon ganz verstand, von Antiochus Epiphanes bereits hinüberschaut auf den großen Gegenspieler Christi am Schluss der derzeitigen Weltgeschichte, wo der „Antichrist“ noch einmal das erst berufene Gottesvolk zusammen mit dem neutestamentlichen hart bedrängen wird. Dan 11:36 mag der Übergang sein von jenem a l t t e s t a m e n t l i c h e n „Antichristen“ zum Antichristen der E n d z e i t.*

Anmerkung 26:

Die prophetische Perspektive
* Hier ist ein Wort zu sagen vom Gesetz der sogenannten prophetischen „Perspektive“. Dieser Ausdruck weist auf eine Eigentümlichkeit des l e i b l i c h e n Sehens hin, und erklärt damit eine Besonderheit des p r o p h e t i s c h e n Schauens. Wenn das Auge nahe Gegenstände vor sich hat, kann es deren Standort und ihr räumliches Verhältnis zueinander deutlich wahrnehmen. Sieht es dagegen in weite Ferne, so schieben sich die Gegenstände ineinander. Wer beispielsweise von den Höhen der Schwäbischen Alb oder des Allgäus die Gipfel der Alpen vor sich hat, der sieht sie unmittelbar hintereinander, auch wenn die einzelnen Bergreihen durch tiefe Täler und größere Entfernungen voneinander getrennt sind. Das Auge kann die Entfernung der hinteren Linien von den vorderen nur schwer abschätzen, und nimmt die Zwischenräume nicht wahr. Nur ein leiser Unterschied der Färbung ermöglicht einen Schluß auf kleinere oder größere Entfernung der einzelnen Berggipfel und Bergreihen. Ähnlich ist es beim Fernblick der P r o p h e t e n. Die haben die nähere und fernere Zukunft in vielen, vielleicht sogar in den meisten Fällen i n einander gesehen. Der Blick in die Zeiträume dazwischen war ihnen noch verhüllt. So ist es möglich, dass für den Blick des Daniel die nähere und fernere Zukunft seines Volkes in manchen Teilen seiner Weissagung zusammengeflossen ist, wo ihm nicht ein ausdrückliche N a c h einander der Ereignisse und Zustände gezeigt wurde. Dieses I n einander kommt besonders dann zustande, wenn die nähere und fernere Zukunft in dem und jenem Stück Ähnlichkeit miteinander haben. So mag die Grenze zwischen der Trübsal Israels zur Zeit des Antiochus Epiphanes und zwischen der großen Trübsal, die als solche in Dan 12 genannt ist, der 36. Vers des 11. Kapitels sein (Dan 11:36). Dafür, dass die Weissagungen nach diesem Vers auf eine s p ä t e r liegende Notzeit Israels gehe, genauer gesagt: auf die Zeit vor dem Wiederkommen des Herrn, dafür spricht der Umstand, dass die Dauer der Tempelentweihung in der makkabäischen Notzeit eine etwas andere ist als die Dauer der in Dan 12 genannten Entweihung. Für die Entweihung in der makkabäischen Notzeit werden in Dan 8:14 2300 Abend-Morgen genannt, was vielleicht 1150 Tage bedeutet; in Dan 12:11.12 dagegen ist die Entweihung auf 1290 Tage bzw. 1335 Tage beziffert; das erstemal auf etwas weniger als 3 1/2 Jahre, das zweitemal auf etwas mehr. Daniel hat selber ausgesprochen, dass ihm das Verständnis dieser Dinge abgegangen sei.

Der Unterschied zwischen Einblicken von Weltmenschen und Propheten

Seitdem sind 2 1/2 Jahrtausende dahingegangen. Das erstberufene Gottesvolk ist infolge der Verwerfung seines Königs und der Ablehnung des Evangeliums auf die Seite gestellt worden, und dafür sammelt der erhöhte Herr einstweilen die Gemeinde aus der Völkerwelt. Aber verstoßen hat Gott sein Volk nicht, wie es ausdrücklich in Röm 11 bezeugt ist. Die Zeit seiner Wiederaufnahme und neuen Indienststellung steht noch bevor. Seit beinahe 2000 Jahren ist Israel ein Volk zwischen den Zeiten und Völkern. Aber für die Christenheit aus der Völkerwelt gilt dies ebenfalls. Auch sie geht ihren Gang zwischen der ersten und zweiten Erscheinung des Herrn. Ebenso ist der ganze seitherige Geschichtslauf eine Art Zwischenzustand zwischen dem, was Gott mit der Menschheit vorhatte vor ihrem Fall, und zwischen dem, was er an ihr tun will, wenn er durch seinen Sohn s e i n Reich auf dieser Erde aufrichten wird. So ist eine dreifache Geschichte dem großen Wendepunkt allen Geschehens nähergerückt: die Geschichte der W e l t, die Geschichte I s r a e l s, die Geschichte der C h r i s t e n h e i t. Unsere Generation steht dieser Wende ungleich näher als der Apostel Johannes, dem am Ausgang des apostolischen Zeitalters die eingehenden Blicke auf die größte Wende aller Zeiten geschenkt worden sind. In der Offenbarung des Johannes sind die Ausblicke Daniels bestätigt, aber gleichzeitig sind sie vertieft und erweitert, weil inzwischen der König Israels und der Welt offenbar geworden ist als der Gekreuzigte und Erhöhte. Da liegt etwas Ähnliches vor wie bei den dem Daniel in Dan 9 seines Buches geschenkten Aufschlüssen. Dort ist eine Weissagung Jeremias bestätigt und ebenfalls vertieft und weitergeführt. Und die Generationen vor dem Wiederkommen des Königs dürfen nun die Weissagung Daniels lesen und verstehen im Licht der Offenbarung des Johannes und zugleich im Morgenrot des kommenden Tages.

Das letzte, was Daniel im abschließenden Gesicht Dan 10-12 gezeigt wurde, ist übrigens nicht die Trübsal der Zeit des alt- und neutestamenlichen Antichrists, sondern ein Ausblick in die Herrlichkeit Gottes. Er durfte bereits die Auferstehung schauen, hat vielleicht schon etwas davon geahnt, dass die Auferstehung der Gerechten eine besondere Herrlichkeit in sich schließe. Er selber durfte das alles nur von fern sehen. Denn er wurde zum Sterben berufen. Aber sein Sterben stand bereits im Glanz der kommenden Herrlichkeit.

Im vorstehenden wurde ein Überblick gegeben über die zeitliche Reihenfolge der Gesichte Daniels und zugleich aufgezeigt, in welchem Maß diese Aufschlüsse mit dem Lebensgang des Mannes verbunden, ja in ihn hinein verflochten waren. Seine eigene Berufung zum Propheten stand im inneren Zusammenhang mit dem Traum Nebukadnezars und damit, das ihm auf sein Bitten der Traum und dessen Deutung durch Gottes Geist offenbart wurde. Es wurde bereits gezeigt, wie sehr der dem König gewährte Traum von jener menschlichen Kolossalstatue und das Gesicht Daniels von den vier Tieren zusammenhängt. Es lohnt sich, die beiden Aufschlüsse miteinander zu vergleichen. An einem solchen Vergleich wird deutlich, dass Gott s e i n e n Leuten m e h r sagt als W e l t menschen. Mit Nebukadnezar hat Gott nur entsprechend dem Verständnis dieses Mannes reden können. Aber es ist ein Zeichen der Herablassung Gottes, dass er auch dem Weltherrscher nahegetreten ist. „Er ist nicht ferne einem j e g l i c h e n unter uns“ (Apg 17:27). Dem Weltherrscher erschienen die Weltreiche als eine prächtige M e n s c h e n g e s t a l t . Dem Daniel wurden sie gezeigt in der Gestalt von T i e r e n, ja von R a u b tieren. An diesem Punkt wird ein Unterschied sichtbar zwischen der m e n s c h l i c h e n Empfindung und dem Urteil G o t t e s. Dem ersteren erscheint alles Geschehen auf dieser Welt, das einzelne wie das umfassende, als die Entfaltung des menschlichen Wesens zu Glanz und Herrlichkeit. Die alten Griechen haben dafür den Satz geprägt: „V i e l e s Gewaltige lebt; doch n i c h t s ist gewaltiger als der M e n s c h !“ Mit dieser Anschauung vom Menschen ist untrennbar ein s t o l z e s Gefühl verbunden. Da freut man sich der menschlichen Größe und seiner Macht und seiner Ehre und seiner Kultur.

Aber dem Daniel hat Gott gezeigt, dass diese glänzende Außenseite alles menschlichen Wesens und Geschehens nur Fassade oder Schein ist. Hinter der schönen, großen, stolzen M e n s c h l i c h k e i t lauert das T i e r, und zwar nicht das Tier als s o l c h e s, sondern das R a u b tier, ja als Bestie. Das gilt für den einzelnen Menschen und seine Haltung und Handlungsweise wie für das g e s a m t menschliche Geschehen, sofern und solange man nicht dem Willen Gottes untertan ist. Wer hätte das an sich selber nicht auch schon geahnt, oder mit Schrecken oder Entsetzen wahrgenommen? Wessen der Mensch fähig ist, das ist im Lauf der Geschichte offenbar genug geworden. Lange hat die Menschheit davon geträumt, dass mittelalterliche Methoden wie Inquisition und Folterung der Vergangenheit angehören, dass die Menschheit im Begriff sei, sich bis zum höchstmöglichen Grad zu verfeinern und zu veredeln. Das war der Traum des Entwicklungsgedankens. Dass auch hinter der Zivilisation und Kultur, und namentlich hinter dem Fortschritt der Technik das Tier lauert, das ist in den letzten Jahrzehnten mit erschreckender Deutlichkeit offenbar geworden. Es sei an dieser Stelle ein Vorgriff gemacht auf die Zeit, die Daniel nicht mehr selber erlebt, die er aber in seinen Gesichten beschrieben hat. Kann man sich etwas Sympathischeres denken als das verfeinerte Griechentum mit seiner Humanität? Gewiss: der griechische Geist, wie er nicht nur in der alten Zeit sich entfaltet hat, sondern wie er weiter wirkt bis in die Gegenwart, hat auch l i e b e n s w e r t e Züge. Aber K r a l l e n hat die griechische Art ebenfalls.

Das ist seinerzeit offenbar geworden, als das Griechentum in Gestalt des Antiochus Epiphanes nach dem alten Gottesvolk griff. Was ihm durch Schmeicheln und Locken nicht gelang, das suchte er mit brutaler Gewalt zu erreichen und durchzusetzen, sogar gegenüber den H e i l i g e n. Bei der Gewaltanwendung war das Gewissen völlig ausgeschaltet, und das Menschenleben galt nichts mehr. Im römischen Reich hat sich der römische G e i s t durchgesetzt. Wohl hat der letztere ein folgerichtiges Rechtssystem aufgebaut. Aber sein Tierart offenbarte sich ebenfalls, indem er die Bindung an Gott und Gottes Wort abstreifet und zum Anbeter der Gewalt wurde, was sich bis zum Machtrausch steigerte. „Herr, was ist der Mensch, dass Du sein gedenkst?“ (Ps 8). Aus dieser Loslösung des menschlichen Wesens von Gott ist jene Frage des Gewaltmenschen Pilatus an Jesus entstanden, die beides miteinander war, wehmütig und höhnisch, „Was ist Wahrheit?“ Die beiden Ausprägungen des menschlichen Wesens, wie sie das dritte und vierte Weltreich beherrscht haben, sind heute noch nicht ausgestorben; sie haben die europäische Geschichte von zwei Jahrtausenden beherrscht. Was wäre aus der europäischen Geschichte geworden, wenn Gottes Barmherzigkeit in diese Hintergründe des abendländischen Wesens nicht heilige Einflüsse hineingeleitet hätte, indem er unserem Erdteil das Evangelium von seinem Sohn anvertraut hat, und dies in ungleich höherem Maß als den anderen Teilen der Welt! Wir können das kurz den c h r i s t l i c h e n Einschlag nennen.

Der letztere hat bis zu einem gewissen Grad das T i e r ähnliche an der Geschichte des Abendlandes eingedämmt, hat aber seinerseits auch selber schwere Einbußen erlitten. Es ist ein sehr ernstes Zeichen der letzten zwei Jahrhunderte und der Gegenwart, dass - wenn auch in verschiedenem Maß - der Versuch gemacht worden ist, den christlichen Einschlag im europäischen Völker- und Staatsleben in den Winkel zu drängen, auszuschalten oder gar auszumerzen. Im Land der Reformation ist das trotz des Wortes vom „positiven Evangelium“ g r u n d s ä t z l i c h (systematisch) versucht worden. Eine weitere Fortsetzung dieses Weges unter den seitherigen „christlichen“ Völkern hätte nicht nur tiefernsten Einfluss auf das Ergehen der Kirchen, sondern würde auch das europäische Staats- und Völkerleben auf das ernsteste beeinflussen. Es ist nicht möglich, die christliche Geschichte Europas von mehr als einem Jahrtausend rückgängig zu machen, ohne zugleich in das Antichristentum hineinzugeraten. Dass solche Gedanken überhaupt ausgesprochen werden können und müssen, ist auch ein Zeichen dafür, wie weit unsere Geschichte fortgeschritten ist auf dem Weg zum Ausgang des jetzigen Zeitlaufs. Um von da zur Weissagung des letzten Buches der Bibel hinüberzublicken: dort sind bei der Beschreibung der Endzeit kein Gebilde mehr sichtbar, die man „Kirchen“ nennen könnte.

Eine Gemeinde Jesu zwar ist noch deutlich wahrzunehmen. Aber die steht nach dem Wort der Offenbarung in der Endzeit unter solchem Druck, dass ihr die Existenzgrundlage nahezu abgeschnitten ist und ihr nur noch der Kreuzesweg übrig bleibt. Es ist zu einer tiefernsten Frage für den Fortgang der europäischen und der Weltgeschichte geworden, wie wird es mit der Christenheit der Völker und der Kirchen weitergehen? - Mit diesen Gedanken ist kein Stein geworfen auf all die ernstlichen Bestrebungen der Kirchen, den Völkern in deren Mitte sie wirken, das Beste - nämlich Jesus, das Wort Gottes und die Wirkungen des Heiligen Geistes - neu zu vermitteln oder wenigstens zu sichern. Ebensowenig ist die Arbeit der christlichen Mission, die seit zwei Jahrhunderten alle Kraft eingesetzt hat, der Völkerwelt das H e i l nahe zu bringen, irgendwie gering geschätzt. Nicht nur die Gemeinde Jesu im eigentlichen Sinn des Wortes, sondern auch die Kirchen haben die Pflicht, ihre ganze Kraft herzugeben, damit die Botschaft vom Reich und vom König des Reichs zu allen Völkern dringe und in ihnen wirksam werde. Aber es wird gut sein, wenn die Gemeinde Jesu sich bei aller Gewissenhaftigkeit und Mühe darüber klar ist, dass die Welt als G a n z e s n i c h t erobert wird. Sie hat ihr Zeugnis auszurichten - wehe, wenn sie es nicht tut! - aber am Schluss des jetzigen Zeitlaufs wird die Welt - als Ganzes genommen - nicht unter dem Zeichen des Kreuzes stehen, sondern dem Antichristentum verfallen sein und dem Antichristentum huldigen. „Wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, dass er auf der Welt auch Glauben finden werde?“ (Lk 18:8).

Der Gedankengang des vorhergehenden Abschnitts war an die Wahrnehmung angeschlossen, dass Daniel das gleiche, was Nebukadnezar in einer gewaltigen m e n s c h l i c h e n Gestalt gesehen hatte, in Gestalt von R a u b t i e r e n wahrnahm, deren letztes einer unbenennben B e s t i e glich. Es sei noch auf einen anderen Unterschied zwischen Dan 2 und Dan 7 hingewiesen: auch Nebukadnezar wurde gezeigt, dass alle menschliche Herrlichkeit und Größe dem W e c h s e l und schließlichem Vergehen ausgesetzt ist. Daniel durfte m e h r sehen: er nahm wahr, dass beides durch das G e r i c h t Gottes herbeigeführt wird. Dass es ein solches Gericht nicht nur über alle menschliche Größe, sondern überhaupt über jedes menschliche Einzelleben,wie über die ganze Völkergeschichte gibt, das weiß die Welt n i c h t, und wenn sie es schon wissen könnte, so w i l l sie es nicht wissen. Was wird offenbar, wenn eine Periode menschlicher Machtentfaltung abgeschlossen wird, wie das in der Weltgeschichte schon oft der Fall war? Das ist ein richterlicher Akt Gottes, der sich schon i n n e r h a l b der Weltgeschichte vollzieht. In diesem Sinn hat jenes Wort wenigstens zum Teil recht; „die Weltgeschichte ist das Weltgericht“. Aber die g a n z e Wahrheit ist das noch nicht. Das eigentliche Gericht Gottes kommt erst n a c h dem Abschluss des Einzellebens und der Weltgeschichte. Es wird wohl so sein, dass die Furcht des Todes, die im Menschen steckt, auch im tapferen, nicht nur von der Ungewissheit herrührt, was nach dem irdischen Leben kommen werde, sondern dass sie auf einer Vorahnung des Gerichts beruht. „Es is dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht“ (Hebr 9:27). Es ist nun aber nicht so, dass das Gericht Gottes über das menschliche Geschehen sich nur in einer Menge von E i n z e l gerichten erschöpfen würde; vielmehr gehen auch die V ö l k e r und die R e i c h e dieser Welt dem Gerichtstag Gottes entgegen. - W e r wird richten? Es sei nur an ein Wort des Apostels Paulus erinnert, das er am Hauptsitz der stolzen griechischen Bildung gesprochen hat, nämlich in Athen: „Gott hat einen Tag gesetzt, an welchem er richten will den Kreis des Erdbodens mit Gerechtigkeit durch einen Mann, in welchem er es beschlossen hat,“ nämlich durch den von der Welt zwar ausgestoßenen, aber durch seine Auferweckung zum Herrn der Welt gemachten Christus (Apg 17:31).

In welchem Maß Daniel, obwohl er fast 600 Jahre vor der ersten Erscheinung Christi gelebt hat, auf diesen kommenden r e c h t e n Weltregenten hat hinausschauen dürfen, das geht hervor aus einem dritten Unterschied zwischen dem Traum Nebukadnezars (Dan 2) und dem Gesicht Daniels (Dan 7). Nebukadnezar nahm nur einen S t e i n wahr, der das stolze Menschenbild zum Umstürzen brachte. Daniel dagegen sah den M e n s c h e n s o h n. In diesem Punkt wird wieder ein durchgreifender Unterschied sichtbar zwischen dem, was der M e n s c h sieht, und dem, was ein durch G o t t e s G e i s t erleuchtetes Auge wahrnimmt. Menschen sehen nur Verhältnisse, Zustände, Taten, Mittel, Erfindungen, Technik, und schreiben all diesen g e g e n s t ä n d l i c h e n Größen die Wirkungen zu, welche das Weltgeschehen beeinflussen, formen und umgestalten. Dass das alles große Bedeutung hat, wird nicht bestritten. Beispielsweise haben zwei Atombomben genügt, um den letzten Krieg abzukürzen und zum Abschluss zu bringen. Was Menschen und Weltmächte aber n i c h t sehen, wenn sie nicht vom Geiste Gottes erleuchtet werden, das ist die Hand G o t t e s, die alles Geschehen lenkt. Ob es nun die g u t e Hand Gottes ist, von der Nehemia geschrieben hat, oder die m i l d e Hand, von der Ps 104 geschrieben steht, oder die a u s g e s t r e c k t e Hand Gottes, die zum Schlag ausholt, oder die g e w a l t i g e Hand Gottes, der sich alle menschliche Macht beugen muss - immer handelt es sich um ein p e r s ö n l i c h e s Eingreifen Gottes. Und dieses Eingreifen geschieht seit Christi Erhöhung auf den Thron Gottes durch den einst gekreuzigten Herrn. Das ist der Menschensohn, den Daniel am Thron Gottes sah. Der wird nicht nur e i n s t das Gericht verwalten, sondern der r e g i e r t schon seit bald zwei Jahrtausenden als der Herr aller Herrn und der König alle Könige. Ja, wie schon weiter oben gesagt worden ist: er stand bereits hinter der v o r christlichen Geschichte Israels und der Welt. Aber seit der großen, am Kreuz vollbrachten Tat gilt das Wort des Propheten Jesaja noch m e h r: „Des Herrn (nämlich Gottes) Vornehmen wird durch seine (nämlich Knechte Gottes) Hand w e i t e r gehen“ (Jes 53:10). Wie hat er selber, als er mit gebundenen Händen vor seinen Richtern stand, es feierlich bezeugt? „Ihr werdet sehen des Menschen Sohn, sitzen zur Rechten der Kraft Gottes und kommen in den Wolken des Himmels“ (Mt 26:64).*

Anmerkung 27:

Prophetische Geschichtsdarstellung
* In diesem Zusammenhang sei noch ein Wort gesagt über die besondere Art der p r o p h e t i s c h e n G e s c h i c h t s darstellung. Solche gibt es n u r in der Bibel; und in einem schwachen, unvollkommenen Nachbild innerhalb der Christenheit. Unter prophetischer Geschichtsdarstellung verstehen wir die Beleuchtung des Geschehenen mit G o t t e s Licht. Aufgabe eines Propheten ist nicht nur der Blick in das K o m m e n d e; auch nicht nur - wiewohl das etwas s e h r Wichtiges ist - das Hineinrücken der G e g e n w a r t in das Licht Gottes; sondern auch das Wahrnehmen dessen, was g e s c h e h e n ist, vom Standort G o t t e s her. In d i e s e m Sinn verstanden sind alle Bücher der Bibel prophetische Schriften, nicht nur die im engeren Sinn so genannten. Beispielsweise auch die Königsbücher; denn der Hauptnachdruck wird dort nicht gelegt auf den n a t ü r l i c h e n Fortgang des Geschehens; vielmehr wird in ihnen aufgezeigt, wie G o t t e s Hand in Israels Königszeit in die Geschichte eingriff, und sie leitete in Erweisungen von Gnade und Gericht. Im Neuen Testament gilt das gleiche von den Evangelien und von der Apostelgeschichte. O welchen Wert hätte es für die Christenheit, wenn ihre Geschichte in diesem prophetischen Licht nicht nur bis zur Verbringung des Apostels Paulus nach Rom beschrieben wäre, sondern wenn all die Jahrhunderte seither in Gottes klarem Licht aufgezeichnet wären. Eine solche Darstellung des Gangs des Christentums durch die Jahrhunderte bis zur Gegenwart gibt es n i c h t. Das ist sehr schmerzlich. Wäre eine solche prophetische Beschreibung der Kirchengeschichte vorhanden, dann wäre klar erkennbar, wo F e h l entwicklungen eingesetzt haben. Und die christlichen Kirchen und Gruppen wüssten eher, was an ihrem Wollen und Handeln richtig ist und was daran korrigiert werden sollte. Um ein Beispiel zu nennen: wie verschiedenartig sieht die Darstellung der Reformationszeit aus, je nachdem sie aus der Feder eines überzeugten Katholiken oder eines glaubenden Gliedes der evangelischen Kirche stammt! Es wird auch zu den Fügungen Gottes gehören, dass wir solche prophetischen Darstellungen der christlichen Geschichte n i c h t haben. Auf der anderen Seite beruht die heilsame Wirkung der biblischen Geschichten gerade auf deren prophetischer Darstellung. So ist es gekommen, dass den im Alten und Neuen Testament erzählten G e s c h i c h t e n in solch hohem Maß die Wirkung eigen ist, die Paulus in 2Tim 3 der g a n z e n Schrift zuschreibt, dass sie nämlich zurechtweise, erziehe, bessere und also behilflich sei, dass Gottesmenschen entstehen.
Diese Besonderheit der biblischen Geschichtsdarstellung kommt in der hebräischen Bibel dadurch zum Ausdruck, dass alle erzählenden Schriften vom Buch Josua an bis zum 2. Königsbuch „Propheten“ genannt werden. Nur mit der Beifügung „f r ü h e r e“ Propheten. Die e i g e n t l i c h e n prophetischen Schriften werden die „späteren“ Propheten genannt. Im Unterschied zu den „prophetischen“ Schriften in diesem doppelten Sinn werden die 5 Bücher Mose das „Gesetz“ genannt. Allen anderen Büchern des Alten Testaments erhielten kurzerhand den Namen “Schriften“. Als deren wichtigstes Stück galten die Psalmen. Dies Einteilung der hebräischen Bibel in "Gesetz, Propheten und Psalmen“ klingt heute noch im Neuen Testament durch. So Lk 24:27, wenn es in der Geschichte von den Emmausjüngern heißt: „Er fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren,“ und wenn es im gleichen Kapitel Lk 23:44 heißt: „es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesetz Mose, in den Propheten und in den Psalmen.“ Inwiefern ist dieser Hinweis nicht ganz unwesentlich? Weil damit ausgesprochen ist, dass der Herr nicht nur im Gesetz Moses und nicht nur in den e i g e n t l i c h e n prophetischen Schriften die Hinweise auf sich wahrgenommen hat, sondern dass er ebenso in den biblischen G e s c h i c h t e Vorausdarstellungen seines Lebens und seiner Herrlichkeit gegeben hat. In diesem Sinn ist es auch zu verstehen, wenn er von der g a n z e n „Schrift“ - so nannte man zu seiner Zeit das Alte Testament - gesagt hat, die Schrift sei das Buch, das von i h m Zeugnis ablege (Joh 5:39).’'
Aus diesem Hinweis geht hervor, dass das Alte Testament noch lange nicht ausgewertet ist, wenn es nur als das Buch vom Volk Israel verstanden wird, in welchem auch g e l e g e n t l i c h e Hinweise auf dessen dort verheißenen König sich fänden. Vielmehr muss das g a n z e Alte Testament, wenn es richtig, und im Vollsinn verstanden werden soll, mit dem Blick auf Ihn gelesen werden. Dann wird es lebendig. Dann können am Alten Testament die brennenden Herzen entstehen, von denen die beiden Emausjünger nach den paar Stunden Bibelarbeit unter der Anleitung des Meisters gesprochen haben. Solange das Alte Testament nur als „jüdisches“ Buch gelesen und empfunden wird, ist es noch ein „verschlossenes“ Buch. „Offen“ liegt es erst für diejenigen da, die in diesem Buch von Anfang bis zum Schluss Jesus sehen lernen. In diesem Licht betrachtet ist die g a n z e Bibel, nicht nur das Neue Testament, das Buch von J e s u s.

2. Daniels Wort zu den vorchristlichen Zeitwenden

Das babylonische Weltreich war in Gottes Hand das Mittel, wodurch in der Geschichte des erstberufenen Gottesvolkes die große Wende herbeigeführt worden ist, die bis zu einem gewissen Grad noch bis zum heutigen Tag andauert. Aber dieses gewaltige Weltreich hat selber eine Zeitwende erleben müssen. Nur 70 Jahre hat es Bestand gehabt; dann musste es seinem Nachfolger Platz machen. Es ist von praktischem Wert, wahrzunehmen, wodurch dieser Wechsel in der Weltgeltung herbeigeführt wurde. An diesem Punkt wird wieder der Unterschied zwischen der üblichen (profanen) Geschichtsdarstellung und der prophetischen Geschichtsauffassung deutlich. Die zuerst genannte könnte etwa von einem „Altern“ des babylonischen Weltreichs sprechen, das deshalb „jungen“ Völkern, wie Meder und Perser es waren, unterlegen sei. Das Buch Daniel sieht die Gründe für den Fall Babels und für dessen Ablösung durch das nächste Weltreich an einer ganz a n d e r e n Stelle, nämlich darin, wie die Herrscher Babels sich zum lebendigen Gott gestellt haben. Zwar waren die Regenten Babels Heiden und beteten ihr Götter an. Aber v ö l l i g e Heiden gibt es nicht. Denn jedem Volk und jedem Menschen tritt Gott nahe, auch wenn sie für gewöhnlich ihr Leben in der Gottesferne zubringen. Deshalb hat der Apostel Paulus in Athen, der Stadt der künstlerischen Götzenbilder gesagt, Gott habe allen Völkern das Suchen nach Ihm in die Seele gelegt, weil er nicht ferne sei von einem jeglichen, da wir ja alle miteinander nur in ihm unser Leben, unseren Bestand und unsere Wirkungsmöglichkeit haben (Apg 17:27.28). So ist der lebendige Gott auch in das Leben des Weltherrschers eingetreten. Daniel und seine Freunde waren die Werkzeuge seines Nahetretens. Aber auch unmittelbar hat sich ihm Gott bezeugt in jenem Traum, der freilich erst durch das Zeugnis Daniels für ihn Bedeutung erlangt hat. Damals hat Gott ihm bezeugt, dass er seine Machtstellung nicht sich selber verdanke, sondern Ihm, und dass er diese Machtstellung zu seiner Zeit auch wieder abgeben müsse. Nebukadnezar hat sich damals darunter gebeugt.

Nun ist es merkwürdig, dass gerade diese Selbstbezeugung Gottes an Nebukadnezar für den Weltherrscher der Anlass zum Fall geworden ist. Er sah an jenem Traum nicht mehr die Herrscherobmacht G o t t e s, sondern nur noch die glänzende, gewaltige M e n s c h e n gestalt. Was ihm zur dauernden Beugung unter den lebendigen G o t t hätte dienen sollen, das wurde für ihn zum Mittel der S e l b s t erhöhung und einer neuen, den Bestand seines Staates sichernden R e l i g i o n. So wird es wohl zu erklären sein, dass er nach jenem Traum - vielleicht eine geraume Zeit nachher - die menschliche Kolossalstatue errichten ließ, und die ganze Beamtenschaft seines Reichs zur Ehrung dieses seines neuen Gottes kommandierte; und dass er, wenn nicht Gottes Hand eingegriffen hätte, zum Mörder der Freunde Daniels geworden wäre. Gott hat dem König dieses Herabsinken verziehen und hat sich ihm aufs neue in seiner Herrlichkeit bezeugt, indem er die drei Männer aus dem Feuerofen errettete. Der König bekam damals sogar einen Blick für den Engelschutz, der den drei Treuen im Feuerofen beigegeben war. Die Wirkung auf Nebukadnezar war gewaltig. Er hat damals sogar seine Völker zur Ehrung des lebendigen Gottes aufgefordert.

Aber nun kam der n e u e Fall. Statt dauernd in der Beugung in vor der erkannten Herrlichkeit Gottes zu bleiben, verfiel er wieder in seinen alten selbstherrlichen Stolz. Er wurde zwar vorher durch einen Traum davor gewarnt. Aber bei der Einweihung seiner gewaltigen Bauten in Babel - wie oft haben schon solche Bauten der politischen Selbstverherrlichung dienen müssen! - brach dieses Selbstgefühl trotz der Warnung durch. Da wurde er tiefer gedemütigt, indem ihm auf geraume Zeit der Verstand genommen wurde. Der stolze Mann sank zum Tier herab. Aber auch in seinem umnachteten Zustand war er noch fähig, sich vor Gott zu beugen, und sofort bekam er seinen Verstand wieder und seine königliche Stellung. Diesmal scheint die Beugung nachhaltiger gewesen zu sein. Denn er hat die ganze Geschichte von seinem Stolz und von seiner Demütigung in einem königlichen Erlass seinen Völkern bekannt gegeben, und sie zur alleinigen Ehrung des lebendigen Gottes aufgefordert.

Vielleicht rührt es von dieser Empfänglichkeit Nebukadnezars für Gott her, dass er und sein Reich in seinem Traum durch das edelstes Metall gekennzeichnet wurde, nämlich durch das Gold. Die folgenden Weltreiche werden in absteigendem Maß charakterisiert durch Silber, Kupfer, Eisen und Ton.

Eine Frage und Vermutung sei noch angeschlossen. Woher rührt diese Empfänglichkeit des babylonischen Weltherrschers? War das nicht vielleicht der Rest eines Erbes aus der Väterzeit her? Die Babylonier waren aus Sems Geschlecht, aus dem gleichen Geschlecht, dem das Volk Israel angehöre. Die Semiten haben das Gotteserbe am meisten bewahrt. Dann kamen die Japhetithen (worunter wir die Indogermanen verstehen dürfen), die nachher „in den Hütten Sems wohnen“ durften. (1Mo 9:27). - Das mag wohl der Grund sein, weshalb die Japhethiten die Segnungen des Christentums in den letzten zwei Jahrtausenden reichlich zugeflossen sind, während die Hamiten, d. h. fast alle übrigen Völker, erst in den letzten zwei Jahrhunderten näher mit dem Evangelium bekannt wurden durch den Dienst der Mission. Semiten waren auch die Assyrer, d. h. die Weltmacht, die vor dem babylonischen Reich bestimmend in die Weltgeschichte eingriff. Die letzteren waren auch nicht ganz unempfänglich für Gott trotz des Versunkenseins in den Götzendienst. Das ist aus dem Buch des Propheten Jona zu sehen, der die Leute von Ninive zwar verachtete und hasste, so dass sich der ihm befohlenen Botschaft an sie entziehen wollte, dessen Bußruf in Ninive dann aber vollen Erfolg hatte. Wodurch haben letzten Endes die Assyrer ihre Weltherrschaft eingebüßt? Ob nicht der selbstherrliche Stolz des assyrischen Großkönigs die Hauptschuld daran gehabt hat? Der hat bei der Belagerung Jerusalems zur Zeit des frommen Königs Hiskia und des Propheten Jesaja den lebendigen Gott gehöhnt und unter seine Götzen heruntergesetzt. Darum ist ihm die Eroberung Jerusalems misslungen, und Assyrien wurde reif zum Sturz.

Warum Babel fiel

Wodurch wurde B a b e l zum Sturz reif? Nicht schon durch Nebukadnezar, sondern erst durch seinen Sohn und Nachfolger Belsazar. Der hatte, wie es ihm Daniel ins Gesicht hinein gesagt hat, die Taten Gottes an seinem Vater gesehen und war ebenso Zeuge von der Demütigung seines Vaters durch den lebendigen Gott. Er hat sich aber nicht gescheut, bei jenem Königsmahl die aus dem Tempel in Jerusalem geraubten heiligen Gefäße zum Saufen zu verwenden, und dabei samt der ganzen geladenen Gesellschaft Loblieder auf seine Götzen zu singen. Auf diese Weise wurde das Maß voll. Nun erschien an der getünchten Wand jene geisterhafte Hand, die das Mentekel schrieb und die den Übergang der Weltherrschaft an die Meder und Perser ankündigte.*

Anmerkung 28:

Woran die Völker fallen
*"Gerechtigkeit erhöht ein Volk, - aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Spr 14:34). Das ist einer der Grundsätze der göttlichen Weltregierung. Das Fahrenlassen der Gottesfurcht ruiniert nicht nur das E i n z e l leben, sondern auch ganze V ö l k e r. Und wenn die F ü h r u n g eines Volkes auf diesem schlimmen Weg vorangeht, ja diesen Weg im eigenen Volk fördert, oder gar durchzusetzen versucht, dann führt sie nicht nur über kurz oder lang ihren eigenen S t u r z herbei, sondern zieht ihr V o k mit in den Sturz hinein. Es wäre von Wert, die europäische Geschichte der letzten 400 Jahre unter diesem Gesichtspunkt zu durchforschen. Die Loslösung vom lebendigen Gott hat erschütternde Folgen, selbst dann, wenn bis zu einem gewissen Grad noch F o r m e n der Frömmigkeit festgehalten werden. Auf der anderen Seite ist es wohl möglich, dass sogar Weltmäche, deren Handeln durchaus nicht immer dem Willen Gottes entspricht, trotzdem durch Gottes Regierung viel Segen und einen weiten Umfang und eine lange Dauer ihrer Weltgeltung erhalten, wenn sie im Innern Frömmigkeit, christliche Sitte und Gottesfurcht schätzen und schützen.

Warum das Perserreich längeren Bestand hatte

Warum wurde dem persischen Reich - das zuerst mit Medien noch zusammengehörte - durch Gottes Regierung eine längere Dauer zugebilligt, obwohl auch dieses Reich wie alle Weltmächte einen unheimlichen Hintergrund hatte? Nicht umsonst ist ja in Dan 10:13 von den Kämpfen die Rede, welche die gute Geisterwelt mit dem unsichtbaren „Fürsten“ des Perserlandes auszufechten hatte. Es mögen zwei Gründe gewesen sein. Der Hauptgrund war die verhältnismäßig freundliche Haltung, welche die Herrscher dieses Reiches gegenüber dem Gottesvolk einnahmen. Der Perserkönig Cyrus war es, der bald nach der Eroberung Babels den Gefangenen die Heimkehrerlaubnis gab und den Bau des Tempels gestattete. In der Folgezeit, etwa 80 Jahre nachher, hat ein anderer Perserkönig, Artaxerxes, den Esra mit weitgehenden Vollmachten für sein Volk nach Jerusalem entsandt und 13 Jahre danach seinen Mundschenken, den Nehemia. Diese beiden Männer waren in Gottes Hand die Werkzeuge zur Festigung und Reinigung des Volkes und zur Wiederherstellung Jerusalems.*

Anmerkung 29:

Das Ergehen der Völker durch ihre Beziehung zu Israel
*Die Art, wie die Völker und die Weltmächte zum Volk Israel Stellung genommen und es behandelt haben, ist kein unwichtiger Erklärungsgrund für ihr e i g e n e s Ergehen. Zwar ist es richtig, dass Gottes Regierung das erstberufene Volk nach der Ablehnung des Evangeliums auf die Seite gestellt, und seinen Gang in die Völkerwelt fern von der Heimat verfügt hat. Ebenso ist es richtig, dass diesem Volk, bis auf verhältnismäßig wenige Einzelne, die Augen für seinen eigentlichen König noch nicht aufgegangen sind, und dass es weithin sich in einer Weise mit den Gütern dieser Welt und Zeit befreundet hat, die nicht im Einklang steht mit seiner göttlichen Berufung. Aber verstoßen ist dieses Volk n i c h t, und seine Berufung zu seinem neuen und eigentlichen Dienst in der Völkerwelt wird noch erfolgen. Es steht einmal in einer prophetischen Schriftstelle (Sach 12:2.3), dass Gott Jerusalem sie zum Taumelbecher für alle Völker machen wolle, und ebenso zu einem Laststein, an dem sich die zerschneiden müssten, die ihn wegheben wollten. Es wäre von Wert, die Geschichte der letzten zwei Jahrtausende unter diesem Gesichtspunkt zu durchforschen. Der Weg, den das Volk Israel in dieser Zeit zu gehen hatte, war neben vielem Einfluss, den es ausübte im Kleinen und Großen, ein schmerzvoller Weg. Es hat durch lange Zeiten hindurch unter europäischen Völkern namenlos glitten, am schmerzvollsten im letzten Jahrzehnt, leider inmitten unseres deutschen Volkes. Die Frage darf wohl ernsthaft erwogen werden, warum der letzte Weltkrieg für Deutschland dieses Ergebnis gehabt hat. Ein Grund wurde früher schon geltend gemacht, nämlich der, dass es den Weg politischer Größe und Erhebung ging, statt seine eigentliche Berufung im Dienste Gottes, zur Versündigung an demselben, mindestens den gleichen Anteil an dem furchtbaren Ergehen Deutschlands in der Gegenwart hat? Es ist wohl möglich, dass in Gottes Augen die letztgenannte Versündigung sogar noch schwerer gewogen hat.
In früheren Zeiten waren es andere Völker, unter denen das jüdische Volk gelitten hat. Beispielsweise wurden sie in Spanien äußerlich und noch mehr innerlich gepeinigt, um sie zum kirchlichen Christentum zu zwingen. Ob nicht der Niedergang der einstigen Weltstellung Spaniens eine Hauptursache in der genannten Versündigung hat; nicht eine unmittelbare, aber eine durch Gottes Fügung bewirkte?
Umgekehrt: ob nicht die britische und amerikanische Weltstellung wenigstens zum Teil dadurch zustande kam und erhalten blieb, weil die Juden in diesen Ländern eine geachtete Stellung einnehmen konnten? Die beiden Weltmächte sind es gewesen, die im Gefolge des ersten Weltkrieges den Weg Israels zum Land der Väter wieder freigemacht haben. Aus welchen Beweggründen heraus sie das getan haben, das ist zwar nicht nebensächlich, aber in Gottes Augen nicht ausschlaggebend. Das Volk Israel s o l l einmal nach Gottes Rat wieder aus allen Völkern in das verheißene Land heimdürfen. Wer ihm dazu behilflich ist, der geht in den Linien dieses Planes Gottes.
Im ersten Weltkrieg war Deutschland durch sein Bünndnis mit der Türkei genötigt, gegen die Freigabe Jerusalems und des Heiligen Landes zu kämpfen. Es ist merkwürdig, in welcher Reihenfolge die damaligen Verbündeten gestürzt sind: Türkei, Bulgarien, Österreich, Deutschland. Ob das Zufall war? Wahrscheinlich ist es, dass es Gott so gefügt hat im Rahmen seines Reichsplans.
Der letztere wird einmal auch zu dem Ergebnis führen, dass die Araber das Heilige Land schließlich den Juden freigeben müssen. Wohl können sie es nach dem n a t ü r l i c h e n Recht als i h r Land beanspruchen, weil sie schon seit 1300 Jahren dort ansässig sind. Aber das Recht Israels auf das Heilige Land ist ä l t e r als der arabische Besitz desselben, und zudem ist das Recht Israels auf Palästina g ö t t l i c h bedingt und verankert. Denn in dieses Land ist einst der Stammvater dieses Volkes durch Gott geführt worden, und ihm und seinem Volk ist es als Erbe verheißen worden, als die Stammväter noch Fremdlinge dort waren. Dass es das Land hat räumen müssen und in die Weiten der Völkerwelt zerstreut worden ist, das hängt mit dem Gericht Gottes über seine Versündigung an seinem König Jesus und am Evangelium zusammen. Aber dieses Gerichtsurteil besteht nur so lange, wie Israel auf dieser selbstgewählten falschen Bahn verharrt. Wenn es sich dagegen auf Gottes Bahn wieder zurückfindet, indem es sich die Augen für seinen König öffnen lässt, dann wird das Gerichtsurteil Gottes wieder aufgehoben, und Israels altes, ursprüngliches Recht auf sein Land tritt wieder in Kraft..... Die Art und Weise wie dies alles vor sich gehen wird, mag wohl - was menschlich gesehen und beurteilt - nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Weltgeschehen bedeuten, aber im Licht Gottes betrachtet ist dieses Geschehen in einem Winkel der Welt wahrscheinlich wichtiger als das große sogenannte Weltgeschehen. Es wird gut sein, in der Folgezeit den Gang des Geschehens im Heiligen Land und im Orient überhaupt, nicht aus den Augen zu lassen. Denn dorthin wird die Weltgeschichte zurückkehren.

Der andere Grund, der vielleicht mitgewirkt hat, liegt auf einem anderen Gebiet. Als die Herrschaft auf die Meder-Perser überging, tat die Weltgeschichte einen Ruck vorwärts. Die Vorherrschaft in der Welt ging nun von den Semiten über auf die Japhethiten. Denn Völker aus der japhethitischen Völkergruppe sind es gewesen, die nacheinander im Weltgeschehen Vormachtstellung errungen und eingenommen haben; zuerst die Perser, dann die Griechen uns endlich die Römer. Als die Perser zur Weltherrschaft gelangten, war die griechische und römische Geschichte schon längst im Gange. Aber sie verlief noch in kleinem Rahmen. Die alte griechische Geschichte bis auf Alexander den Großen war erst V o r geschichte; ebenso der lange Werdegang Roms bis zum Aufkommen des Kaisertums. Nun wird man vielleicht sagen dürfen, dass von den drei Völkern die Perser dem Reich Gottes am nächsten gestanden sind. Sie wussten etwas von dem, was die Bibel Sünde nennt. Ihnen war auch bekannt, dass es eine unsichtbare Macht gibt, wenngleich sie sich darin irrten, dass sie meinten, die letztere stehe n e b e n der Macht des guten Gottes, nicht in der U n t e r ordnung unter ihm. Es ist wohl möglich, dass gerade diese Reste aus der Zeit vor dem Aufkommen des Heidentums es gewesen sind, welche die freundliche Haltung des Perserreichs zum Gottesvolk herbeigeführt haben. Aber dem Machtrausch sind auch die Perserkönige erlegen. Und es ist merkwürdig, dass gerade das griechische Volk, nach dem sie ohne Grund griffen, es gewesen ist, das nachher unter Alexander dem Großen zum vernichtenden Gegenschlag gegen sie ausholte.

Die Perser gehören zum östlichen Teil der japhethischen Völkergruppe, die im großen und ganzen mit den Indogermanen zusammenfällt.*

Anmerkung 30:

Raum und Geschichte der japhetitischen Völkergruppe
* Die Perser waren nicht das einzige Volk, das den ö s t l i c h e n Teil der Japhethiten ausmacht. Noch weiter östlich, in Indien, ist ebenfalls ein Ausläufer der Japhethiten, der bereits vor der persischen Zeit sich die hamitische Urbevölkerung Indiens dienstbar gemacht hatte. Im Nordteil Europas gingen in jener Zeit Völkerverschiebungen von großem Ausmaß vor sich, von denen wir im einzelnen wenig Kunde haben. Diese Verschiebungen währten noch mehrere Jahrhunderte nach Beginn unserer Zeitrechnung. Ihren letzten Teil nennt man Völkerwanderung. Erst durch die letztere, und nach der letzteren nahmen die europäischen Völker den Wohnraum ein, den sie in der Hauptsache heute noch innehaben. Einzelne Verschiebungen fanden auch noch im Mittelalter statt, ähnlich wie eine große Verschiebung der Bevölkerung im östlichen Deutschland eines der Ergebnisse des zweiten Weltkriegs ist.
Bei der japhethitischen Völkergruppe muss man also einen a s i a t i s c h e n und e u r o p ä i s c h e n Teil unterscheiden. Aber sie hat seit einigen Jahrhunderten auch einen Ableger in A m e r i k a. Dessen heutige Bevölkerung besteht zum größten Teil aus Nachkommen fast aller europäischen Völker, die nach der Wiederentdeckung Amerikas im Jahr 1492 als Eroberer und Einwanderer nach Amerika kamen, und die dort ansässigen hamitischen Völker ausrotteten oder verdrängten bis auf kleine Reste. Ein weiterer Teil der Bevölkerung Nordamerikas, nämlich die dortigen Neger, sind die Nachkommen von Sklaven, die aus Afrika dorthin verschleppt wurden.

Als die Zeit der persischen Vorherrschaft zu Ende ging, wanderte der Schwerpunkt des Weltgeschehens zum westlichen Teil dieser Gruppe hinüber, die in Europa ansässig ist. Der größere Teil Europas, nämlich der mittlere, nördliche und östliche, lag damals noch nicht, oder kaum im Gesichtskreis der alten Kulturvölker. Aber im Südteil Europas, am Mittelmeer hatten sich bereits zwei neue Mittelpunkte herausgebildet, nämlich das kleine Griechenland und Rom, das damals im Begriff stand, sich Italien als sein eigentliches Heimatland einzugliedern. Von den Persern ging die Vorherrschaft zunächst zu den Griechen über und von denen dann auf Rom. Als der Übergang der Vorherrschaft nach Rom Wirklichkeit wurde, hatte sich diese gewaltigste Macht des ganzen Altertums die meisten Länder um das Mittelmeer bereits angegliedert, auch den Nordteil Afrikas und Spanien; die beiden letztern nach einem harten Kampf mit den Puniern (Phöniziern), die aus Hams Geschlecht waren.

Den Ü b e r g a n g der Vorherrschaft von den Babyloniern auf die Perser hat Daniel noch selbst erlebt. Den V e r l a u f der persischen Vorherrschaft einschließlich dessen Griffes nach Griechenland hat er im Gesicht geschaut. Aber ebenso erhielt er im Gesicht Kunde vom Aufkommen des griechischen und nachher des römischen Reichs. Im Traum Nebukadnezars waren die beiden letzteren durch den kupfernen Leib und die eisernen Schenkel angedeutet. In seinem eigenen Gesicht über den Gang der Weltreiche in Dan 7 sah er sie unter dem Zeichen des vierköpfigen Panthers und der unheimlichen Bestie, die mit keinem sonst üblichen Tiernamen benannt werden konnte. Er sah auch bereits noch, ohne den Namen zu wissen, den Begründer des griechischen Reiches in Gestalt des Ziegenbocks mit dem spitzigen Horn, der bei seinem Heraneilen kaum den Boden berührte und den Widder (das persische Reich) zu Boden stieß.*

Anmerkung 31:

Welt r e i c h e und Welt h e r r s c h e r
* In der Deutung seines Traumbildes hat Daniel dem König Nebukadnezar im Blick auf das goldene Haupt gesagt: das bist d u ! Daraus geht hervor, dass die Reiche und ihre Herrscher in nahem Zusammenhang miteinander gesehen werden müssen. Daniel hätte ebensogut sagen können: das goldene Haupt ist das babylonische W e l t reich. Man kann sagen: die Reiche und ihre Herrscher sind Wechselbegriffe, d.h. Begriffe, die gegeneinander ausgetauscht werden können. Denn das Reich ist repräsentiert durch seinen König und umgekehrt. In dieser Hinsicht hat Alexander der Große das griechische Reich repräsentiert, und später die römischen Kaiser die römische Vorherrschaft. Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist zum Verständnis der Offenbarung des Johannes nicht unwichtig. Dort ist in Offb 17 von dem siebenköpfigen Tier die Rede. Was ist mit den K ö p f e n des Tieres gemeint? Es sind zwei Deutungen möglich: entweder die einzelnen Weltmächte, wie sie sich beim Versuch, eine einheitliche Völkerzusammenfassung ohne Gott zustande zu bringen, ablösten, o d e r die jeweiligen Herrscher; aber ebensogut ist es möglich, dass b e i d e gemeint sind. Das gleiche gilt von der Deutung dessen, was im letzten Buch der Bibel das „Tier“ genannt wird. Es ist offensichtlich, dass an einigen Stellen unter dem „Tier“ eine Person verstanden werden muss, nämlich der Herrscher des letzten, des antichristlichen Reichs, also der Antichrist s e l b e r, den Paulus (2Thes 2:7) „den Menschen der Sünde“ nennt. Ob aber a l l e Stellen, wo vom „Tier“ die Rede ist, von einer P e r s o n verstanden werden dürfen? Der letztgenannte Gedanke hat auch zu irrigen Auslegungen der Weissagungen geführt, z.B. zu der Meinung, unter den sieben Häuptern seien die ersten sieben römischen Kaiser zu verstehen. Es wäre von Wert, bei der Auslegung der Offenbarung des Johannes ernstlich zu prüfen, ob die jeweiligen Aussagen vom Tier und seinen Häuptern persönlich oder sachlich zu verstehen sind.
Im Kaisertum hat das Römerreich nach einer langen Vorgeschichte seine Vollgestalt erhalten. Der Begründer dieses e i g e n t l i c h e n Römerreichs war der erste Kaiser Augustus. Unter dessen Herrschaft ist der König des Gottesreichs, nämlich Jesus, durch seine Geburt gliedmäßig in die Geschichte des auserwählten Volkes, und in die Menschheit eingefügt worden. Er war der kleine Stein, den Nebukadnezar von oben herunterrollen sah, der das stolze Standbild an seinen Füßen traf und zum Umsturz brachte. Die Schenkel der Füße des Bildes haben das römische Weltreich dargestellt. Gerade als dieses Reich unter seinem ersten Kaiser in seine Vollreife eintrat, begann die Zeit des Gottesreiches, zunächst noch in unscheinbarer Gestalt. Der König und das Reich Gottes kamen von o b e n, ganz entsprechend dem, was Nebukadnezar am herabrollenden Stein gesehen hatte. Damals ist das Weltreich noch nicht zusammengestürzt. Aber der Augenblick des Zusammenbruchs aller Reiche dieser Welt kommt noch. Dieser Zusammenbruch und der Übergang der Herrschaft an das Reich Gottes wird erfolgen, wenn Jesus, dessen Zeichen damals die Krippe war und bald darauf das Kreuz, wiederkommt mit der Krone. Dann wird in Erfüllung gehen, was Offb 11:15 steht: „Nun sind die Reiche dieser Welt unseres Gottes und seines Christus geworden, und er wird regieren in Ewigkeit."

Die Wanderung des K a i s e r t i t e l s

In diesem Zusammenhang, wo u. a. auch vom römischen Kaisertum die Rede war, sei darauf hingewiesen, dass es „Kaiser“ gegeben hat bis zur Gegenwart. Dieses Wort darf nicht nur als ein T i t e l verstanden werden. Es deutet vielmehr an, dass das römische Reich mit dem Sturz des w e s t römischen Kaisertums zur Zeit der Völkerwanderung noch nicht zu Ende gegangen ist. Ein o s t römisches Kaisertum gab es ja bis kurz vor der Reformationszeit, bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Die mittelalterliche Geschichte des Abendlandes war bestimmt durch den Widerstreit zwischen dem d e u t s c h e n Kaisertum und dem Papsttum. Das Kaisertum des Mittelalters war nicht nur der Idee nach, sondern tatsächlich eine Erneuerung und Fortsetzung des altrömischen Kaisertumss. Das Kaisertum der Habsburger ist erst durch Napoleon beseitigt worden. Das Ergebnis des 70er Krieges war die Errichtung des deutschen Kaisertums. In der letztgenannten Übernahme des Kaisertitels war kein Anspruch auf Weltherrschaft enthalten. Aber außerhalb Deutschlands ist es, vielleicht in halb unbewusster Erinnerung an das Kaisertum des alten römischen Reichs, als Weltherrschafts a n s p r u c h empfunden worden. Es wäre eine Tragik der neueren Geschichte, wenn die Benennung des Oberhaupts Deutschlands als „Kaiser“ das Misstrauen gegen Deutschland mitbegründet hätte, als wolle es die Welt erobern; wenn also gerade dieser Titel einer der Gründe gewesen wäre, die zum ersten Weltkrieg geführt haben.
Dass es im Osten und Westen Europas ebenfalls ein Kaisertum gegeben hat in Anlehnung an den Titel des alten römischen Weltreichs, das ist ersichtlich an Napoleon I. und III. und an dem Zarentum Russlands. Denn „Zar“ ist nur die russische Form des alten Wortes „Cäsar“ oder „Kaiser“. Die russischen Kaiser haben sich als die rechtmäßigen Nachfolger des oströmischen Kaisertums betrachtet. Dessen Sitz war Konstantinopel. Gewiss hat das frühere Russland den Besitz Konstantinopels auch aus politischen und wirtschaftlichen Gründen begehrt; aber ein romantischer (träumerischer) Einschlag war in diesem Verlangen ebenfalls enthalten. Russland fühlte sich selber als Nachfolger Ostroms.

Die e u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e der letzten zwei Jahrtausende

Im vorstehenden wurde der Wanderung des K a i s e r t i t e l s durch die europäische Geschichte in zwei Jahrtausenden nachgegangen. Ob nicht die g a n z e Geschichte Europas im genannten Zeitraum als Fortsetzung und Entfaltung des römischen Reichs verstanden werden muss? Zuerst hat das römische Reich nur die Länder um das Mittelmeer erfasst - auch in diesem Umfang ein Reich von gewaltiger Größe. Es schien, als sei es unter dem Ansturm der Germanen und später der Araber zusammengebrochen. Es war ein Zusammenbruch, aber kein vollständiger. Denn im Zusammenbruch hat das alte römische Reich gesiegt, wenigstens im Abendland. Denn es hat die germanische Welt in seinen B a n n gezogen, ja sich eingegliedert. Es hat sich entfaltet zu einem größeren Ganzen, dem man den Namen „Europa“ gegeben hat. Die beiden Teile des alten römischen Reichs, wie sie sich bald herausbildeten, mit dem überwiegend lateinischen Westen und dem überwiegend griechischem Osten, und die dann auch politisch ihre Mittelpunkte erhielten in Rom und Konstantinopel, werden wohl die beiden Schenkel im Traumbild Nebukadnezars sein. Noch im Mittelalter bildeten die westeuropäischen Völker trotz ihrer werdenden staatlichen Besonderheit noch eine geschlossene Einheit unter einem politischen und geistigen Regenten, dem Kaisertum und dem Papsttum, die bezeichnenderweise beide Rom zum tatsächlichen und ideellen Mittelpunkt hatten, während das werdende russische Reich in innerer geistiger Verbindung stand mit dem griechischen Osten, weshalb bis auf den heutigen Tag die russische Kirche die „griechische“ nennt. Erst seit dem Ausgang des Mittelalters - man könnte als ungefähre Zeitangabe die Wende vom dreizehnten zum vierzehnten Jahrhundert nennen - ist die bis dahin verhältnismäßig geschlossene Welt Europas auseinandergegangen in eine Reihe von Volkstümern und Staaten. Ob das nicht dem Auseinanderehen der Füße des Standbilds in die zehn Zehen entspricht? Ob dabei der Nachdruck gerade auf die Zehnerzahl zu legen ist, ist fraglich.

Die S p r a c h zusammenhänge

Möglich ist es, dass der Eingang der slawischen und germanischen Völker in die griechische und römische Welt und die Vermischung der beiden Bestandteile, namentlich im Gebiet des Abendlandes, im Traumbild des Nebukadnezar durch die Vermengung von Eisen und Ton angedeutet ist. Im übrigen hat auch das Römer t u m und das Germanen t u m sich weitgehend miteinander verschmolzen. Ein Zeichen davon ist es, dass eine Reihe ursprünglich germanischer Völker ihre eigene Sprache aufgegeben hat, indem sie sich die herrschende Sprache des römischen Westens, nämlich das Lateinische aneigneten. Auf diese Weise ist in verhältnismäßig geringer Abänderung die italienische, französische, spanische und portugiesische Sprache entstanden. Auch die englische Sprache ist zum Teil lateinischen Ursprungs. Auf dem Weg über die letztere hat die Sprache Roms die Welt erobert. Im Osten Europas hat sich das Rumänische aus dem Lateinischen herausgebildet. Dieses Weiterwirken der Sprache des alten Roms ist in seiner Art ebenfalls ein Zeichen dafür, dass das vierte Reich, von dem Dan 2 und Dan 7 die Rede ist, keine nur v e r g a n g e n e Größe ist, sondern bis in die G e g e n w a r t reicht. Bis zu einem gewissen Grad könnte man sagen: unter dem Sammelnamen „Rom“ kann man die ganze europäische Geschichte der letzten zwei Jahrtausende zusammenfassen. Deutschland war im Mittelalter in diese Geschichte sehr deutlich eingeflochten. Es schien, als ob es in der neueren Zeit innerhalb Europas eine Sonderstellung einnehme. Aber durch den Ausgang des ersten und zweiten Weltkriegs ist es wieder völlig in diese Geschichte hineinverflochten. - Auf das Ganze gesehen darf man sagen: das ist G o t t e s Hand in der Geschichte. E r durchwaltet nicht nur das Geschehen des kleinen Einzellebens, auch nicht nur das Geschehen der einzelnen Völker, sondern ebenso die großen Geschichtszusammenhänge. Gewiss, eine a n d e re e Hand ist in der europäischen Geschichte wie in der ganzen Weltgeschichte ebenfalls wahrzunehmen, nämlich die Hand des Fürsten dieser Welt. Aber auch dessen Wirken ist umfasst von der Regierung Gottes. Ja, letzten Endes muss er, obwohl er ein dem Plan Gottes entgegengesetztes Ziel verfolgt, doch ein dienendes Werkzeug Gottes sein, zur schließlichen Herbeiführung des Reiches Gottes unter dem wiederkommenden König des Reichs, nach dem schlimmen Ausgang des jetzigen Zeitlaufs, den die Völker in banger Erwartung ahnen, obwohl sie nicht anders können, als ein neues Zeitalter des Glücks zu erwarten nach den seitherigen großen Weltkatastrophen.

Das Besondere des g r i e c h i s c h e n Reichs

Schon die bisherigen Weltreiche beziehungsweise ihre Herrscher - am wenigsten die Perser - versuchten ihre Vorherrschaft über die Völker geistig zu untermauern, in der Vorstellung, dass die Macht der Waffen und der Politik nicht genüge, um ihre Vorherrschaft auf die Dauer zu sichern. Ein solcher Versuch lag wahrscheinlich der Errichtung der Kolossalstatue zugrunde, von der Dan 3 berichtet. N e b u b u k a d n e z a r wollte durch die Ehrung d i e s e s seines „Gottes“ die Völker seines Reiches auch g e i s t i g zusammenschließen. Das g r i e c h i s c h e Weltreich, das in einem ungeheuer raschen Siegeslauf zusammenerobert wurde, bedurfte eines solchen geistigen Kitts noch eher, um die durch Waffengewalt zusammengebrachten Völker als etwas Ganzes beieinander zu halten. Deshalb dachte Alexander der Große an eine geistige Verschmelzung zwischen dem Westen und dem Osten. Er ließ dem Osten zwar seine religiöse Eigenart. Aber er wollte sie verjüngen durch das geschmeidige Wesen des Griechen t u m s oder des griechischen G e i s t e s. Vielleicht ist auf diese geschmeidige Art des Griechentums hingewiesen, wenn dem dritten Weltreich sein Merkmal im Kupfer gegeben wurde, das im Unterschied vom harten Eisen des Römerreichs weich, biegsam, dehnbar, leicht anpassungsfähig ist. Zwar hat auch das Griechentum seine eigenen Götter; aber es war bereit, den bezwungenen Völkern i h r e Götter zu lassen. In diesem Stück war es tolerant (duldsam). Alexander und überhaupt das Griechentum hat einen anderen Kitt zum Zusammenhalten der Völker verwendet, indem es den M e n s c h e n zum Maß aller Dinge machte, und den Völkern eine schöne M e n s c h l i c h k e i t (Humanität) als Ideal hinstellte, und dies auf allen Lebensgebieten: auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, des Lebensgefühls und der ganzen Lebenshaltung. Es war zwar keine Zügellosigkeit, die das Griechentum den Völkern beizubringen suchte, aber die Freiheit von allem Hemmenden und von allen Bindungen versprach es den Völkern zu vermitteln.

Das Hauptmittel zu Einführung der Völker in dieses griechische Wesen war die griechische S p r a c h e in ihren biegsamen und inhaltsreichen Ausdrücken und Formen und in ihrem reichhaltigen Gefüge. Die griechische Sprache war es, die Alexander den Völkern des O s t e n s als Morgengabe überbrachte. Diese Sprache hatte zu Alexanders Zeit bereits den W e s t e n erobert und war den dortigen Völkern vielfach geläufiger als die Sprache ihres Herrenvolks, nämlich das Lateinische. Aber das Besondere war, dass nun auch der ganze Osten mit der griechischen Sprache bekannt wurde. Er hat den Zauber dieser Sprache in sich hineingesogen, und mit ihr wurden den Völkern griechisches Wesen und griechischer Geist eingehaucht. Nicht als ob den Völkern ihre eigene Sprache genommen worden wäre. Das Aramäische blieb die Verkehrssprache im asiatischen Orient. Aber daneben eigneten sich weite Volkskreise noch das Griechische an, und wurden auf diese Weise d o p p e l sprachig. So wurde das Griechische zur W e l t sprache. Es hatte die gleiche Weltgeltung wie im Mittelalter das Lateinische und in der Gegenwart das Englische. Zur Zeit des Heilands verstanden nicht nur die im römischen Reich ansässigen Israeliten diese Sprache, sondern ebenso weite Volkskreise im Heiligen Land selber. Es ist höchst wahrscheinlich, dass auch der Heiland diese Sprache verstanden hat, wenngleich er im Umgang mit seinem Volk die einheimische aramäische Sprache verwendet hat, z. B. bei der Auferweckung des Töchterleins des Jairus und bei der Heilung des Taubstummen. Ein Zeichen der überragenden Bedeutung der griechischen Sprache zur Zeit des Heilandes ist die Überschrift über dem Kreuz, welche den Satz: „hier hängt der Judenkönig“ in drei Sprachen wiedergab: in der A m t s sprache des Reichs, nämlich auf lateinisch, in der damaligen W e l t sprache, nämlich auf griechisch, in der üblichen V e r k e h r s sprache des Ostens; nämlich auf hebräisch, beziehungsweise auf aramäisch.

Es war tatsächlich von großer Wichtigkeit, dass auch Israels Bibel, nämlich das Alte Testament in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt in das Griechische übersetzt wurde. Man nennt diese Übersetzung die sogenannte Septuaginta. Auf diese Weise wurde das Alte Testament schon vor der Zeit des Heilands und der Apostel im ganzen Gebiet der griechischen Umwelt bekannt.

Die Bedeutung des Griechentums und der griechischen Sprache erhellt auch daraus, dass das ganze Neue Testament von Anfang an in griechischer Sprache geschrieben wurde. Paulus selbst hat die ganze nichtjüdische Welt kurzerhand „Griechen“ genannt, im Unterschied zu den „Barbaren“, d. h. den Völkern, die außerhalb des griechischen Kulturkreises lebten. Darum hat er im Römerbrief davon gesprochen, dass das Evangelium für Juden und Griechen sei und ebenso für Griechen und Nichtgriechen. Er selber sei der Schuldner aller, der ihnen das Evangelium zu bringen schuldig sei.

Alexander war ein Eroberer, wie es wenige gegeben hat. Aber seine Bedeutung für den i n n e r e n Gang der Weltgeschichte war größer, sofern er der Wegbereiter des griechischen G e i s t e s gewesen ist. Die p o l i t i s c h e Größe seines Reiches hat dessen Begründer nicht lange überlebt. Nach seinem frühen Tod im Alter von 33 Jahren fiel es sofort auseinander in die schon von Daniel geschauten vier Teile. Aber einer der Großen der Weltgeschichte ist er gewesen, und neben Nebukadnezar, Cyrus, Augustus und Konstantin zu stellen. Von den ursprünglichen vier Teilen des griechischen Reiches haben sich zwei längere Zeit erhalten, nämlich Syrien und Ägypten, im Danielbuch vom Standort des Heiligen Landes aus das Nord- und Südreich genannt. Beide Reiche waren vom griechischen Geist durchtränkt, Ägypten fast noch mehr als Syrien. In Ägypten ist die griechische Übersetzung des Alten Testamens entstanden. Dort wuchs, namentlich in der von Alexander dem Großen gegründeten, und nach ihm genannten Hauptstadt Alexandria, ein kräftige jüdische Diaspora heran, wie es vorher schon eine solche in Babylonien gab und später eine im römischen Reich.*

Anmerkung 32:

Das Judentum im griechisch-römischen Kulturkreis
* In welchem Maß die Zeit der babylonischen Gefangenschaft nicht nur für die Weltgeschichte, sondern ebenso für das Volk Israel eine Wende bedeutet hat, das ist u.a. auch daraus ersichtlich, dass dieses Volk dadurch zu einem W e l t volk geworden ist, genauer gesagt zu einem in der Welt verbreiteten Volk, zu einem Volk innerhalb der anderen Völker und zwischen d e n s e l b e n. Ein solches war es v o r der Gefangenschaft noch nicht. Sein Lebensraum war bis dahin das verhältnismäßig kleine kleine Heilige Land. Die Wegführung in die assyrische und babylonische Gefangenschaft hat z w a n g s weise die oben genannte Änderung herbeigeführt. Dazu kam aber schon im Anschluss an die babylonische Gefangenschaft eine f r e i w i l l i g e Internationalität Israels. Denn der in der Zeit der babylonischen Gefangenschaft innerlich lebendig gewordene Teil Israels ist zwar in das Land der Väter zurückgekehrt; aber der Hauptteil blieb in Babylonien z u r ü c k, ohne dort im Heidentum zu versinken oder in anderen Völkern aufzugehen. Ein Zeuge von diesem babylonischen Judentum ist das Buch Ester. Dass es auch in der babylonischen Diaspora noch n a c h der Gefangenschaft Israeliten ohne Falsch gegeben hat, das wird deutlich an Männern wie Esra und Nehemia. Diese sind aus den in Babel Zurückgebliebenen herausgewachsen; und sie waren es, die ein schwaches Jahrhundert nach der babylonischen Gefangenschaft, der neuen Gemeinde in Jerusalem aus ihren innerlich und äußerlich zerfahrenen Verhältnissen herausgeholfen haben.
Vielleicht werden wir durch eine kurze Bemerkung im ersten Petrusbrief an diese auch zur Zeit Jesu und der Apostel vorhandene jüdische Diaspora erinnert. Dort findet sich in 1Petr 5:13 ein Gruß von den Christen in B a b y l o n an die kleinasiatische Christenheit, an die der erste Petrusbrief adressiert ist. Es ist oft vermutet worden, das dort genannte „Babylon“ sein ein absichtlich verwendeter Deckname für R o m, und Petrus habe sich dementsprechend damals in Rom aufgehalten. Es ist aber wohl möglich, - und der beste Kenner der neutestamentlichen Umwelt, Schlatter hält das sogar für wahrscheinlich, - dass das Wort „Babylon“ im ersten Petrusbrief w ö r t l i c h zu verstehen ist. Im letzteren Fall ergeben sich aus dieser Stelle manche Einblicke, die im folgenden kurz angedeutet werden sollen. Petrus war zunächst der Evangelist der J u d e n. Als aber seine Aufgabe innerhalb der Judenschaft P a l ä s t i n a s in der Hauptsache beendet war, kann er es für seine Pflicht angesehen haben, der großen Judenschaft in den ö s t l i c h e n Ländern den Namen des Herrn Jesus zu bringen. Wenn er von der dortigen Christenheit Grüße bestellen konnte, dann wird darin wohl ein Zeichen gesehen werden dürfen, dass seine Arbeit unter den ö s t l i c h e n Juden nicht umsonst war.
Dem h e i d e n christlichen Teil der Gemeinde hat er sich trotzdem nicht entzogen, entsprechend dem Befehl des auferstandenen Herrn: gehet hin und evangelisiert alle Völker (Mt 28:20). Aber b e g i n n e n musste er und seine Mitjünger bei seinem eigenen Volk. Der Übergang zur H e i d e n m i s s i o n war schwer. Aber Petrus hat diesen Übergang fertiggebracht. Er war als der erste unter den Zwölfen, der unter Leitung des Geistes Gottes das jüdische Vorurteil den Heiden gegenüber überwunden hat, als er in das Haus des römischen Offiziers in Cäsarea ging, und dem letzteren zum lebendigen Glauben behilflich war. Er ist es auch gewesen, der dann vor der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem die Gleichberechtigung der heidenchristlichen Gemeinde mit der judenchristlichen verteidigte und deren Anerkennung erreichte. Aber es ist kein Widerspruch gegen diese Haltung des Petrus, wenn er nachher zuerst zu der östlichen J u d e n s c h a f t gegangen ist, ehe er sich zu den „H e i d e n“ begab. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er s p ä t e r in Ausübung des Apostelberufs an den V ö l k e r n auch nach R o m kam, und dass Rom die Stadt war, wo er entsprechend der Ankündigung des Herrn (Joh 21:18.19) den Kreuzestod erlitt.
Die letzten Ausführungen waren nur als Illustration gemeint für die Tatsache, dass es im Osten eine jüdische „Diaspora“, d.h. eine Judenschaft in der Zerstreuung gegeben hat. Zu dieser ö s t l i c h e n Judenschaft gesellte sich später eine sehr große Diaspora in der Hauptstadt Ä g y p t e n s, nämlich in Alexandria. Dort entstand die erste Bibelübersetzung, nämlich die Wiedergabe des Alten Testaments in griechischer Sprache, und zwar schon in vorchristlicher Zeit. In die übrigen Provinzen des r ö m i s c h e n Reichs hat sich die Judenschaft ebenfalls bald verteilt, und zwar wieder in freiwilliger Weise. Sie scharte sich, namentlich in den Städten, um die Betsäle (Synagogen oder „Schulen“ genannt). Dort wurden ihre Glieder mit der Bibel bekannt. Diese Betsäle waren zugleich ein Anziehungs- und Treffpunkt für die Teile der heidnischen Umgebung, die am hergebrachten Götzendienst kein Genüge mehr fanden, und sich deshalb der Judenschaft ganz oder teilweise anschlossen. Im letzteren Fall werden sie in der Apostelgeschichte die „Gottesfürchtigen“ genannt. Im Lichte dieser weiten Verbreitung der Judenschaft weit über die Grenzen des Heiligen Landes hinaus, ist die halbhöhnische Frage der Juden zu verstehen, als Jesus auf dem Laubhüttenfest vor seinem Todesostern in Jerusalem zu ihnen sagte: „Ihr werdet mich suchen und nicht finden.“ Da fragen sie: „Wo will er denn hin? Etwa zur Diaspora unseres Volkes im griechischen Kulturkreis? Will er etwa dort unter den Griechen Mission treiben?“ (Joh 7:35).
In welchem Maß sich P a u l u s auf seinen Missionsreisen um die Juden in den römischen Provinzen gekümmert hat, das wurde schon erwähnt. Zwar war er der V ö l k e r missionar, aber daneben hat er seinem e i g e n e n Volk gedient; ja, er hat in den einzelnen Städten die Missionsarbeit an den Juden z u e r s t getan. Er hat es ja in Röm 1:14-16 ausgesprochen, dass er der Schuldner sei der „Griechen“ u n d Juden.

Israels Sammlung

Zur f r e i w i l l i g e n Zerstreuung kam später nach den beiden jüdischen Kriegen mit Rom um das Jahr 70 und 135 nach Christi Geburt eine mehr z w a n g s m ä ß i g e Zerstreuung.
Die Zerstreuung der Judenschaft unter der Völkerwelt ist geblieben bis auf den heutigen Tag. Aber längst ist das Heimweh nach dem Land der Väter in weiten Teilen dieses Volks wieder aufgewacht. Und seit dem Ende des ersten Weltkrieges gibt es dort wieder eine ansehnliche Judenschaft. Dass die seit 1300 Jahren im Lande ansässigen Araber sich mit allen Kräften und Mitteln gegen eine weitere jüdische Zuwanderung sperren, wurde an verschiedenen Stellen schon erwähnt. Trotzdem kann gesagt werden, dass die Zerstreuung des erstberufenen Gottesvolks zu Ende geht. „Ich will euch sammeln aus allen Ländern, dahin ich euch verstoßen habe“ (u.a. Jer 23:3) Die Voraussetzung hierfür wurde geschaffen durch den Ausgang des ersten Weltkriegs. Wie schon einmal erwähnt, ist es, vom göttlichen Standpunkt aus gesehen, wohl möglich, dass Deutschland den ersten Weltkrieg aus dem Grund verlieren musste, weil es das Bündnis mit der Türkei eingegangen war, welche die Judenschaft vom Heiligen Land fernhielt, und welche wegen ihres mohammedanischen Glaubens Palästina den Arabern lassen musste. Und doch musste der Zeitpunkt kommen, wo das Heilige Land für die Heimkehr Israels sich öffnete. Die Wendung im Heiligen Land ist a u c h eines der Kennzeichen, dass der jetzige Zeitlauf seinem Höhepunkt, und damit zugleich seinem Ausgang entgegengeht. Es mag wohl ein wechselvoller Weg sein, bis das Heilige Land nicht nur die anerkannte, sondern auch tatsächliche Heimstätte des erstberufenen Gottesvolks wird. Aber der Anfang dazu ist gemacht.

Antiochus Epiphanes

Die beiden genannten durch und durch griechisch bestimmten Reiche, nämlich Syrien und Ägypten, kämpften ein Jahrhundert lang um die Vorherrschaft. Auf dem Boden des Heiligen Landes, das gerade zwischen den beiden Parteien lag, wurden die Kämpfe größtenteils durchgefochten. Die frühere Isolierung des jüdischen Volkes hatte aufgehört. Nun wurde es mit dem griechischen Wesen bekannt. Ein Teil des Volkes schloss sich demselben auf, unter Hintansetzung seiner göttlichen Berufung und Besonderheit, und wurde auf diese Weise selber ein Wegbereiter zu dem großen Versuch des syrischen Königs Antiochus Epiphanes, das jüdische Volk v ö l l i g seiner göttlichen Berufung zu entkleiden, und es zu einem Glied des g r i e c h i s c h e n Kulturkreises zu machen. Letzten Endes war all dies das Ergebnis aus dem Lebenswerk des Weltherrschers Alexander des Großen, und Daniel hat es im voraus prophetisch gesehen. Davon ist bereits im achten und noch mehr im elften Kapitel seines Buches die Rede. Namentlich das Hin und Her der Kämpfe zwischen Syrien und Ägypten ist dort im voraus prophetisch wiedergegeben mit der ganzen Mischung von menschlichen Plänen und Ränken, von Hinterlist und Gewalt, von Schmeichelei und Terror, unter denen der ganze Orient annähernd 100 Jahre lang nicht zur Ruhe kam. S o also gebärdete sich der feine g r i e c h i s c h e Geist?! Das war die Kehrseite der schönen Menschlichkeit des Griechentums. Ja, auch die schöne „Menschlichkeit“ hat Hintergründe und Krallen! Nicht umsonst hat Daniel auch das feinsinnige griechische Reich unter dem Zeichen des R a u b tieres gesehen, und zwar in der Gestalt des Panthers. Dessen Merkzeichen ist nicht nur die Kraft und Schnelligkeit, sondern auch die geschmeidige und lauernde Art, welche ihre Opfer mit den Krallen fasst, und mit den Zähnen zermalmt. An dieser Vorausdarstellung Daniels kann man wahrnehmen, was Prophetie ist: nicht nur eine Enthüllung G o t t e s, sondern ebenso die Enthüllung des M e n s c h e n und des menschlichen Wesens, und die Aufzeichnung der verborgenen Linien, die sogar von einer „schönen“ und „moralischen“ M e n s c h l i c h k e i t hinüberführen zum s a t a n i s c h gewirkten und gebundenen Wesen und Wollen und Wirken.

Es ist kein Wunder, dass gerade aus dem G r i e c h e n t u m der v o r christliche „Antichrist“ herausgewachsen ist. Israel hatte den Beruf, der Wurzelboden des Gottesreichs und seines Königs zu sein. In der v o r babylonischen Zeit war es manchmal in Gefahr, dem massiven Heidentum zum Opfer zu fallen. Dass hinter dem letzteren mit seinem G ö t z e n dienst Dämonen lauern, das hat Paulus gezeigt (1Kor 10:20). Nun versuchte es der Fürst dieser Welt auf dem Weg der schönen, glänzenden „M e n s c h l i c h k e i t“ , wie sie im Griechentum verkörpert war und ist.

Das Werkzeug hierfür fand er in dem schon genannten Antiochus. Der hatte den Beinamen „Epiphanes“, zu deutsch, der „Erlauchte. Es ist aber bezeichnend, dass die Zeitgenossen des Antiochus diesen Beinamen mit einer leichten Änderung in den Ausdruck „Epimanes“ verwandelten, zu deutsch: der „Rasende“. Ohne es zu wissen und zu wollen, legten sie mit dieser Benennung die unheimlichen Wurzeln bloß, aus denen das Planen und Wirken dieses Mannes erwachsen ist.*

Anmerkung 33:

Der Werdegang des Antichrists
*Jeder Mensch hat einen W e r d e g a n g, und zwar kann man einen äußeren und einen inneren unterscheiden. Der äußere gibt die in die Augen fallenden Umstände und Geschehnisse des Lebensganges an, z.B. Herkunft, Geburt, Zeit und Ort, einzelne Erlebnissen und Taten und schließlich Ort und Datum des Sterbens. Nebensächlich für einen Lebensgang sind alle diese Dinge nicht. Aber letzten Endes sind es doch A u ß e n dinge, die nur den R a h m e n eines Menschenlebens darstellen. Wichtiger als die äußeren Lebensumstände ist der i n n e r e Werdegang eines Menschen. - Bis zu einem gewissen Grad gilt das alles auch vom Werdegang der V ö l k e r. Ein Volk ist noch nicht verstanden, wenn die einzelnen Daten seiner Geschichte in ihrem Verlauf vor Augen liegen. Wichtiger ist es, die ganze Sinnesart (Mentalität), den Charakter, die Anlagen die Empfänglichkeit und die ernsten Seiten seiner Veranlagung zu erkennen.
Es gibt auch einen Werdegang des Mannes, der im ersten Johannesbrief der „Antichrist“ genannt wird, während ihm Paulus im zweiten Thessalonicherbrief (2Thes 2:7) den Namen „der Mensch der Sünde“ gibt. Antiochus Epiphanes war eine A r t Antichrist auf der v o r christlichen Stufe. Der e i g e n t l i c h e ist noch nicht erschienen. Aber die Schrift lässt keinen Zweifel daran, dass derselbe am Ende dieses jetzigen Zeitlaufs offenbar werden wird. Welchem Volk dieser Mann zugehören wird, das lässt sich nicht sagen. Man kann Vermutungen darüber anstellen; aber keiner dieser Vermutungen kommt Gewissheit zu. Aber das lässt sich aus dem Schiftganzen heraus sagen, dass er ein Widersacher und zugleich ein Gegenstück des Christus G o t t e s sein wird. Wie Jesus Christus der Wirker und Vollender aller Werke G o t t e s ist, so wird der Antichrist seine Berufung, seine Inspiration und seine Kraftentfaltung aus der H ö l l e beziehen mit dem Auftrag, den s a t a n i s c h e n Weltplan durchzuführen. Der letztere bezweckt die völlige Loslösung der Gesamtmenschlichkeit aus jeder Bindung an Gott und ihre Zusammenfassung unter satanischer Oberleitung zur Anbetung und zum Dienst des Satans. Dieses Ergebnis bezweckt der satanische Weltplan.
Der Antichrist wird nun einen Werdegang b e s o n d e r e r Art haben. Ein satanisches Werkzeug der oben beschriebenen Art kommt nicht mit e i n e m m a l zustande. Der Ausgestaltung des e i g e n t l i c h e n Antichrists gehen V o r stufen voraus. Ein Blick in das seitherige Weltgeschehen möge es deutlich machen. Ob nicht eine solche Vorstufe der aus Hams Geschlecht hervorgegangene N i m r o d war, der vielleicht der Anstifter des ersten großen widergöttlichen Weltreichsversuchs war zwischen der Zeit Noahs und Abrahams, zur Zeit des ä l t e s t e n Babels und seines Turms? Der ä g y p t i s c h e K ö n i g, der zur Zeit Moses Gott Trotz bot, und sich trotz aller Plagen im Widerstand gegen Gott verstockte, bis er mit Mann und Ross und Wagen im Roten Meer versank, ist in seiner Art ebenfalls eine Vorstufe des Antichrists. Bezeichnenderweise hat er als Ägypter ebenfalls dem unter Gottes Fluch stehenden Geschlecht Hams angehört. ln diese Reihe gehört der a s s y r i s c h e G r o ß k ö n i g , der durch seine Abgesandten zur Zeit des Königs Hiskia dem Gott Israels Hohn sprechen ließ, der dann aber in der Nacht darauf den größten Teil seines Heeres durch Gottes unmittelbares Eingreifen verlor, und nach seiner Heimkehr von seinen eigenen Söhnen ermordet wurde, und zwar gerade in dem Augenblick, als er vor seinem Götzen kniete. In Gefahr, eine Art Antichrist zu werden, waren a l l e G e w a l t m e n s c h e n , ob sie nun ihre Gewalt im kleineren oder größeren Ausmaß ausüben konnten.
Doch ist zum Verständnis dieses sich durch die Zeiten hindurchziehenden Werdegangs des e i g e n t l i c h e n Antichrists noch ein weiteres Ausholen erforderlich. Es wurde schon einmal darauf hingewiesen, dass in der Offenbarung das Wort „Tier“ eine Doppelbedeutung hat, sofern es bald das Gegenstück zum R e i c h Gottes bedeutet, bald den Widersacher und Widerspieler des K ö n i g s des Gottesreichs; also dass einmal etwas Z u s t ä n d l i c h e s , das andere Mal die p e r s ö n l i c h e Spitze des widergöttlichen Reiches gemeint ist. Im vorliegenden Zusammenhang muss außerdem darauf geachtet werden, wie sich das e i n e Tier in der Offenbarung des Johannes zu den v i e r Tieren im Danielbuch verhält.

Das Danielbuch und die Offenbarung

Von den vier Tieren ist Dan 7. die Rede. Daniel sah sie aus dem Meer emporsteigen. Wie die T i e r e gleichnishaft zu verstehen sind, so ist das M e e r ebenfalls bildlich zu verstehen. Das neuzeitliche Empfinden dem Meer gegenüber war bis vor einigen Jahrzehnten anders als das biblische. Erfolgreichen Völkern gilt das Meer nicht als Hindernis und Verkehrs h e m m u n g , sondern als Verkehrs w e g und als Mittel zur Weltbeherrschung. Dagegen dem biblischen Empfinden dem Meer gegenüber ist ein gewissen Grauen eigen. Übrigens hat sich auch das Empfinden der modernen Völker dem Meer gegenüber in den letzten Jahrzehnten gewandelt, namentlich infolge der Unheimlichkeit und Grauenhaftigkeit des U-bootkrieges. Das b i b l i s c h e Empfinden dem Meer gegenüber wird beachtet werden müssen, wenn verstanden werden soll, warum Daniel die vier Tiere aus dem M e e r aufsteigen sah. Das letztere ist ja nicht die n a t ü r l i c h e Heimat der Raubtiere. Das Meer ist das Bild auf die Völkerwelt, die ja auch wir seit langem das Völker m e e r nennen; aber das Bild der Völkerwelt nicht in ihrem G o t t gewollten Zustand, sondern als einer von Gott losgelösten, unter u n h e i m l i c h e m Einfluss stehenden, brodelnden, undurchsichtigen, wildbewegten Masse. Wenn einmal das ganze Gebiet der Schöpfung Gottes auf s e i n e Bahn zurückgekehrt sein wird, dann wird es dem kristallklaren leuchtenden und ruhigen Meer gleichen, das Johannes in der Offenbarung vor dem Thron Gottes gesehen hat.

Beiträge zum Werdegang des Antichrists

War die Menschheit von A n f a n g an ein solch brodelndes Meer mit unberechenbaren und unheimlichen Tiefen? Das ist sie erst g e w o r d e n , seit sie von Adams Zeit an, und dann wieder nach der Sintflut sich von Gott löste und sich von seinem guten Geist nicht mehr leiten und strafen lassen wollte. Das trat in Erscheinung namentlich zur Zeit des ältesten Babels, von dem in 1Mo 11 die Rede ist. Damals trat an die Stelle des glaubenden, dankbaren und frohen „Du“ Gott gegenüber ein stolzes und zugleich unruhiges, von Gott gelöstes „Wir“, das seinen Ausdruck fand in dem kurzen Satz: „W i r wollen uns einen Namen machen!“ Also das Maßgebende sollte nicht mehr der Name Gottes sein. An dieser Stelle darf die Frage aufgeworfen werden ob der Name „Nimrod“, von dem in der Völkertafel 1Mo 10 eingehender die Rede ist, nur eine Benennung ist, oder nicht vielmehr zugleich der Ausdruck eines ganzen Programms. Nimrod war nach 1Mo 10 der erste gewaltige Herrscher des damals noch nicht so umfangreichen Menschenganzen. Er stammte aus Hams Geschlecht, das unter dem Fluch Noahs stand. Wenn man 1Mo 10 mit 1Mo 11 zusammennimmt, dann legt sich der Schluss nahe, dass dieser Mann hinter den stolzen Menschheitsbeginnen zur Zeit des ältesten Babels gestanden sei als dessen Anstifter und Inspirator. Es ist nun merkwürdig, dass der Name „Nimrod“ ein ganzer Satz ist und wörtlich heißt: „Wir wollen uns empören,“ nämlich gegen G o t t. „W i r“ wollen das tun, nicht als E i n z e l personen, sondern als ein bewusst sich z u s a m m e n s c h l i e ß e n d e s Ganzes mit einem g e m e i n s a m e n Willen. Ähnlich heißt es Ps 2:1-3 in Menges Übersetzung; „Was soll das Toben der Heiden und das eitle Sinnen der Völker? Die Könige der Erde rotten sich zusammen, und die Fürsten halten Rat miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten. Lasst uns zerreißen ihre Bande (d. h. die Bindungen an Gott, und den von ihm bestellten König des Gottesreichs) und von uns werfen ihre Stricke (weil wir die Bindung an sie nur als lästige, unerträgliche Fesseln empfinden!“
So ist das brodelnde Völkermeer der Wurzelboden, aus dem alle Weltreiche herausgewachsen sind. Die letzteren sind in ihrer Art und in ihrer Entstehung zugleich der Ausdruck, der im Völkermeer wegen ihrer Loslösung von Gott vorhandenen Ruhelosigkeit und Umtriebigkeit. Zur Zeit des ältesten Babels ist aus dem damals noch wenig umfangreichen Menschheitsganzen das „Tier“ herausgetreten, also ein nicht mehr m e n s c h e n ähnliches, sondern zum T i e r i s c h e n herabgesunkenes Gebilde, die erste widergöttliche Zusammenrottung, als dessen Anstifter und erster Regent vielleicht der obengenannte Nimrod anzusehen ist. Schon in diesen ersten Anfängen kann „Tier“ etwas Doppeltes bedeuten; sowohl das zusammengerottete G e b i l d e als auch dessen treibende Kraft, nämlich sein R e g e n t. In 1Mo 11 ist die G e b u r t s s t u n d e des Tiers berichtet, in diesem doppelten Sinn des Wortes.
Das Tier erhielt damals freilich eine W u n d e, und zwar durch Gottes unmittelbares Eingreifen, der die gemeinsame Empörung der damaligen noch kleinen Menschheit gegen ihn beendigte, indem er sie auseinandertrieb in die Weiten der Erde und sie - schon durch die Verschiedenheit der Sprachen - in die Vereinzelung der Nationen zwang. Die Menschheit s e l b e r hat Gott damit nicht getroffen, wohl aber das aus ihr emporgestiegene „T i e r“, welches das Kommen seines Reiches gehindert, oder gar unmöglich gemacht hätte, wenn er ihm freie Wirkungsmöglichkeit gegeben hätte. Die Wunde, die das „Tier“ erhielt, schien t ö d l i c h zu sein.
Im Vorstehenden wurde versucht, das Wort W u n d e d e s T i e r s Offb 13 verständlich zu machen. Dass das die a l l e i n richtige und e i n z i g mögliche Deutung sei, soll damit nicht gesagt sein. Aber beachtenswert ist dieser Lösungsversuch vielleicht doch, weil dabei das weissagende Wort und der Geschichtslauf zusammen gesehen sind.

Tiere und T i e r k ö p f e

An anderen Stellen war von drei Völkergruppen die Rede, die auf Noahs drei Söhne Sem, Ham und Japheth zurückgehen. Von denen stand die hamitische Gruppe unter dem Fluch Noahs. Was 1Mo 10 und 1Mo 11 erzählt wird, das ist vielleicht der Beitrag der h a m i t i s c h e n Völkergruppe zur tierischen Entartung der Völkerwelt. Wenn das richtig ist, dann ist Nimrod der Auftakt zum einstigen Regenten des widergöttlichen Menschheitsganzen am Ende des jetzigen Zeitlaufs. Auch des schon erwähnten ägyptischen Königs zur Zeit Moses ist in diesem weltweiten Zusammenhang noch einmal zu gedenken. Ein W e l t reich hatte der zwar nicht inne und hat auch keines begehrt. Aber zur hamitischen Völkergruppe gehörte er ebenfalls! Er hat das alte Gottesvolk ohne Erbarmen misshandelt und niedergehalten und sogar Gott Trotz geboten, und hat trotz aller Plagen den Widerstand gegen Gott aufrechterhalten, bis er im Gericht Gottes unterging. Auch er ist ein Beitrag zum Werdegang des Antichristen.
Sogar das G o t t e s volk hat Beiträge geliefert. Gedacht ist zunächst an die schon mehrmals genannte folgenschwere Rolle, welche die A r a b e r in der Weltgeschichte gespielt haben und vielleicht noch spielen werden. Die Araber werden als Nachkommen Ismaels anzusprechen sein, des natürlichen Sohns Abrahams von der Magd, im Unterschied von Isak, dem Sohn aus Grund der Verheißung. Ismael wird 1Mo 16:12 mit einem ungebärdigen, rauflustigen Wildesel verglichen. Die an sich menschlich wohl verständliche Abweichung Abrahams von Gottes Bahn, hat auf die ganze Weltgeschichte unheimliche Auswirkungen gehabt und hat sie heute noch. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden. Wie schon vorher die Germanen durch die Völkerwanderung, so waren es im Anfang des Mittelalters die Araber, die das Gefüge des römischen Weltreichs nahezu sprengten, und auch das aus dem alten römischen Reich herausgewachsene Abendland bis in die Grundfesten erschütterten. Die Araber waren es, welche der alten Christenheit zwei wichtige Gebiete entrissen und bis auf wenige Reste dem Islam überantwortet haben, nämlich das ganze bereits christlich gewordene Nordafrika und den christlichen Orient. Sie waren es auch, die einen Sperrwall vor Afrika und Asien legten, so dass die abendländische Christenheit auf einen verhältnismäßig kleinen Raum eingeengt wurde, und ihrer Missionspflicht an den asiatischen und afrikanischen Völkern erst in der Neuzeit einigermaßen nachkommen konnte.
Besonders hingewiesen sei auf die Gestalt M o h a m m e d s , dessen endgeschichtliche Art unsere Väter erkannten, wenn sie ihn den „falschen Propheten“ nannten. Ob nicht Mohammed einen wesentlichen Beitrag zum Bild des Antichristen geliefert hat durch seine falsche, stolze und unbußfertige Religiosität, welche die Völker in ihren Bann schlug und schlägt? Eine solche m e n s c h l i c h gewordene Welteinheitsreligion mag wohl ein Kennzeichen der antichristlichen Zeit sein. Als fanatische Anhänger des von den Arabern übernommenen Islam haben die T ü r k e n in der Reformationszeit, und noch vor 250 Jahren die Christenheit bedroht durch ihren zweimaligen Vormarsch bis vor die Tore Wiens. Es hat der Kämpfe von zwei Jahrhunderten bedurft, um den Islam wieder bis auf Konstantinopel zurückzudrängen. Diese Kämpfe bildeten einen wesentlichen Teil der Geschichte Österreichs und des Balkans. In welchem Maß gerade dieser Südosten Europas die neuere europäische Geschichte bestimmt hat, das muss nicht erst aufgezeigt werden. Es ist für eine nachdenkliche, rückwärtsschauende Geschichtsbetrachtung erschütternd, wahrzunehmen, in welchem Maß ein einziger Fehlgang eines Gottesmenschen in die Weltgeschichte eingegriffen hat.
Ein anderer Beitrag zum antichristlichen Werdegang geht ebenfalls noch bis in die Zeit der Erzväter zurück. Gedacht ist an Esau, den Sohn Isaaks, den älteren Zwillingsbruder Jakobs. Esau ist durch einen Gottesspruch schon vor seiner Geburt seinem jüngeren Zwillingsbruder Jakob nachgestellt worden. Dass Esaus Art und Entwicklung widergöttlich war, daran ist zwar sein Vater nicht schuld. Insofern ist die Sachlage hier eine andere als bei Abraham. Allerdings mag Isaak an der unrichtigen Charakterentwicklung Esaus insofern beteiligt gewesen sein, als er in seiner natürlichen Vorliebe für den Erstgeborenen dessen verkehrte Art nicht wehrte. Esau ist der Stammvater der E d o m i t e r. Aus diesem Volk gingen die vier im Neuen Testament genannten H e r o d e s hervor, die in absteigendem Maß - hundert Jahre lang tief in die Geschichte Israels, des Herrn und der Urgemeinde eingegriffen haben. Der erste Herodes, indessen letzte Lebenszeit die Geburt des Heilands fällt, war ein brutaler Gewaltmensch, dem das Menschenleben nichts galt, wenn er seine Ziele durchsetzen wollte oder sich bedroht glaubte. Er hat eine ganze Reihe von Morden in seiner eigenen Familie auf dem Gewissen. Er ist der Mörder der Kinder von Bethlehem; seinen Söldlingen wäre auch Jesus als Kind zum Opfer gefallen, wenn Gott seinen Sohn dem Zugriff des Königs nicht entzogen hätte. Das ist die Art, die einstens auch der A n t i c h r i s t haben wird. - - Eigenartig ist es, dass dieser Herodes der Erbauer des prächtigen dritten Tempels war, der zu Jesu Zeit in Jerusalem stand, und an dem zur Zeit von Jesu erstem Berufsostern in Jerusalem schon 46 Jahre lang gebaut worden war. Herodes wollte mit diesem Tempelbau den Juden schmeicheln und seine innere Gottlosigkeit damit verdecken. Das war das gleiche Verhalten wie bei der Ankunft der Magier, der Weisen aus dem Morgenland, auf deren Frage nach dem verheißenen König er sich durch die Schriftgelehrten Auskunft geben ließ, und denen gegenüber er sich zur Huldigung vor dem neuen König bereit erklärte. Die Vermutung wird schwerlich fehlgreifen, dass die antichristliche Zeit nicht den Eindruck der Gottlosigkeit erwecken wird; und der Antichrist selber mag wohl, wenn er auftaucht, als ein religiöser, seiner Sendung bewusster Mann erscheinen.
Der Sohn dieses Herodes, ebenfalls Herodes genannt, mit dem Zunamen Antipas, hat Johannes den Täufer hinrichten lassen. Dessen Neffe Herodes hat den Mord am Apostel Jakobus auf de Gewissen, während Petrus aus seiner Hand durch Gottes unmittelbares Eingreifen errettet wurde, weil seine Aufgabe noch nicht zu Ende war. Des letztgenannten Herodes Sohn, Herodes Agrippa, war etwas anderer Art, und Paulus hoffte ihn zum Glauben bewegen zu können, als Agrippa dem neuernannten Statthalter Festus seinen Antrittsbesuch machte. Aber Agrippa war nicht imstande, den entscheidenden Schritt zu tun.
„Nicht alle, die l e i b l i c h von Abraham abstammen, sind damit auch schon K i n d e r . R i c h t i g e Abrahamskinder sind diejenigen, die es g l a u b e n s mäßig sind“ (Gal 3:7). Dass übrigens die Araber und Herodeer solche Bedeutung in der Geschichte erlangt haben, das ist in seiner Art auch ein Zeichen der T r e u e Gottes. Gott hat die Söhne der Erzväter, selbst wenn mit ihrer Herkunft und Art Sünde verknüpft war, nicht kurzerhand auf die Seite gestellt, sondern ihnen Entwicklungsmöglichkeit zu ihrer Zeit gegeben und gelassen. Und die Herodeer hätten nicht so handeln m ü s s e n , wie sie tatsächlich gehandelt h a b e n . Leider haben sie sich von dem Fürsten dieser Welt ins Schlepptau nehmen lassen.
Und im Islam, der Religion Mohammeds, sind ebenfalls noch W a h r h e i t s r e s t e vorhanden trotz aller Verderbnis dieser Religion. Diese Reste rühren aus dem Judentum und Judenchristentum her, das Mohammed seinerzeit, allerdings in verderbten Formen, kennengelernt hat. Auf diese Weise läuft die Geschichte des Islams bis zu einem gewissen Grad mit der Geschichte des Christentums parallel. An einer Selle seiner „Beiträge zur Förderung christlicher Theologie“, da wo er der Geschichte der judenchristlichen Gemeinde im Heiligen Land in der Zeit nach der Zerstörung Jerusalems nachgeht, hat Schlatter davon gesprochen, dass von der j u d e n c h r i s t l i c h e n Gemeinde, weil sie sich vom Judentum schließlich nicht völlig lösen konnte, eine gerade Linie hinüberführt zum I s l a m ; in ähnlicher Weise wie aus der alten h e i d e n c h r i s t l i c h e n Gemeinde die Linie hinübergeht zur Christenheit des M i t t e l a l t e r s. Es ist ein erschütternder Gedanke, dass die spätere Christenheit bis zu einem gewissen Grad der B r u d e r des Islams sei; so wie die Ausgangspunkte, nämlich die alte juden- und heidenchristliche Gemeinde, die beiden zusammengehörigen Teile der Gemeinde Jesu gebildet haben.
Noch eine tiefernste Frage möge sich anschließen. Wird nicht auch die C h r i s t e n h e i t einen Beitrag leisten zur Entwicklung des Antichristentums? Haben die Väter wohl ganz unrichtig gesehen, die in dem Babel der Offenbarung des Johannes (Offb 17 und Offb 18) ein Gebilde c h r i s t l i c h e r Herkunft vermuteten, freilich mit Verzerrung und Entartung christlichen Wesens? Der Fürst dieser Welt hat nicht nur nach J e s u s gegriffen und nach den J ü n g e r n damals in der Nacht des Verrats, vielmehr gibt es auch einen Griff aus unheimlichen Tiefen nach jedem C h r i s t e n m e n s c h e n , wie nach der C h r i s t e n h e i t selber in ihren großen und kleinen Teilen, in ihren Verbänden und Gruppen - einem Griff in verschiedenen Formen und Arten.
Die letzten Ausführungen haben zwar in den großen Zusammenhang hineingehört, waren aber doch eine Unterbrechung anderer Erwägungen. Die Frage war gestellt, wie sich das e i n e Tier, von dem in der Offenbarung des Johannes die Rede ist, zu den v i e r Tieren verhält, die im 7. Kapitel des Danielbuches genannt sind. Diese Ausführungen sind nun weiterzuführen in Anknüpfung an frühere grundsätzliche Darlegungen.
Die Wunde, die d a s Tier erhalten hatte, als Gott die erste stolze Menschheitszusammenrottung zur Zeit des ältesten Babels zerschlug, schien tödlich zu sein. Aber sie begann wieder heil zu werden, als Israel von der Höhe seiner Berufung herabsank. Da wuchsen dem Tier neue Köpfe. Ob nicht der erste n a c h wachsende Kopf das assyrische Weltreich war? Das war zuerst der Buße noch zugänglich (s. das Buch des Propheten Jona). Aber zur Zeit des Königs Hiskia und des Propheten Jesaja war es auf die widergöttliche Linie eingeschwenkt. Früher Gesagtes darf wohl, um der Wichtigkeit der Sache willen, an dieser Stelle noch einmal wiederholt werden. Damals hat der assyrische Großkönig Sanherib durch seine Abgesandten dem Gott Israels vor den Toren Jerusalems Hohn gesprochen. Aber in der Nacht darauf schlug Gottes Engel den größten Teil seines gewaltigen Heeres. Die Folge war, dass der König schleunigst abzog. Jerusalem war gerettet um seines glaubenden Königs willen. Und Sanherib wurde daheim ermordet durch seine eigenen Söhne, und dies gerade in dem Augenblick, als er vor seinem Götzen kniete, den er über den Gott Israels hoch erhaben geglaubt hatte. In seiner sich über Gott erhebenden Art, und mit seinem Zug gegen Jerusalem, hat auch Sanherib einen Beitrag geleistet zum Werdegang des einstigen Antichristen.
Von den Weltmächten v o r seiner Zeit hat Daniel nicht gesprochen. Was ihm durch Gottes Geist beleuchtet wurde, das war seine G e g e n w a r t und die k o m m e n d e n Zeiten. Nun scheint, wie schon gesagt, zwischen den v i e r Tieren in der Weissagung des Daniel und dem e i n e n Tier, von dem Johannes in Offb 13 spricht, ein Unterschied zu bestehen. Aber die vier Tiere, die Daniel aus dem brodelnden Völkermeer aufsteigen sah, waren nicht Einzelgestalten ohne Z u s a m m e n h a n g ; nur z e i t l i c h waren sie voneinander getrennt. Die vier Teile in Nebukadnezars Traumbild gehörten ja auch einem G a n z e n an. Umgekehrt hat Johannes an seinem e i n e n Tier die Merkmale der Tiere Daniels aufgezeigt (Offb 13:2), dass es nämlich Panther-, Bären- und Löwenart in sich vereinige. Nur die Art des 4. danielischen Tiers ist Offb 13:2 nicht ausdrücklich zur Kennzeichnung des e i n e n Tieres verwendet worden. Der Grund hierfür mag wohl darin liegen, dass jenes 4. Tier einer Bestie gleicht, die mit keinem der üblichen Tiernamen benannt werden konnte.
Was sich nun nahelegt, das ist die Frage, ob nicht das gleiche, was Daniel unter den v i e r T i e r e n verstand, in der Weissagung des Johannes mit den K ö p f e n oder Häuptern des e i n e n Tiers ausgedrückt ist. Die vier Tiere Daniels wie die Köpfe des Tiers bei Johannes sind ja im Grunde genommen nur A u s p r ä g u n g e n des Tierwesens überhaupt. Ist diese Auffassung richtig, dann liegt der weitere Gedanke nahe, dass die erste widergöttliche Menschheitszusammenrottung zur Zeit des ältesten Babels nicht nur die Geburt des T i e r e s s e l b e r darstellt, sondern zugleich dessen e r s t e G e s t a l t, die in ihrer Art in allen späteren Ausprägungen wiederkehrt. Es war also nicht nur das Tier s e l b e r , das damals die tödliche Wunde erhalten hat, sondern zugleich des Tieres erster K o p f. So wäre es verständlich, dass in Offb 13:3 gesagt wird: Ein K o p f des Tieres habe die tödliche Wunde erhalten. H e i l werden wird die tödliche Wunde erst bei der e i g e n t l i c h e n antichristlichen Zeit, wenn das schon bei der e r s t e n Menschheitszusammenrottung erstrebte Ziel in seinem v o l l e n , die ganze Welt umfassenden Umfang erreicht sein wird. Aber in der langen Zeit dazwischen wachsen dem Tier wenigstens K ö p f e nach. So könnte das assyrische Weltreich als der zweite Kopf des Tiers angesehen werden, das babylonische in der Zeit des mittleren Babels als der dritte und das medo-persische als der vierte, das griechische als der fünfte und das römische als der sechste.

Das Warten der Völker

Dieses römische Reich ist in der Geschichtsschau Daniels das l e t z t e Weltreich. Nach demselben sollen die Reiche dieser Welt von dem Reich Gottes abgelöst werden. Nun ist es zwar richtig, dass das Reich Gottes seit dem ersten Kommen Christi in der Gemeinde Jesu bereits vorhanden ist. Aber das Reich in seiner V o l l gestalt ist diese Gemeinde Jesu noch nicht. Die ist im Vaterunser vom Herrn selber angeleitet worden, um das endgültige K o m m e n des Reiches Gottes zu bitten. Wenn also nach dem römischen Weltreich das Reich G o t t e s kommen soll, dann ist kein anderer Schluss möglich als der: die Dauer des römischen Reichs muss bis ganz nahe an das Kommen des Reiches Gottes heranreichen. Diese Folgerung darf aber nicht nur ein gedankenmäßiger Schluss bleiben, sondern bedarf einer Nachprüfung von zwei Seiten her. Einmal muss sorgsam geprüft werden, ob das in der W e i s s a g u n g über das römische Reich Gesagte im t a t s ä c h l i c h e n Geschichtsverlauf der letzten zwei Jahrtausende eine Bestätigung gefunden hat; und umgekehrt: ob der genannte G e s c h i c h t s verlauf das p r o p h e t i s c h e Wort über das römische Reich deutlicher macht. Um zu zeigen, was die W e i s s a g u n g Daniels über das römische Reich im voraus gesagt hat, ist weiter eine Zusammenschau nötig von den Merkmalen des römischen Reichs im unteren Teil von Nebukadnezars Traumbild mit den Besonderheiten des 4. Tiers, weil ja beides das römische Reich darstellt. Im Traumbild Nebukadnezars erscheint der untere Teil als ein kompliziertes Gebilde. Kopf, Brust und Leib des Standbilds waren verhältnismäßig einfache Sachen. Aber der untere Teil ging auseinander in die Schenkel, in die Füße und in die Zehen; und außerdem sah Nebukadnezar an den letzteren eine merkwürdige Mischung von Bestandteilen, die nicht zusammenpassen. D i e s e Merkmale des römischen Reichs im prophetischen Wort müssen eingebaut werden in die Beschreibung des vierten Tieres.

Das Warten der Gemeinde

Bereits in Anmerkung 31 wurde des näheren ausgeführt, in welchem Maß das p r o p h e t i s c h e Wort über das römische Reich den t a t s ä c h l i c h e n Geschichtsverlauf Europas in den letzten zwei Jahrtausenden beleuchtet. Wiederum wird gerade durch diesen Geschichtsverlauf das prophetische Wort in auffallendem Maß bestätigt. W i r dürfen in unserer weit vorgeschrittenen Zeit ungleich m e h r sehen als die Propheten selber, denen das ihnen zuteil gewordene Wort und die ihnen gewährten Gesichte oft noch u n v e r s t ä n d l i c h waren. A l l e s am prophetischen Wort ist auch durch den bisherigen Geschichtsverlauf freilich noch nicht aufgehellt. Der Fortgang der göttlichen Regierung muss erst w e i t e r e Aufschlüsse bringen. Aber die glaubende Erwartung wird nicht trügen, dass die seitherige annähernd wortwörtliche Erfüllung von so vielen Voraussagen der Schrift ein Anzeichen dafür ist, dass das, was noch aussteht, sich ebenso erfüllen wird. Auf der anderen Seite ist gerade der Umstand, dass schon so vieles in Erfüllung gegangen i s t , ein deutliches Zeichen dafür, dass unsere Zeit dem Ausgang entgegen- und dem Kommen des Reiches Gottes näherrückt. W i e groß noch das Zwischenstück zwischen der Gegenwart und dem Kommen des Reiches Gottes ist, das kann mit Bestimmtheit nicht gesagt werden. Aber merkwürdig ist der Umstand, dass der lebhafte Eindruck weiter christlicher Kreise vom Herannahen des Endes zusammentrifft mit dem bangen Harren der ganzen Völkerwelt auf die Dinge, die da kommen sollen (Lk 21:25.26). Auch Paulus hat Röm 8:19 vom Harren und Sehnen der „Kreatur“ gesprochen. Schwerlich ist unter „Kreatur“ nur an die Tierwelt zu denken, die man allerdings in besonderem Maß die "seufzende Kreatur" nennen kann. Das im griechischen Urtext verwendete Wort heißt soviel wie „Schöpfung“ bzw. das „Geschaffene“. Gedacht ist dabei in erster Linie an die ganze noch in den Banden der Sünde, der teuflischen Gewalt, der Eitelkeit und Vergänglichkeit und des Todes schmachtende M e n s c h h e i t. Worauf wartet die? Sie weiß es selber nicht.
Aber Paulus hat es gedeutet: sie wartet darauf, dass die Gemeinde Jesu, die ihrerseits a u c h noch an dem Harren und Seufzen Anteil hat, beim Offenbarwerden des Königs in ihre dienende Herrscherstellung eingesetzt wird. Im Unterschied zu der Menschheit als solcher w e i ß die Gemeinde Jesu, auf w e n und auf w a s sie harrt: auf den kommenden König und auf das kommende Reich. Sie hat bereits von ihrem König eine Erstlingsgabe erhalten, nämlich den Heiligen Geist. Aber eine weitere überragende Gabe soll nachfolgen, wenn ihr König offenbar wird und sie mit ihm: dann soll auch die N a t u r seite an den Glaubenden erlöst werden, nämlich der Leib. Darauf warten sie noch, nicht auf die Erlösung v o m Leib, sondern auf die Erlösung d e s Leibes. Die letztere wird erfolgen auf dem Weg der Verklärung. Soweit die Gemeinde beim Wiederkommen ihres Königs noch am Leben ist, wird die Verklärung erfolgen durch die V e r w a n d l u n g ihres nichtigen Leibes, dass der ähnlich werde Seinem verklärten Leib. Demjenigen Teil der Gemeinde, der beim Kommen des Königs seinen irdischen Lauf schon vollendet hat, soll die Verklärung zuteil werden durch den Empfang der e r s t e n A u f e r s t e h u n g. Diese Hoffnung unterscheidet das Harren und Sehnen der Gemeinde Christi von dem bangen Harren der Menschheit. Zwar ist es, wie schon an einer anderen Stelle angedeutet worden ist, fraglich, ob aus dem Schrift g a n z e n die Hoffnung auf eine Entrückung der Gemeinde v o r der eigentlichen antichristlichen Trübsalszeit entnommen werden darf. Trotzdem geht das Harren der Gemeinde Christi nicht nur auf die bangen Zeiten, die seinem Kommen in steigendem Maß v o r a u s gehen sollen, und die ü b e r die Zeit der großen Trübsal h i n ü b e r dem Reich G o t t e s auf Erden entgegen. Es ist mit diesem Ausblick etwas Ähnliches wie mit der Erwartung, mit der der Herr selber seiner Passion entgegenging. W o h l hat er die letzte bis in ihre Einzelheiten gekannt, und ihnen klar im voraus schon in das Auge geschaut, hat auch das Grauen vor den Tiefen seiner Passion im Garten Gethsemane bis ins Innerste hinein ausgekostet. Aber gleichzeitig hat er h i n t e r das Kreuz geschaut, und hat n a c h dem Kreuz die große Freude wahrgenommen, die als Frucht des Kreuzes für ihn bereitgelegt war; d i e Freude, die nicht nur für ihn s e l b e r bestimmt war, sondern die er nun auch seinen Leuten und der ganzen armen Welt nahebringen und m i t t e i l e n durfte und darf. Auf diesen Doppelblick des Herrn ist in Hebr 12:2.3 hingewiesen, wo es in richtiger Übersetzung also heißt: „um der vor ihm liegenden Freude willen erduldete er das Kreuz samt aller mit dem Kreuz verbunden Schande."

Die Vorläufer des Antichrists

Der Gedankenganz ist nun noch durch einige Hinweise zum Abschluss zu bringen. Wenn das römische Reich bis an die Schwelle des Gottesreichs sich erstreckt, dann ist es wohl verständlich, dass in Offb 17:10 nach dem sechsten Tierkopf nur noch von einem k u r z e n siebten die Rede ist, und dass sich an diesen kurzwährenden siebten Kopf als l e t z t e Ausgestaltung des Tierwesens, und zur Darstellung, dass das letztere nun zu seiner V o l l reife gelangt sei, noch der a c h t e Kopf anschließt. Dieser letzte ist nach Offb 17:11 nichts N e u e s , sondern nur die Wiederholung und A u s r e i f u n g einer früheren Gestalt des Tieres. Aber auch die Einschiebung dieses siebten und achten Tierkopfs zwischen das römische Reich und das Reich Gottes auf Erden ändert nichts an dem Satz Daniels, dass die Entwicklung der Reiche dieser Welt mit dem vierten Reich zum Abschluss gelange. Denn der siebte und achte Tierkopf sind in diesem Licht nur als die letzte große Zeitenwende zu verstehen, oder als der Übergang zum Reich Gottes auf Erden durch die Ausreifung des Tierwesens hindurch und unter den abschließenden Gerichten der Endzeit.
Bisher wurde unter dem Wort „Tier“ und „Tier k o p f“ ein widergöttliches Menschheits g e b i l d e verstanden. Was nun noch zu zeigen ist, das ist das, dass dieses Gebilde jeweils und immer wieder eine Zusammenfassung, eine Repräsentation, eine IIlustration, eine Ausprägung, eine krönende Spitze erhielt in besonderen P e r s ö n l i c h k e i t e n , deren j e d e in ihrer Art einen Beitrag liefert zum Bild des l e t z t e n Weltherrschers, des Antichrists.
Die letzte dieser Persönlichkeiten, von denen weiter oben die Rede war, war der assyrische Großkönig Sanherib. Die Verkörperung des dritten Tierkopfs war Nebukadnezar. Dieser Herrscher ist nicht in vollem Maß als Vorläufer des Antichrists anzusprechen. Denn er war für die Erkenntnis und Ehrung Gottes zugänglich. Aber an der Geschichte der Kolossalstatue (Dan 3) wird doch ein antichristlicher Zug sichtbar, nämlich der Zwang zur Anbetung der menschlichen Größe, die unvermerkt in die Anbetung des Antichristen selber und in die Anbetung des Drachen (des Satans) übergeht. Darum heißt es in Offb 13:17, dass in der antichristlichen Zeit jedem die Existenzmöglichkeiten beschnitten oder abgeschnitten werden, der nicht das Malzeichen des Tieres anzunehmen und zu tragen bereit sei. Eher als Nebukadnezar könnte sein Sohn Belsazar als eine Art Vorbild des Antichristen angesehen werden, mit seiner Entweihung alles Heiligen und mit dem Übergang seiner Herrlichkeit in das Gericht Gottes. Denn auch die Herrlichkeit des Antichrists wird nur kurz dauern und beim Gericht über ihn vergehen.
Dass die Herrscher des medisch-persischen Reiches unter den Weltherrschern eine Sonderstellung einnahmen, davon war an anderer Stelle schon die Rede. So ist dessen erster Herrscher, der medische Darius, eine menschlich sympathische Gestalt (Dan 6). Aber e i n Zug an ihm deutet doch ein Wesensmerkmal des Antichristen an, nämlich das Verbot des Gottesdienstes. Zwar war dieses Verbot zur Zeit des Darius zeitlich begrenzt, und den König gereute nachher seine eigene Anordnung, wenn er auch entgegen seinem Gewissen sie nicht zu widerrufen wagte. In der eigentlichen antichristlichen Zeit wird es ein solches Verbot ebenfalls geben. Dort wird es ohne Begrenzung gelten und mit höhnischer Freude durchgesetzt werden.
Das griechische Reich hat in zwei Herrschern eine Verkörperung erfahren, nämlich in seinem Begründer Alexander dem Großen und in einem der späteren Teilkönige des Reichs, nämlich unter Antiochus Epiphanes. E i n Zug am Planen und Wirken Alexanders weist auf die Endzeit hin, nämlich sein Versuch, sein Weltreich geistig zu unterbauen. Das wird in der eigentlichen Endzeit die Aufgabe des a n d e r e n Tiers sein (Offb 13:11-18), dem man nicht mit Unrecht den Namen „falscher Prophet“ gegeben hat. Es darf auch hingewiesen werden auf die jüngste Vergangenheit Deutschlands. Da wurde der Versuch gemacht, dem „Dritten Reich“ einen geistigen Untergrund zu geben im Zwang zu einer bestimmten „Weltanschauung“. Es wurde damals ausgesprochen, dass das „Dritte Reich“ mit dieser seiner Weltanschauung stehe und falle. - In ungleich höherem Maß als Alexander der Große hat Antiochus einen Beitrag zum Werdegang des Antichristen geliefert. Was über ihn in Dan 8 und noch mehr in Dan 11 gesagt ist, das ist in der Offenbarung des Johannes wieder aufgenommen als Kennzeichen des Antichristen selber.
In diesem Zusammenhang sei noch auf eine s a c h l i c h e Kennzeichnung des Antichristen in der Weissagung Daniels hingewiesen. Antiochus wird dort bezeichnet als ein Horn, das zwar klein sei, aber eine große Stoßkraft entwickle. Was über den Antiochus gesagt ist, das ist im Gesicht von vierten Reich wiederholt, wenn es dort heißt, dass aus den zehn Königen am Schluss des römischen Weltreichs einer hervorgehen werde nach Art dieses Horns, vor dem drei andere fallen werden. Ohne Bild gesagt: der letzte Weltherrscher werde auf die Weise in seine Stellung einrücken, dass er drei andere Mächte oder Herrscher demütigen werde, worauf die übrigen Größen der Endzeit ihm huldigen werden. In welcher Weise diese geschichtliche Weissagung ihre Erfüllung finden wird, das steht noch aus.
Es sei hinübergeblickt auf die Herrscher des r ö m i s c h e n Weltreichs, die den Kaisertitel führten. Deren erster war Augustus. Merkwürdig, dass er den gleichen Beinamen führte wie Antiochus. Denn das lateinische „Augustus“ bedeutet das gleiche wie das griechische „Epiphanes“, und ist eigentlich nicht sein Name gewesen, sondern nur eine Beibenennung. Worin mag der Beitrag bestehen, den Augustus zum Bild des Antichristen geliefert hat? Einmal in der Prachtentfaltung seiner Herrschertätigkeit. Aber auch in dem Stück, dass zur Zeit des Antichrists wie zur Zeit des Augustus der Stein von oben herunterrollen wird. Der ist schon zur Zeit des Augustus im Rollen gewesen, nur noch in kleiner, von der großen Welt nicht beachteter Gestalt, als das Gottesreich seinen stillen Einzug in die Welt nahm unter Jesus, dessen Königsmacht noch durch seine irdische Erscheinung und seine Kreuzesgestalt verdeckt war. Der eigentliche Zusammenstoß, oder noch besser Zusammenprall des Gottesreichs mit der letzten Ausprägung des Weltreichs, wird zur Zeit des Antichristen erfolgen, wenn der Herr Christus wiederkommen wird als der Herr aller Herren und König aller Könige, in Begleitung des himmlischen Heeres, und wenn er den Antichristen beseitigen wird mit einem Hauch seines Mundes. Auf einen der Nachfolger des Augustus, den fünften in der Reihe, nämlich Nero, sei ausdrücklich hingewiesen. Was Nero den Christen in Rom im Jahr 64 antat, ist grauenhaft. Schon Antiochus hat die am Gesetz Gottes festhaltenden Glieder Israels furchtbar gepeinigt und hätte sie am liebsten völlig ausgerottet. Insofern ist Nero ein Nachfolger des Antiochus. Aber der Antichrist wird in noch ungleich größerem Ausmaß und mit schrecklicheren Methoden gegen die Gemeinde der letzten Zeit vorgehen wie Antiochus und Nero, ohne dass ihre Glieder sich dagegen wehren dürfen. Sie sollen massenhaft den Märtyrertod erleiden, aber auch beim Verlust ihres Lebens werden sie glücklich gepriesen (s. dazu Offb 14:13): „Selig sind die Toten, die im Herrn sterben von nun an. Der Geist spricht zu ihrer Arbeit ein Ja, und ihre Werke folgen ihnen nach.“ Auch gegen das neu zum Glauben an seinen König kommende alte Gottesvolk wird er einen Kriegszug unternehmen, der aber durch Gottes bewahrendes Eingreifen nicht zum Ziel gelangen soll. Der heilige Rest Israels, die zwölf mal zwölftausend, sollen durch die zweite Hälfte der antichristlichen Zeit hindurchgerettet werden in das Reich Gottes auf Erden als heiliger Same.
Das Kaiser t u m des römischen Reichs hat ebenfalls einen Beitrag geliefert zum Werdegang des Antichristen, denn es hat sich in zunehmendem Maße an Gottes Stelle gesetzt und göttliche Ehrung für sich beansprucht. Die Versagung solcher Ehrung durch Christen, wenn die letzteren es mit ihrem Glauben nicht vereinigen konnten, dem Genius des jeweiligen Kaisers Weihrauchkörner in die Opferschale zu legen, hat genügt, die Christen jener Zeit zum Tode zu bringen, und zwar nicht selten in grausamer Form. 2Thes 2 heißt es im Blick auf den Antichristen, der in jener Stelle der „Mensch der Sünde“ genannt wird: „Er wird sich in den Tempel Gottes setzen und sich als Gott ausgeben.“ Das ist in der römischen Kaiserzeit zwar nicht wortwörtlich, aber dem Sinn nach doch schon in Erfüllung gegangen, es wird aber auch eine wortwörtliche Erfüllung finden. Bereits Antiochus Epiphanes hat den Tempel in Jerusalem entweihen lassen durch Aufstellung eines Götzenbildes an heiliger Stelle. Ein G ö t z e n - Bild im Haus G o t t e s , das war ein „Gräuel“, der den Tempel v e r w ü s t e t e , auch wenn er als Gebäude s t e h e n blieb. In ähnlichem Sinn hat vielleicht Mt 24:15 der Herr selber vom „Gräuel der Verwüstung an heiliger Stätte“ gesprochen. Nach dem zweiten jüdischen Krieg unter Barkochba um das Jahr 135 nach Christi Geburt wurde auf dem Tempelplatz in Jerusalem ein heidnischer römischer Tempel erbaut. Später entstand an der Stelle des alten Tempels der mohammedanische Felsendom. Wenn einmal gegen den Ausgang dieses Zeitlaufs in Jerusalem an Stelle dieses mohammedanischen Heiligtums von neuem wieder ein Tempel stehen wird, dann wird der Antichrist auch d e n zu einem Gräuel entweihen wollen. G a n z wird ihm das allerdings n i c h t gelingen, s. Offb 11:1.2.

Das „Geheimnis der Bosheit“

Was für eine Persönlichkeit muss d e r Mann sein, auf den in so vielfältiger Weise im weissagenden Wort der Schrift wie durch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten der Geschichte hingedeutet worden ist! Er ist auch in diesem Stück ein Widerspiel des Herrn. Auf den Herrn ist in allen prophetischen Schiften und durch das Leben aller Gottesmenschen der vorchristlichen Zeit ebenfalls in irgendeiner Weise hingewiesen.
Es wird sich nicht erst in der e i g e n t l i c h e n Endzeit um die Wahl handeln: Christus oder Antichrist? Letzten Endes kommt n i e m a n d um diese Wahl herum, selbst wenn er von einem Antichristen nichts weiß. Das gilt schon für die Zeiten, die dem Offenbarwerden des Antichristen v o r a u s gehen. Denn der Antichrist stellt das „G e h e i m n i s der Bosheit“ dar, von dem in 2Thes 2:7 die Rede ist. Wie Gott in Jesus Christus das Geheimnis S e i n e s ganzen Wesens beschlossen und enthüllt hat, und ferner enthüllen wird, so wird auch die „Bosheit“, d. h. die unheimliche Macht der Finsternis, i h r Geheimnis enthüllen in diesem e i n e n Mann. Aber auch, solange es noch nicht g a n z enthüllt ist, „r e g t“ es sich bereits (s. obige Stelle). Dieses Sichregen geht durch a l l e Zeiten hindurch, manchmal mehr versteckt und dann wieder mehr offenbar. Es geht sogar durch d i e Zeiten, wo das Christentum einen bestimmenden Einfluss auf die Öffentlichkeit ausüben konnte und kann. Nur dass es in solchen Zeiten schwerer zu e r k e n n e n ist. Zeiten, wo dieses Geheimnis sich k r ä f t i g e r regt und seinem Offenbarwerden entgegentreibt, sind zwar von schmerzlicher Art, aber ein Gutes ist d o c h dabei, dass nämlich der Gegensatz zwischen oben und unten leichter e r k a n n t werden kann, und dass dementsprechend auch die Entscheidung bei aller Schwere der Zeit eher getroffen werden kann. Wohl dem, der den Unterschied zwischen den beiden „Geheimnissen“ wahrnimmt und die rechte Entscheidung trifft!

Gibt es einen p e r s ö n l i c h e n Werdegang des Antichrists?

Seither wurde von einem W e r d e g a n g des Antichristen gesprochen, der sich durch lange Zeiten hindurchzieht, sofern dem eigentlichen Antichristen im Lauf der Geschichte Persönlichkeiten vorausgehen, in welchem die Art des Antichristen, seine ganze Handlungsweise und seine Ziele im v o r a u s in zunehmendem Maße dargestellt sind. Es ist nun schon manchmal die F rage aufgetaucht, ob auch der Lebenslauf des Antichrists s e l b e r Merkmale b e s o n d e r e r Art aufweisen werde. Namentlich ist es d i e Frage: wird der Antichrist, weil er der Widersacher und das Widerspiel des r e c h t e n Christus ist, auch in d e m Stück eine gewissen Ähnlichkeit mit dem Herrn haben, dass er aus dem Tode wieder erweckt wird; nicht durch Gottes Kraft, sondern durch die unheimliche Wirkung des Satans? Wäre es so, dann wäre er auch in seinem eigenen Lebensgang ein vollendetes Gegenstück zu Jesus. In diesem Fall würde die Aussage des Johannes über das Tier, dass es nämlich gewesen sei, aber nicht mehr sei, jedoch wieder aus dem Abgrund aufsteigen werde, nicht nur auf das antichristliche R e i c h zutreffen, sondern auch auf dessen H e r r s c h e r . Weil man nun Antiochus Epiphanes mit Grund den v o r christlichen Antichrist nennt, so hat sich der vorhin genannte Gedankengang manchmal zu der Frage verdichtet, ob nicht der a l t testamentliche Antichrist am Ende der Zeiten durch die unheimliche Wirkung der Hölle wieder erstehen werde, um so sein früheres Werk auf einer neuen Grundlage wieder aufzunehmen und zu vollenden. Auch das Wort des Johannes vom wieder Heilwerden der tödlichen Wunde an einem der Köpfe des Tiers k ö n n t e in diesem p e r s ö n l i c h e n Sinn ausgelegt werden. Denn auch diese Köpfe haben, selbst wenn sie ihrem eigentliche Sinn nach Entwicklungsstufen des antichristlichen R e i c h e s darstellen, ihre Repräsentanten durch menschliche Persönlichkeiten.
Ob die vorstehend angeführten Gedanken mancher Schriftforscher durch den Fortgang der Regierung Gottes bestätigt werden, das lässt sich nicht sagen. Eigenartig ist, dass die Gedanken der Völker sich manchmal mit ähnlichen Vermutungen beschäftigt haben. Nach dem Tode Neros hat man in weiten Kreisen damit gerechnet, dass er irgendwie wieder auftauchen werde. In ähnlicher Weise hat sich seinerzeit die Phantasie des deutschen Volkes mit dem geliebten Kaiser Barbarossa beschäftigt nach dessen jähem Tod in den Fluten des Kalikadnus, als derselbe beim dritten Kreuzzug mit seinem Heer beinahe sein Ziel erreicht hatte. Der Gedanke war weit verbreitet, der geliebte Mann sei im Kyffhäuser verborgen und werde in der Geschichte des deutschen Volkes noch einmal eine Rolle spielen. Das zuletzt genannte Beispiel ist kein Hinweis auf den A n t i c h r i s t e n , aber immerhin eine Beleuchtung eines solchen G e d a n k e n g a n g s. Völlig ausgeschlossen wäre eine Nachbildung der Auferweckung Christi durch s a t a n i s c h e Wirkung nicht. Aber von einer Wahrscheinlichkeit oder gar Gewissheit kann nicht gesprochen werden, nur von einer Möglichkeit.

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3. Daniels Wort zur christlichen Zeitwende