Von der Gemeinschaft

Aus Bibelwissen
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Quelle: Auszug aus "Seelsorge an der eigenen Seele", Erich Schick, Furche-Verlag Hamburg 1955

Die Bedeutung des Wörtlein "Wir"

Welch eine Bedeutung hat in den apostolischen Briefen das Wörtlein »Wir!« Welch einen festen Ring schließt es um die verschiedensten Menschen, welche Abgründe überbrückt es! »In allen Dingen beweisen wir uns als die Diener Gottes« (2Kor 6:4), »die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare« (2Kor 4:18), »wie wir getragen haben das Bild des irdischen, also werden wir auch tragen das Bild des himmlischen« (1Kor 15:49). Wo ist dieses apostolische »Wir« heute? Unsere ganze Generation sucht den Ausgleich zwischen dem »Ich« und dem »Wir«. Auch darin sind wir schicksalshaft mit unserer Zeit verbunden. Im geistlichen Leben haben die Wörtlein »Ich« und »Wir« eine noch tiefere entscheidendere Bedeutung als sonst, und auch ihr Ausgleich ist eine besonders große und wichtige Sache.

Das apostolische "Wir"

Wir Söhne der Reformation wissen ja in besonderer Weise von der Bedeutung des »Ich« für den Glauben. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.« Ja wahrlich: Im Glauben, in der Buße, im Bekenntnis, im Gehorsam, in der innersten Entscheidung —da steht das »Ich « einzeln und einsam vor Gott, oft gegen die vielen, gegen das »Wir«. Aber wenn wir es nicht aus dem Neuen Testament wüssten, so würde es uns die tägliche Erfahrung lehren, dass dies nur eine Seite der Sache ist. Je tiefer der einzelne hineingeführt wird in den Kampf des Geistes, um so mehr bedarf er der Gemeinschaft. Das »Ich« bedarf des »Wir«, und zwar des »Wir«, wie es im Neuen Testament steht, des apostolischen »Wir«.

Was ist es um dieses »Wir«?

Es ist nicht die Summierung von mehreren ober von vielen »Ich«, es ist etwas Einheitliches und Ganzes. Es ist auch nicht die Aufhebung des »Ich« zugunsten eines unbestimmten und unpersönlichen Kollektivs. Es ist etwas Mannigfaltiges. Die Vielzahl bleibt, und der einzelne bleibt, und doch ist da Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit. Es ist auch unwesentlich, wie viele es sind. Es können zwei oder drei oder Tausende sein. Dieses »Wir« ist eine göttliche Schöpfung. Es hat seinen Ursprung im Vaterunser. Es findet seine irdische Vollendung im Pfingstfest. Es ist ein wichtiges Stück unseres Glaubensbekenntnisses. Es weist hinüber in den neuen Himmel und die neue Erde: »Ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen«. Aber haben wir es? Woran liegt es, dass es in unsrer Mitte so selten wohnt? Woher kommt es, dass so viele unsichtbare Mauern sich aufrichten dürfen auch zwischen denen, die doch einem Herrn dienen und einander so bitter nötig brauchen?

Dies mag der Grund sein: Wir haben so viele menschliche, irdische, vorläufige »Wir«. Neben ihnen hat das apostolische »Wir« keinen Raum und flieht still und unvermerkt. Erst in der Stunde der Not bemerken wir sein Fehlen und empfinden Heimweh und wissen nicht, wo es ist. Da ist das »Wir« des Alltags, das Menschen auf dem gemeinsamen Weg äußerlich zusammenführt. Da ist das »Wir« gemeinsamer Überzeugung und gemeinsamen Strebens. Da ist das »Wir« persönlicher Zuneigung und Verehrung, das »Wir« gemeinsamen großen Erlebens, das »Wir« der Arbeit und des Berufs, das »Wir« der Freundschaft, die vielleicht in die Jugendzeit zurückgeht. Endlich steht über diesen allen das höchste menschliche »Wir«: das der unverbrüchlichen Lebensgemeinschaft in Ehe und Familie, das trauliche, das heimatliche, das innige »Wir«.

Welch ein heller Schein fällt vom Evangelium her auf alle diese Gemeinsamkeiten, alle diese »Wir«! Welche Lebenskräfte finden darin ihre geheime Quelle und ihre edle Entfaltung !

Die Wirklichkeit des "Wir"-Erlebens

Aber wir wollen in Buße und Besinnung einer Erfahrung ins Auge sehen, die wir gewiss alle schon irgendwie machten: Wir suchten Vertrauen und fanden Vertraulichkeit. Wir bedurften eines Trostes aus Herzensgrund und fanden Gemütlichkeit.Wir dürsteten nach einem Wort des Geistes und fanden Geplauder. Wir erwarteten brüderliche Unbestechlichkeit und fanden kollegiale Nachsicht. Wir baten um einen Rat aus der Weisheit von oben her (Jak 3:17) und fanden Alltagsklugheit. Und wie oft erleben wir es, dass gerade die Nächsten in ihren Beziehungen zueinander, etwa der Mann der Frau oder die Frau dem Mann, die entscheidende Hilfe nicht reichen können! In all solchen Begebenheiten sehen wir den Sieg eines menschlichen »Wir« über das neutestamentliche, apo­sto­lische »Wir«.

Was tun wir dagegen?

Wie helfen wir dazu, dass das apostolische »Wir« bei uns bleibe? Äußere Maßnahmen helfen da wenig. Das Entscheidende geschieht im Kämmerlein. Wie wunderbar! Das apostolische »Wir« wohnt beim einzelnen. Oder vielmehr: es ist da, wo der Geist Gottes in einem Herzen Wohnung hat. Ein Einzelner kann die Gemeinde der Heiligen darstellen. Und wenn er sie nicht zuerst selber darstellt in der Einsamkeit seines Herzens und in der Umschränkung seines persönlichen Lebens, so wird sie auch nicht um ihn sein können. »Wo immer sie sein mögen, da sind sie nicht ohne Gott, und gerade wie einer allein ist, in dieser Weise bin ich mit ihm; richte den Stein auf und dabei wirst du mich finden, spalte das Holz, und ich bin dabei« (ungeschriebenes Wort Jesu).

Eben das »Ich«, das in der Unscheinbarkeit des Alltäglichen mit ganzem Ernst vor Gott steht und stehenbleibt, also das priesterliche Ich, hat auch um sich das apostolische »Wir«. Wo aber Flucht vor der Einsamkeit des Heiligtums oder zuchtloses Ausleben irgendeines menschlichen »Wir«, und wäre es nur im oberflächlichen Geschwätz, da flieht wie der Friede Gottes so auch das apostolische »Wir«. Lavater hat einmal das vielleicht zu stark erscheinende, aber bedeutungsvolle Wort gesagt: »Wer ein geistreiches Witzwort zurückhält, aus Bescheidenheit oder um nicht wehe zu tun, vor dem werden einst die vierundzwanzig Ältesten von ihren Thronen aufstehen.«

Heiligung der Gemeinschaft

Auch, hier gilt: »Diese Art fährt nicht aus denn durch, Gebet und Fasten.« Damit ist nichts Gewaltsames und Unnatürliches gemeint, vielmehr ist gerade höchste Natürlichkeit und tiefste menschliche Harmonie dort, wo der Mensch zu seinem Werk wie zu seinen Nebenmenschen stets geht wie einer, der aus dem Heiligtum kommt und unter ihnen so verweilt, dass er in jedem Augenblick dorthin zurückkehren kann.

Von hier aus wird sich auch alles äußere Zusammenleben geistlich ordnen. Alle gottgegebenen Unterschiede werden sich dabei nach ihrem Ewigkeitssinn entfalten, allerlei irdische Schranken werden fallen, und alle menschlichen Formen des »Wir« werden erst ihre ganze Tiefe und Schönheit offenbaren können, wenn sie keine Hemmung mehr sind, sondern eine Vorbereitung und eine Hilfe für die Gemeinschaft der Heiligen, für das apostolische »Wir«.

Der Herr möge es unter uns nach Seinem Wohlgefallen wirken. Amen.