Im Spiegel der Kirchengeschichte

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Abschrift des des Buches:
Das tausendjährige Königreich Christi auf Erden
von Heinz Schumacher (1964)

Paulus Verlag Karl Geyer, Stuttgart


Inhaltsverzeichnis

weitere Abschriften

In Bearbeitung

D. Das tausendjährige Königreich Christi im Spiegel der Kirchengeschichte

Der Reichsgedanke überliefert in der Menschen Hände

Jesus Christus, der Sohn Gottes, das fleischgewordene Wort, wurde bei Seinem Erscheinen auf unserer Erde in der Menschen Hände überliefert, misshandelt, gekreuzigt, getötet. Aber Er stand am dritten Tage wieder auf.

Dem geschriebenen Gotteswort ergeht es nicht anders. Denn „in den Händen des Geschöpfes entartet alles“ (Karl Geyer). Und so wurde insbesondere der biblische Reichsgedanke im Laufe der Kirchengeschichte in geradezu einmaliger Weise entstellt: von den einen bis zur Unkenntlichkeit mit Zugaben menschlicher Phantasie „geschmückt“, von den anderen durch bloße Verinnerlichung und Vergeistigung verflüchtigt, während wieder andere ihn mit Gewalttat, Brutalität, Krieg und Blutvergießen befleckten, zum Schiboleth sektiererischer Machenschaften herabwürdigten oder völlig totschwiegen. Doch „am dritten Tage“ bricht sich die echte biblische Reichserwartung diesem allem zum Trotz immer wieder unwiderstehlich Bahn.

Angesichts dessen, was eine in den Hirnen und Herzen und Händen sündiger Menschen v e r z e r r t e und m i s s h a n d e l t e Vorstellung des Tausendjährigen Reiches dennoch an Sehnsüchten und Kräften entbunden hat, möchte man ausrufen: Hat die biblische Botschaft vom kommenden Königreich Christi schon in ihrer Missdeutung und Entstellung solche gewaltigen Wirkungen gehabt, welche Segensfülle und Gotteskräfte wird sie dann erst bei der kommenden göttlichen Erfüllung und Verwirklichung in ihrer wahren Gestalt auslösen!

I. Gesamtüberblick

Wer sich in die Geschichte der letzten 1900 Jahre im Hinblick auf die Erwartung des Gottesreiches vertieft, der ist versucht, diese Erwartung der Pendelbewegung einer Uhr zu vergleichen, einer immer neu sich wiederholenden Bewegung zwischen den beiden hauptsächlichen Extremen: Verinnerlichung, Vergeistigung oder Verwirklichung einerseits und erregte Naherwartung eines kommenden sichtbaren Gottesreiches, nicht selten verknüpft mit fleischlichem Eifer, Askese und Martyrium, oder gar Krieg und Gewalt, andererseits.*72

*72 Einen guten Einblick in die Kirchengeschichte vermitteln unter diesem Gesichtspunkt u. a. die Werke : „Das ewige Reich - Geschichte einer Hoffnung“ von Walter NIGG (Artemis-Verlag, Zürich, 2 Aufl. 1954) und „Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen“ von Norman COHN (Francke-Verlag Bern und München 1961), die allerdings nicht ganz unkritisch gelesen werden sollten.

Das menschliche Herz ist ja ein trotzig und verzagt Ding (Jer 17:9 Luther). Einmal will es in aufbegehrendem Trotz fleischlicher Ungeduld das Kommen des zukünftigen Gottesreiches erzwingen, - dann wieder, wenn ihm dies nicht gelungen ist, verzagt es und verlagert das Reich ins Innere, Geistige oder ins Gegenwärtig-Sichtbare. Dass es daneben wohl zu allen Zeiten Gläubige gab, die sich durch Glauben u n d Ausharren (Hebr 6:12) von beiden Extremen bewahren ließen und das Gottesreich nur von Gott her und zur gottgesetzten Stunde erwarteten, darf mit Sicherheit angenommen werden.

Hin und her schwang das Pendel von mehr oder weniger ungeduldiger Naherwartung eine z u k ü n f t i g e n Reiches (erste Generation nach Christus) zur Umdeutung in ein g e g e n w ä r t i g e s Rich der I n n e r l i c h k e i t (Origenes), und wiederum von erregter N a h e r w a r t u n g (Montanismus) zum g e g e n w ä r t i g e n Reich in der K i r c h e (Augustin) und im von Papst und Kaiser gemeinsam regierten „Imperium Christianum“. Eine Form massiver R e i c h s e r w a r t u n g zeigte sich sodann bei den K r e u z z ü g e n, auf die in der Prophezeiung des G e i s t z e i t a l t e r s durch Joachim von Fiore wieder eine Verlagerung ins Innerlich-Unsichtbare folgte. Geißler und Taboriten schürten wiederum den apokalyptischen G l a u b e n an das nahe W e l t e n d e, das sie zum Teil unter G e w a l t a n w e n d u n g herbeizuführen versuchten; in der dann einsetzenden Reformation füllte bei Luther der „liebe j ü n g s t e T a g“, verquickt mit der S t e r b e s t u n d e des einzelnen, sowie die Lehre vom g e i s t l i c h e n Reich der I n n e r l i c h k e i t, (neben dem weltlichen) den Raum der Reichserwartung aus. - Mit Thomas Müntzer und Melchior Hofmann tritt wieder die N a h e r w a r t u n g des Reiches in den Vordergrund, auslaufend in den Versuch der g e w a l t m ä ß i g e n Aufrichtung zu M ü n s t e r, und 100 Jahre später gefolgt von Oliver Cromwell’s „Parlament der Heiligen“. Im P i e t i s m u s , bei den Württembergischen Vätern und den von ihnen beeinflussten Theologen,sowie in den Gemeinschaftsbewegungen konnte nach den langen Jahrhunderten dieser unseligen Pendelbewegung endlich wieder eine gesundere Erwartung des Reiches von G o t t her (ohne menschliches Nachhelfen oder Verlagerung in die Gegenwart) stärker an Boden gewinnen, und diese Anschauung steht bis heute neben einer orthodoxen Haltung, die sich nach wie vor an Augustin und Luther orientiert.

Gewiss ist das Bild vom Pendelschlag insofern unzureichend, als die genannten Bewegungen einander nicht immer ablösten, sondern zum Teil nebeneinander herliefen und -laufen und auch in ihrer Bedeutung sehr verschiedenes Gewicht besaßen. Und doch ist n diesem ganzen Ablauf das Hin und Herr von ungeduldiger, ja oft gewalttätiger Naherwartung des Gottesreiches einerseits und einer (aufgrund des jeweiligen Enttäuschungserlebnisses) folgenden Verlagerung ins Gegenwärtig-Sichtbare (Kirche) bzw. ins Innerlich-Unsichtbare (Geistzeitalter, Seele, Sterbestunde) zweifellos kein Zufall, sondern beruht auf einer inneren Gesetzmäßigkeit.

II. Die einzelnen Etappen

Wir betrachten nun nachstehend einige Etappen der Kirchengeschichte unter dem besonderen Gesichtspunkt: Wie stellte man sich zu der Erwartung eines tausendjährigen Reiches.

1. Das „Enttäuschungserlebnis der frühen Christenheit

Leider hat auch Walter Nigg die von Albert Schweitzer und anderen Theologen vertretene Auffassung übernommen, Jesus selbst sei wohl der erste gewesen, der über das Ausbleiben des Reiches Gottes „enttäuscht“ gewesen sei. Schon auf unserem Gang durch die Evangelien haben wir dargelegt, dass diese Meinung nicht nur auf einem Missverständnis gewisser Jesusworte beruht, sondern auch eine Stellung zum Bibelwort voraussetzt, die uns mit dem Glauben an Jesus Christus und Sein Wort unvereinbar erscheint.

Aber darf man wenigstens von einem „Enttäuschungserlebnis“ der ersten Generation Seiner Jünger sprechen?

Wir sagten weiter oben schon, dass der Heroldsruf Jesu: „Das Königreich der Himmel ist nahe herbeigekommen“ vom Herrn wohl nicht zuerst im Sinne z e i t l i c h e r Nähe gemeint war, trotzdem aber von Seinen Jüngern mehr oder weniger so verstanden worden sein mag. Eine „Enttäuschung“ des Petrus zeigt sich ohne Zweifel in Mt 16:22. Enttäuscht verfolgen die Jünger Jesu Passion. Nach dem Geschehen von Ostern und Pfingsten aber wurde aus der ängstlichen, verschütteten und enttäuschten Schar Seiner Nachfolger eine Gemeinschaft glaubensfroher Zeugen, in deren Reden und Briefen immer wieder der Ton froher Erwartung durchklingt. Dabei wissen sie, ,dass „Zeiten und Zeitpunkte“ die Sache des Herrn sind, und dass 1000 Jahre vor Ihm einem einzigen Tage gleichen. Paulus hält es zunächst für wahrscheinlich, die Parusie, das Kommen des verherrlichten Herrn zu Seiner Gemeinde, noch in seinen Erdentagen zu erleben, er ist aber auch nicht bekümmert, als es ihm, wie seine späteren Briefe zeigen, mehr und mehr zur Gewissheit wird, dass er durch Tod und Auferstehung Ihm entgegengeführt wird.

Aber wie stand es um die von den Aposteln gegründeten und betreuten Gemeinden? Die apostolischen Briefe in ihrer Gesamtheit erwecken nicht den Eindruck, dass sie an völlig verzweifelte und „grausam“ enttäuschte Christen gerichtet sind. Zwar hat es zu allen Zeiten bis in unsere Tage einzelne Christen und auch Kreise von Gläubigen gegeben, „die es nicht abwarten konnten“, die unberechtigterweise mit Daten und Terminen rechneten und dann enttäuscht wurden. An solche in der Gemeinde mag z. B. das Trostwort in 2Peter 3:8.9 gerichtet gewesen sein. Aber wenn W. Nigg eine „grenzenlose Enttäuschung“ und „wildeste Verzweiflung“ feststellen will und sagt: „So grausam, wie man nur Kinder enttäuschen kann, so grausam ist auch der kindliche Glaube an die Reicherwartung enttäuscht worden“ (Ni (61-62), so kommen wir nicht umhin, hinter diesem Satz - so gewiss es damals in den Gemeinden auch enttäuschte Herzen gegeben haben wird - ein Fragezeichen zu setzen und erstaunt zu fragen: Gegen wen richtet sich denn dieser vorwurfsvolle Satz? Gegen Gott? Hat Er vergessen, Sein Wort einzulösen, oder doch es p ü n k t l i c h einzulösen? - Nein: Wenn wirklich in einzelnen Fällen das „Enttäuschungserlebnis“ der ersten Generation von Christusgläubigen so „grenzenlos“, „grausam“ und „niederschmetternd“ war, wie W. Nigg es darstellt, dann lag die Ursache dazu nie und nimmer in einem Veragen unseres Gottes, einer Unpünktlichkeit oder gar einem Nichterfüllen Seiner Versprechungen, - sie kann nur darin gesucht werden,d ass man mit dem Wort Christi und der Apostel falsche Zeitberechnungen verband, weil man nicht warten konnte wie ein Abraham, der im Glauben seinen Weg ging, auch ohne die Erfüllung der göttlichen Zusagen zu schauen.

Daher wird man sagen dürfen: Die wahren Gläubigen der damaligen Zeit, die echten geisterfüllten Glieder der Gemeinde Christi, werden dieses „Enttäuschungserlebnis“, soweit sie das Ausbleiben der Parusie zu ihren Lebzeiten überhaupt als Enttäuschung empfanden, kraft ihres Glaubens bald überwunden haben. Für sie stand vor allem eines unverrückbar fest: dass Gott S e i n W o r t einlöst! War nun die „erfüllte Zeit“ (Gal 4:4) für das Wiederkommen Seines Sohnes nicht schon ihre irdische Lebenszeit, dann eben eine spätere.

2. Fleischliche Vorstellungen im 2. und 3. Jahrhundert

So fehlte es auch im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. nich an Vertretern der Erwartung eines tausendjährigen Reiches Christi auf Erden. J u s t i n von Sichem (um 150), Pa p i a s von Hierapolis (um 140), der Bischof von Lyon I r e n ä u s (gest. um 202), der Nordafrikaner und Schöpfer der lateinischen Kirchensprache T e r t u l l i a n (gest. um 222) sowie Laktantius (250-33)) standen mit vielen anderen uns überlieferten Namen in der Erwartung des Königreiches. Freilich schreckten sie z. T. nicht davor zurück, die bei aller heiligen Freude doch stets nüchternen und keuschen Aussagen des Wortes Gottes mit Vorstellungen phantastischer Art zu mischen. So schildert Papias die Fruchtbarkeit der Natur im Königreich Christi mit folgendem fälschlich Jesus untergeschobenem Wort: „Es werden Tage kommen, da werden Rebstöcke wachsen, von denen ein jeder zehntausend Schösslinge hat, und jeder Schössling zehntausend Zweige, und an jedem tragenden Zweig zehntausend Triebe, und an jedem Trieb zehntausend Trauben, und an jeder Traube zehntausend Beeren, und jede Beere gibt fünfundzwanzig Maß Wein. Und wenn ein Heiliger nach einer Beere greift, wird eine andere rufen: ‚Ich bin die süßere Traube; nimm mich und danke durch mich dem Herrn!‘ Gleicherweise sagte Er (der Herr), dass ein jedes Weizenkorn zehntausend Ähren treiben werde, und jede Ähre zehntausend Körner, und jedes Korn werden zehn Pfund des feinsten Mehls, gesiebt und rein; und Äpfel, Samen und Gras werden im gleichen Verhältnis gedeihen ... Aber Judas, der ein ungläubiger Verräter war, fragte: ‚Wie kann der Herr solches Wachstum zuwege bringen?‘ Und der Herr antwortete: ‚die, die in jenen Zeiten sein werden, werden es sehen.‘“ (Nach COHN/19)

Von Laktantius findet sich das immerhin noch schriftnahe Bekenntnis über die Zeit des Tausendjährigen Reiches: „Während dieser Zeit erstrahlen glänzender die Sterne, die Sonne nimmt an Helligkeit zu, der Mond wird keine Abnahme mehr erleiden ... alle Frucht erzeugt die Erde ohne Mühe der Menschen. Honig in Fülle träufelt von den Felsen, Quellen von Milch und Wein brechen hervor. Die Tiere der Wälder legen ihre Wildheit ab und sänftigen sich“ (nach Ni/56). - Cerinth, dessen Bild nach der Überlieferung recht uneinheitlich ist, soll gelehrt haben; „dass nach der Auferstehung Christi das Reich Christi auf erden sein werden und dass die Leiber in Jerusalem leben und sich wiederum Leidenschaften und Vergnügungen hingeben ... und ein Zeitraum von tausend Jahren in freudiger Hochzeitsfeier verfließen werde“ (nach Ni/51). - Doch sei auch das feine Wort des Irenäus genannte, womit er begründet, warum sich das Königreich Christi a u f dieser E r d e befindet: „Denn sie sollen in dieser selben Schöpfung, darin sie sich abquälten, gepeinigt und durch jede Art von Leiden geprüft werden, den Lohn für ihre Leiden erhalten; und sie sollen in eben dieser gleichen Schöpfung, darin sie um ihrer Gottesliebe willen den Tod erlitten, zu neuem Leben erweckt werden; und in dieser selben Schöpfung, darin sie Knechtschaft erduldeten, sollen sie auch herrschen. Denn Gott ist reich an allen Dingen, und alle Dinge sind Sein. Und deshalb ist es richtig, dass die ganze Schöpfung, wenn sie zu ihrem Urzustand zurückkehrt, ohne Einschränkung unter der Herrschaft der Gerechten stehe“ (nach COHN/19).

3. Origenes inwendiges Reich

und der „Stimmungsumschwung“ in der alten Kirche.

In der Gestalt des Origenes tritt dem „Chilasmus“ (= der Lehre vom Tausendjährigen Reich, von dem griechischen Zahlwort chiliioi = tausend) im 3. Jahrhundert in der alten Kirche der erste kräftige Widerstand entgegen. Wie später Augustin, so nahm schon Origenes besonders an den phantasievollen Ausmalungen der irdischen Reichserwartung, etwa durch Papias, Anstoß. Doch beschränkte er sich keineswegs darauf, ,solchen Übertreibungen den Kampf anzusagen, sondern lehnte ein sichtbares, irdisches Königreich überhaupt ab.

„Mit Origenes“, sagt Walter Nigg (Ni/77), „setzt in der christlichen Kirche die systematische Bekämpfung des Chiliasmus ein, die nicht ruhte, bis er zur Häresie gestempelt wurde ... bloße Buchstabenchristen würden die Verheißungen der Bibel auf ein Reich beziehen, für das sinnliches Behagen und irdischer Genuss charakteristisch ist. Nur diese würden nach der Auferstehung fleischliche Leiber begehren, mit denen sie weiter essen und trinken, eheliche Verbindungen eingehen und Kinder zeugen könnten. Origenes hielt sch über die Christen auf, die sich ‚einbilden, Jerusalem werde als irdische Stadt auf einem Grunde von kostbaren Steinen wieder aufgebaut werden‘. Er betrachtete dies Vorstellung als grobschlächtig und unannehmbar. ‚Die ist die Denkart derer, die sich zwar Christen nennen, aber in ziemlich jüdischem Sinn die Schrift erklären und nichts, was göttlicher Verheißung würdig wäre, darin finden ... Pneumatische Christen sind überzeugt, d,ass sie ein Reich erlangen werden, aber nicht irgendwo auf Erden, gleich den irdisch gesinnten Juden, sondern im Himmel.‘ Es ist der griechische Idealismus und nicht der urchristliche Realismus, der sich in Origenes’ Worten gegen den Chiliasmus auflehnt, den er in seiner Geistigkeit als fremd empfand.“

Vom griechischen Idealismus herkommende, strebte Origenes eine Verbindung vom Christentum und Griechentum an. Diese Synthese ließ ihn die Aussagen der Bibel, vor allem des AT, über das Königreich Gottes auf Erden vergeistigen. „Nur den Kindern könne man es nachsehen, wenn sie das Kommen des Herrn auf den Wolken des Himmels wörtlich verstehen, nicht aber dem Pneumatiker. Für den Freund Gottes, der in den tieferen geistigen Sinn der Schrift eingedrungen sei, bedeute die zweite Ankunft kein leiblich-sichtbarer Vorgang, sondern ein geistig-inneres Geschehen .... Origenes fasst die Wiederkunft Christi zum Gericht symbolisch auf. Weder der Ort des Gerichtes noch das Sitzen Christi auf dem Thron sei wörtlich zu verstehen. Das Gericht vollziehe sich geistig durch eine Offenbarung Christi in den Seelen der Menschen ... Wenn der Christ ‚um das Kommen des Reiches Gottes betet, so betet er offenbar vernünftigerweise darum, dass da in ihm befindliche Reich Gottes emporwachsen und Frucht bringen möge‘“ (NI/74)

So setzt mit Origenes, der gewiss auch viel Wertvolles, Bereicherndes, Lichtbringendes der alten Kirche zu sagen wusste und ein Hauptvertreter der Lehre von der Apokatastasis (Wiederbringung aller Dinge) war, jene üble Methode der Auslegung der Schrift und insbesondere ihrer Königsreichs-Verheißungen ein, die man die v e r g e i s t i g e n d e (spiritualisierende) nennt, die leider bis in unsere Zeit hinein so viel Verdunklung und Verwirrung in der Erkenntnis des prophetischen Wortes hervorrufen sollte.*73

*73 Dass die Erwartung sichtbarer Herrlichkeit und materieller Segnungen im Tausendjährigen Reich nicht ohne weiteres „fleischlich“ ist, dass es sich vielmehr an etwas ganz anderem entscheidet, ob eine Erwartung „fleischlich“ oder „geistlich“ ist, zeigt Johannes Conrad (Con/52) mit folgenden Worten:
“Es ist ein großer Irrtum, die Erwartung des Gottesstaates ohne weiteres als fleischliche, jüdische Messiashoffnung abzutun. Fleischlich ist jede Erwartung, bei der der Mensch sich selbst mit seinen Herrschafts- und anderen Gelüsten in den Mittelpunkt stellt. Aber Gott gab Seine Verheißungen nicht zur Befriedigung des Fleisches. Sie sind alle auf Verherrlichung Gottes gestimmt (Hes 36-39). Die Glieder Neu-Israels heißen ‚Pflanzung des Herrn zum Preise‘ (Jes 61:3). Sie dienen einzig und allein zur Verherrlichung Gottes mit ihrem ganzen erlösten Sein ... So gibt es auch eine geistliche, dem Geist der Verheißungen gemäße Erwartung."

Überhaupt kam es nun nach W. Nigg in der frühen Kirche zu einem „Stimmungsumschwung“, den der Schweizer Kirchenhistoriker wie folgt beschreibt: „Während man zuerst einfach den Glauben aufgab, das Kommen des Reiches selbst zu erleben, bestand der weitere Schrift darin, auch kein Verlangen mehr zu haben, bei dem Hereinbruch selbst dabei zu sein. Tertulllian sprach jenes Glaubensbekenntnis der Fernerwartung unumwunden aus, über das man nur den Kopf schütteln kann: ‚Wir wünschen es nicht zu erleben, und indem wir um Aufschub dieser Dinge beten, befördern wir die Fortdauer Roms‘ ...Welcher Wandlung ist doch die christliche Seele fähig! Was man zuerst sehnlichst begehrte und nachher ein schmerzliches Enttäuschungserlebnis war, das wünschte man schließlich nicht einmal mehr zu erleben. Während sich noch Paulus vor Sehnsucht verzehrte und am liebsten abzuscheiden wünschte, um bei Christus zu sein, währende die Offenbarung Johannes’ zitternd vor bebender Erwartung mit dem glühenden Stoßseufzer schließt: ‚Amen, ja komme, Herr Jesu, komm bald‘, beteten die Christen des zweiten Jahrhunderts b bereits: Nein, Herr, komme lieber nicht, wir bitten um Aufschub des Reiches! Wie unergründlich ist doch das menschliche Herz und wie unbeständig in dem, was es begehrt! ... Die Kirche fühlte sich fortan nicht mehr als ‚die gemeinde in der Fremde‘, sie hatte sich wohnlich eingerichtet auf dieser Welt und rechnete mit einem langen Aufenthalt. Das Erdgefühl hatte über die Reichssehnsucht gesiegt. Das brennende Verlangen, auf den Wolken des Himmels dem Herrn entgegen gerückt zu werden, war den Christen unbekannt geworden. Das eigene sichtbare Sein auf dieser Welt war ihnen mehr wert als eine Hoffnung auf ein zu erwartendes Reich. Die Christenheit hatte an sich selbst Genüge gefunden und verlangte nicht mehr nach dem wiederkommenden Herrn. Von dieser altkirchlichen Einstellung führt eine gerade Linie zu Dostojewskis Großinquisitor, der Christus aus dem gewölbten Verlies hinaustreten ließ und Ihn mit den schrecklichsten Worten, die ein Mensch nur aussprechen kann, verabschiedete: ‚Geh und komme nie wieder ... komme überhaupt nicht mehr ... niemals, niemals.‘“ (Ni/77)

4. Die Reicherwartung der Montanisten

Nicht nur, weil „das menschliche Herz viel zu sehnsüchtig veranlagt ist, als dass es sich durch seine bittere Erfahrung irremachen ließe“ (Nigg), brach die unmittelbare Naherwartung des Königreiches Christi im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder durch, sondern vor allem doch wohl deshalb, weil dieses Reich von Gott den Menschen nun einmal in einer Vielzahl von Verheißungen eindeutig zugesagt ist und es zu allen Zeiten Menschen gibt, die diesen Gott beim Wort nehmen, auch auf die Gefahr hin, als rückständige oder gar fleischliche „Buchstabenchristen“ verspottet zu werden.

So lief eine Bewegung, an deren Spitze ein gewisser M o n t a n u s stand, etwa zeitlich parallel zudem Verschmelzungsprozess von griechischer Philosophie und Christentum durch Origenes. Den „großen Gegenspieler der Gnosis“ nennt sie W. Nigg. Die wiederentdeckte Gabe der Weissagung, das Auftreten von Prophetinnen, Gesichte, Stimmen und Zungenreden, das Ziel einer „Geisteskirche“ und die Verehrung des führenden Montanus als des geweissagten „Parakleten“ (Fürsprechers, Trösters) sind Kennzeichen des Montanismus. Dazu trat eine ausgesprochene Naherwartung des Reiches von dem Augenblick an, da „der in der Person des Montanus verkörperte Paraklet der Christenheit die aufregende Mitteilung zugehen ließ, dass das Kommen des Reiches unmittelbar bevorstehe“ (Ni/82). In den Versammlungen der Montanisten erschienen weiß gekleidete Jungfrauen, ,die in den Händen brennende Lampen trugen, um ihrer erregenden Erwartung symbolischen Ausdruck zu verleihen. Eindringliche Bußpredigten, Erneuerung der Askese, Verschärfung der Fastenordnung, Verbot des Kriegsdienstes und begeistertes Märtyrertum sollten einerseits der Verweltlichung der Kirche entgegenwirken, andererseits dem kommenden Herr eine „würdige Braut“ darbringen helfen.

Da ber der Herr nicht kommt, wenn Menschen es ersehnen und es in noch so glühendem Eifer erzwingen wollen, sondern wann der Vater die Stunde für gekommen hält (Apg 1:7), erwies sich die Weissagung des „Parakleten“ Montanus als trügerisch, und der Sehnsucht musste, wie immer, wenn man das Kommen des Königs zu einer bestimmten zeit oder auf einen bestimmten Termin erwartete, die Enttäuschung folgen.

5. Das kirchengeschichtliche Missverständnis

Wohl keine Deutung (besser: Umdeutung) des biblischen Königreichs-Gedankens hat sich so lange halten können und solch schwerwiegende Folgen in Lehre und Leben der Kirche gehabt wie die kirchengeschichtliche.

Der Übertritt des römischen Kaisers Konstantin zum Christentum und damit der „Sieg“ des Christentums über das Heidentum im 4. Jahrhundert bildeten den geschichtlichen Hintergrund zu dieser neuen Verlagerung des Reichsgedankens, die vor allem mit dem Namen des Kirchenvaters A u g u s t i n (Bischof von Karthago, gest. 430) verknüpft ist.

Augustin stand dem Chiliasmus (Erwartung eines irdischen Tausendjährigen Reiches) zunächst nicht feindlich gegenüber. Er hatte „selbst noch in den ‚sermones‘ einen Weltensabbat von tausend Jahren am Ende dieser Weltzeit erwartet, um dann in ‚de civitate Dei‘ von dieser Lehre abzurücken. Dieser Wandel war bei ihm vorbereitetet durch die ihm auf den Nerven gehenden Phantastereien der Chiliasten und wurde vollzogen, ,als der große Kommentar des Tyconius ihm zu Gesicht kam. In dieser Erklärung von Offb 20 wurde das Tausendjährige Reich verstanden als eine Zeit der Kirche. Kirche und Tausendjähriges Reich sind eins. Jesus hat durch Seine Wirksamkeit auf Erden den Satan gefesselt, die „erste Auferstehung“ wird mit der Auferstehung der Gläubigen in der Taufe gleichgesetzt. Augustin übernahm diese reicht einfache und scheinbar alle erklärende Exegese und deckte sie für die folgenden Jahrhunderte mit seiner überragenden Autorität. Wer in der Folge etwas über Offb 20 sagen wollte, der tat es in den Gedankengängen Augustins. Für die katholische Kirche ist es im großen und ganzen bis auf den heutigen Tag bei diesem Verständnis unseres Textes geblieben. Vielleicht nicht zuletzt deshalb,weil diese ‚kirchengeschichtliche‘ Deutung von Offb 20 dazu dienen könnte und kann, allerlei Weltwirtschaftsansprüche der Kirche biblisch zu legitimieren“ (Bie/8).

Dass diese Auslegung biblisch unhaltbar ist, wird vor allem an dem Punkt „Bindung Satans“ deutlich. Während einige kirchengeschichtlich deutende Ausleger die Bindung Satans in der Erdenwirksamkeit Jesu sehen (Mt 19:29) und Karfreitag und Ostern als den Beginn des Tausendjährigen Reiches betrachten, lässt z. B. ein H. Bullinger in einem 1559 erschienenen Kommentar dass Millennium „entweder mit Christi Himmelfahrt oder mit der Gefangenschaft Paulis in Rom oder dann mit der Zerstörung Jerusalems beginnen. Dies drei Ereignisse trugen nach ihm am meisten zur Verbreitung des Evangeliums durch die Apostel bei, d. h. zur Bindung Satans.“ (Bie/20). Zur kirchengeschichtlichen Auslegung schreibt Dr. R. Pache: „Wenn dem so wäre, so müsste man die messianische Herrschaft eine wirklich jämmerliche nennen; denn es hat durchaus nicht den Anschein, als sei Satan gebunden und außerstande, die Völker zu verführen. Oder er müsste - wie es einmal jemand gesagt hat - an einer schrecklichen langen Kette liegen“ (nach Sa I/145). Und Bietenhard bemerkt zu Recht: „Dieser Vers (Offb 20:3) bildet eine der stärksten Stützen der endgeschichtlichen Deutung des Millenniums und ist schon für sich allein geeignet, der kirchengeschichtlichen Deutung allen Boden zu entziehen: ausdrücklich wird hier festgestellt, dass währende der 1000 Jahre Satan keine Möglichkeit hat zur Betätigung. (Bie/21) Nein, eine Bindung Satans hat es, obwohl er „de jure“ (rechtlich gesehen) längst von Christus besiegt und entwaffnet ist (Kol 2.14.15 u. a.), ‚de facto‘ (praktisch und tatsächlich) bisher nicht gegeben. Man wundert sich nur, dass sich eine solche Verzerrung der wirklichen Sachlage Jahrhunderte hindurch hat behaupten können - der orthodoxe Theologe Hengstenberg teilte sie noch im 19. Jahrhundert! - , während die E rfahrung dort fortdauernd das Gegenteil bewies und die Schrift erklärt, dass erst beides, Weizen und Unkraut, Licht und Finsternis, Gottesherrschaft und Satansherrschaft, m i t e i n a n d e r wachsen m u s s, ja, Satan mit seinen Engeln schließlich sogar für 3 1/2 Jahre a u f die E r d e herab g e w o r f e n wird, ehe das Königreich Christi kommt (Mt 13:30: Offb 12:7ff.)*74

*74 Einen Wahrheitskern, den die kirchengeschichtliche Deutung trotz allem enthält, ,schält Bietenhard mit folgenden Worten heraus und versucht so den Gegensatz zur endgeschichtlichen Deutung zu milder: „In Offb 20 ist nur von der Königsherrschaft Jesu Christi und der Heiligen am Ende dieses Äons die Rede. Augustin und seine Nachfolger lesen in den Text von Offb 20 unberechtigterweise die an sich richtige Erkenntnis hinein, dass Jesus Christus schon jetzt als König und Herr über den Kosmos herrscht. Tyconius, Augustin und ihre Nachfolger betonen kräftig die gegenwärtige Königsherrschaft Jesu Christi über die ganze Welt und Schöpfung, die Chiliasten betonten nicht minder kräftig die endzeitliche Vollendung und Herrlichkeit dieser Herrschaft auf Erden. Beide Gedanken sind nicht, wie man das immer gemeint hat, in einem diametralen Gegensatz zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig.“ (Bie/71)

Wo die kirchengeschichtliche Deutung von Offb 20:1-10 angenommen wurde, erlosch jedwede Reichserwartung! Das Reich war ja da, war Gegenwart! Und neben dieser Deutung ließ man keine endgeschichtliche mehr gelten. Die Königsherrschaft Christi deutete man als die gegenwärtige Herrschaft des Christen über Sünde und Anfechtung. Christi Kommen erschöpfte sich in Seinem Kommen zum einzelnen im Geist bzw. in der Sterbestunde, der in der Folgezeit eine immer größere Bedeutung zuerkannt wurde. An die Stelle der Erlösung, die Christi Kommen für die Seinen und für die Welt bedeutet, trat die egozentrische Erlösung, die Erlösung des einzelnen Christen.

Mit Recht sagt Walter Nigg(Ni/97): „Die Behauptung ‚schon jetzt ist die Kirche das Reich Christi‘ ist eine der umstürzendsten Auffassungen. Sie stellt all das, was die Christenheit bis zu Konstantin über das Reich geglaubt hatte, auf den Kopf ... Augustins Aussage ist eine nicht mehr zu überbietende Umdrehung, die das Reich von einem Gegenstand der Hoffnung in einen solchen des Besitzes verwandelte, wurde die Kraft der Reichserwartung gebrochen.“ Mit Augustin steigerte sich das kirchliche Selbstbewusstsein zu einem ungeheuren Machtbewusstsein: „Erst die Übertragung der Reichsidee auf die irdische Kirche verlieh ihrem anstaltsmäßigen Ausbau mit dem Papst als Statthalter Gottes auf Erden und der Sakramentenspendung jenen letzten Glanz ... Nur aus dieser Identifizierung der Kirche als Reich ist auch der tiefste Sinn der Parole zu verstehen, ‚außerhalb der Kirche kein Heil‘. Dadurch wird jegliche Kritik am kirchlichen Dogma sofort als unerträgliche Ketzerei geahndet ... Die Gleichsetzung der Kirche mit dem Reich verhalf ihr zu jener ungeheuren Kraft, mit der sie den Pforten der Hölle zu widerstehen imstande war. Daraus ist auch eine gewaltige Hierachie mit den feingeschnittenen Priesterköpfen, den farbigen Gewändern und dem schimmernden Kerzenlicht hervorgegangen, und durch ihr Leuchten, Klingen und Duften vermochten sie eine solch sinnenbetörende Wirkung auszuüben. Auch ihre unerschütterliche Autorität steht mit dieser Identifikation im Zusammenhang, die anlehnungsbedürftigen Menscheen das beruhigende Gefühl der Geborgenheit im Leben verheißt. All die glänzende Pracht, welche die Kirche zu entfalten versteht, und nicht weniger ihre bewundernswürdige Organisation, die strenge Gebote mit milder Herrschaft zu verbinden weiß, ist aus dieser Wurzel erwachsen.“ (Ni/100)

Mit der kirchengeschichtlichen Deutung des Reichs hing es auch zusammen, ,dass man um das Jahr 1000, und hernach um das Jahr 1033 (1000 Jahre nach Christi Tod und Auferstehung), die nochmalige Loslassung Satans und das Ende der Welt erwartete. Doch nichts Außergewöhnliches geschah. Man wurde jedoch durch das Ausbleiben des Weltendes nicht etwa ernüchtert, sondern meinte, es sei eben entweder der Beginn der 1000 Jahre noch später anzusetzen oder aber die Zahl 1000 nicht wörtlich zu verstehen. Der Herrschaftsanspruch der Kirche blieb, ja steigerte sich im Frühmittelalter ins Ungemessene, als sich Kirche uns Staat nicht mur zu gemeinsamer Weltherrschaft verbanden, sondern die Päpste sogar die Unterordnung des Kaisertums verlangen und eine Zeitlang (vgl. den berühmt gewordenen „Gang nach Canossa“ Kaiser Heinrich IV. zu Papst Gregor VII. im Jahre 1077) auch erreichten.*75

*75 Wie wahr ist doch Ströters Urteil über die Weltreiche dieses Zeitalters: „ Ihrem Charakter und Wesen nach bleiben die großen Weltreiche B e s t i e n. Alle tragen Tiere im Wappen als beliebtestes Abzeichen: Adler, Löwen, Bären. Es ist einmal so: Solange das gegenwärtige Zeitalter dauert, haben wir sowenig christliche Staaten im eigentlichen Sinne, als es christliche Löwen, Bären und Tiger gibt ...“ (Strö/80)

6. Kreuzzüge - Joachim von Fiore - Geißler - Taboriten

Das tausendjährige Königreich Christi war in der Kirche gegenwärtig. So meinte man. Dennochzeigte sich sehr bald, dass die Reichserwartung im Raum der Kirche nicht eingefangen, gezähmt, gebändigt werden konnte. Sie wurde lediglich „verdrängt“. Zuerst in den K r e u z z ü g e n brach dieser „verdrängte Chiliasmus“ (Nigg) wieder hervor.

Im Jahr 1033, in welchem man das Kommen Christi erwartete, setzte eine Massenwallfahrt nach dem Grab des Erlösers ein. Man wollte beim Hereinbrechen des Endes der Welt auf dem Wege nach Jerusalem sein. Auch bei den späteren Zügen nach Jerusalem standen solche Motive im Hintergrund. Im Jahr 1095 rief Papst Urban II. die christliche Ritterschaft auf, mit einem christlichen Heer dem bedrängten Byzentinerreich zu Hilfe zu eilen und den Türken das Heilige Land wieder zu entreißen. Dieser Aufruf fand ein unerwartet starkes Echo; mit dem Ruf „Gott will es!“ versammelten sich die Ritter in hoher Begeisterung zum „heiligen Krieg“. Ihnen schlossen sich, aufgestachelt von reisenden Predigern und Agitatoren, unter denen der Einsiedler und Asket „Peter der Eremit“ eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Massen der Armen ausübte, ganze Horden von Hungersnöten und Pest gepeinigter Menschen, dazu ganze Familien heilsuchender Armer sowie Abenteurer und Weglagerer an. Für diese Massen hatte der Kreuzzug eine wesentlich andere Bedeutung als für den Papst. Ihnen ging es darum, Jerusalem zu erobern und zu besitzen, jene Stadt, die sie wie ein Magnet anzog, weil sie in ihrem Denken das irdische Jerusalem mit der Vorstellung des himmlischen vermischten. Sie nahmen Jerusalem ein und richteten dort ein ungeheures Blutbad an. - Hinter allen Kreuzzügen stand als heimliche Triebkraft die irregeleitete Sehnsucht nach jenem Reich, dessen Ausgangspunkt und Mittelpunkt das von allen Feinden gesäuberte und Christus gehörige Jerusalem bildet. Sie verlieh -neben Landmangel, Hunger, Pest, Abenteurerlust - den Kreuzfahrern den ungestümen Drang zum Heiligen Land allerdings auch die entsetzliche Grausamkeit der großen Massen der Armen, über die die offiziellen Führer des Kreuzheeres nicht die geringste Macht hatten.

Von einer ganz anderen Seite zeigt sich der Chiliasmus bei dem Abt und Bibelausleger J o a c h i m von F i o r e (1145-1202), der auf die Menschen des 13. und 14. Jahrhunderts von größtem Einfluss war. An einem Pfingstmorgen eines nicht genau bekannten Jahres überkam ihn ganz neues Licht der Erkenntnis in Bezug auf die Apokalypse, das letzte Bibelbuch, und sie „systematische innere Bezogenheit des AT und NT“. Er erwartete fortan eine dritte Weltordnung, die er (nach den zwei Zeitaltern des Vaters und des Sohnes) die des Heiligen Geistes nannte, einen paradiesischen Zustand, da alle von Gott selbst gelehrt seien. Als Mönch konnte er in den „zukünftigen Geistesmännern“ mit deren Auftreten das Tausendjährige Reich der Heiligen auf Erden aufgerichtet werde , ebenfalls nur Mönche sehen. Da er dem Zeitalter des Vaters eine Dauer von 1260 Jahren zuschrieb und nach seiner Idee des Parallelismus, nach welcher alle Geschehnisse im Neuen Bund ihr Vorbild im Alten haben, das Zeitalter des Sohnes ebenso lange währen musste, erwartete er den Anbruch des dritten Zeitalters auf das Jahr 1260! - Die Lehre Joachims wurde von der Kirche verurteilt, fand aber trotzdem oder gerade deswegen eine rasche Verbreitung, sonderlich durch den Franziskanerorden. Schließlich musste durch das Ausbleiben eines neuen Zeitalters 1260 auch die Erwartung der Joachimiten mit einer Enttäuschung enden, und die beginnende Inquisition rottet alle Anhänger des Abtes von Fiore mit äußerster Brutalität aus. -

Norman Cohn deutet in seinem Werk „Das Ringen um das Tausendjährige Reich“ auch die G e i ß l e r b e w e g u n n g im Lichte der Erwartung eines Tausenjährigen Reiches (Cohn/114-134). Von mehreren italienischen Städten aus breiteten sich um 1260 - als man nach der Prophezeiung Joachims von Fiore den Anbruch des „Geistzeitalters“ erwartete - sogenannte Geißlerzüge auch nach Deutschland hin aus, wo sie die süddeutschen und rheinischen Städten sowie später vor allem in Thüringen auftraten. Ihre Praxis bestand darin, sich in der Regel für 33 1/2 Tage (nach der Zahl der Jahre, die Jesus auf Erden gelebt habe) zu öffentlichen Selbstgeißelungen zusammenzuschließen. Während dieser Zeit durfte man „weder baden, noch sich rasieren, noch die Kleider wechseln, noch in weichen Betten schlafen“. In den Städten, durch die die Geißler (oder „Flagellanten“) kamen, traten sie meist vor den Kirchen auf. Nach einer vorbereitenden Geißelung, bei der man, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, in Form eines Kruzifixes bewegungslos auf der Erde lag und die Nachfolgenden mit Geißelhieben über die bereits Liegenden hinwegschritten, stand man auf und vollzog unter dem Gesang feierlicher Passionschoräle die Selbstgeißelung: mit den aus Lederstreifen bestehenden und mit eisernen Nägeln gespickten Geißeln schlug man so lange auf den eigenen Körper ein, bis „das Blut bis zu den Wänden spritzte und der Körper sich eine Masse geschwollenen Fleisches verwandelte“. Dies wurde täglich z zweimal öffentlich und ein drittes Mal abends in der Schlafkammer vollzogen.

Die Geißler fühlten sich als Märtyrer, die wie Christus stellvertretend die Sünden der Welt auf sich nahmen und den Untergang der Welt verhüteten. Sie beriefen sich in ihrem Tun auf eine himmlische Botschaft, das Geheiß eines Engels. Die gräßliche Pestkatastrophe der Jahre 1348/49 die „nach Schätzung seriöser heutiger Autoritäten etwa ein Drittel der Bevölkerung“ hinwegraffte, gab der Geißlerbewegung neuen Auftrieb, ließ sie aber zugleich „in eine militante, blutdürstige Jagd nach dem Tausendjährigen Reich einmünden“. Viele Geißler lebten in dem Glauben, ihre 33 1/2 Tage währenden Geißelungen seien nur ein Anfang, dem nach Verlauf von 33 1/2 Jahren die Rettung der Christenheit durch das Erscheinen eines streitbaren Heilandes und Kaisers und Gottes folgen musste.

Im Gegensatz zu den italienischen Flagellanten stellten sich die deutschen Geißler dem Papst und der Geistlichkeit entgegen. Nach Ausbruch der Beulenpest trat dazu - in der Annahme, die Juden hätten die Brunnen vergiftet und so die Pest verursacht - ein schrecklicher Judenmord; „den größten vor unserem Jahrhundert“ nennt ihn Norman Cohn. Neben Geistlichen und Juden waren die Reichen - in Fortführung früherer Massenaufstände - das Ziel ihrer Angriffe. Schließlich machten ihnen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die geistliche und weltliche Obrigkeit gemeinsam ein Ende, nachdem sich in den sechziger Jahren ein gewisser Konrad Schmid als König von Thüringen, als wiedererweckter Kaiser Friedrich, ja als menschgewordener Gott ausgegeben haben und für 1369 den Anbruch des Millenniums prophezeit haben soll.

Alles zusammen: Pestkatastrophen und Erdbeben, öffentliche Selbstgeißelungen und schreckliche Judenprobleme, Streit zwischen Geißlern und Klerikern, Auftreten gewisser „Endzeitkönige und -propheten“ sowie die immer neue Nennung bestimmter Termine für den Hereinbruch eines neuen Zeitalters, des Tausendjährigen Reiches, gaben jener Zeit ein so unruhiges, ja stürmisches Gepräge jäher religiöser Leidenschaft und bangen und zugleich glühender Erwartung. -

Nicht anderes als den Anhängern Joachims und den Geißlers erging es den T a b o r i t e n, die im 15. Jahrhundert chiliastische (auf das Tausendjahrreich gerichtete) Hoffnungen mit sozialen Bestrebungen (vor allem des Bauernstandes) verbanden. Als in der Osterzeit 1419 einige vertriebene hussitische Geistliche auf einem Hügel in Südböhmen einen tschechischen Gottesdienst abhielten, kam es zu einer ungewöhnlichen religiösen Begeisterung, in der sie den Hügel (wie den Verklärungsberg) Tabor nannten (daher „Taboriten“). Nach ihrer Überzeugung war das Ende dieser Welt nahe herbeigekommen. Etliche erwarteten den Beginn des Gottesreiches, in dem sie, die Taboriten, göttliche Vergeltung üben sollten, auf den Februar 1420. Leider begannen sie, ohne das Kommen Christi abzuwarten, ,mit der Zerstörung von Schlössern, Klöstern und Kirchen, in deren Folge es zu den schrecklichen Hussitenkriegen kam. Auch bei ihnen verband sich mit der Erwartung des Gottesreiches brutale Gewalt, deren Opfer sie schließlich selber wurden.

7. Die Reichserwartung bei Martin Luther

Dam sich Calvin in Bezug auf die Reichserwartung der alten Augustinischen Idee vom „Reich in der Kirche“ anschloss und diese fortentwickelte, sei hier von den Reformatoren nur Luther etwas näher ins Auge gefasst, bei dem der Reichsgedanke wieder eine ganz neue Bedeutung und Prägung erfuhr.

Es muss leider festgestellt werden, dass auch die Reformation, die in der Frage der Rechtfertigung wieder zum urchristlichen Wortzeugnis zurückfand, in der Frage der Reichserwartung nicht den gleichen Weg ging. Luther und den anderen Reformatoren war es nicht gegeben, die alt- und neutestamentlichen Verheißungen des kommenden Königreiches wieder auf den Leuchter zu stellen. Neben dem Luther, der sich aufs Wort und nur aufs Wort berief, stand ein anderer Luther, der „seiner Auffassung widersprechende biblische Aussagen mit der Bemerkung auf die Seite schieben“ konnte, „dass es zweierlei Wort in der Schrift gebe, eines, das ihn treffe, und ein anderes, das ihn nichts angehe“ (Ni/145).

Durch seine großen Kampfschriften wurde seine Vermutung bekannt, der Papst sei der geweissagte Antichrist, ja nicht nur ein einzelner Papst unsittlicher Lebensführung, sondern das Papsttum als Institution! Daher war Luther der Meinung, die Endzeit sei angebrochen. Er lebte in einer ausgesprochenen Naherwartung der Wiederkehr Christi, des „Jüngsten Tages“, der für ihn, je länger er sich damit beschäftigte, seinen furchterregenden Charakter verlor und ihn vom „lieben Jüngsten Tag“ reden ließ.

Und doch war diese Naherwartung nicht die urchristliche Erwartung des Millenniums! Luther verquickte den „Jüngsten Tag“ vielmehr mit der Sterbestunde des einzelnen. Von einem Reich der Vorvollendung hielt Luther so wenig wie von dem letzten Bibelbuch überhaupt, gegen das er wie gegen andere apokalyptische Schriften eine heftige Abneigung empfand. So schrieb er 1522 zur Ausgabe des NT: „Mir mangelt an diesem Buch nicht einerlei, dass ich’s weder apostolisch noch prophetisch halte ... dass ich es fast gleich bei mir achte dem vierten Buch Esras und allerdings nicht spüren kann, dass es von dem Heiligen Geist gestaltet sei ... Mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken, und ist mir die Ursache genug, dass ich sein nicht hoch achte, dass Christus darinnen weder gelehret noch erkannt wird“ (nach Ni/152). Der Chiliasmus war für ihn nichts als jüdischer Wahn. Mit Augustin sah er das Tausendjährige Reich in der Vergangenheit. So kam es, dass in der „Confessio augustana“, der Bekenntnisschrift seiner Kirche, die auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahre 1530 Kaiser Karl V. von den evangelischen Fürsten und Städten überreicht wurde, im XVII. Artigkel der Glaube an ein irdisches Reich vor der allgemeinen Totenauferstehung ausdrücklich verworfen wurde: „Item, hie werden verworfen etliche jüdische Lehre, die sich auch itz- und eräugen, dass vor der Auferstehung der Todten eitel heilige, fromme ein weltlich Reich haben und alle gottlosen vertilgen werden.“ Dazu schreibt Walter Nigg: „Eine der schlimmsten Äußerungen, die dem Protestantismus in keiner Weise zum Ruhm gereicht!. Denn sie stellt einen vor die unbestreitbare Tatsache, dass die lutherische Kirche, deren Fromalprinzip die alleinige Autorität der Heiligen Schrift ist, in ihren Bekenntnisschriften die neutestamentliche Lehre vom Tausendjährigen Reich ausdrücklich verwirft! ... Man kann nur die Erwartung aussprechen, dass die evangelische Kirche Deutschlands doch den Mut findet, diesen verhängnisvollen Fehltritt öffentlich zu korrigieren und sich in dieser Frage mit der Bibel in Übereinstimmung zu bringen.“ (Ni/153).

Wenn Luther trotzdem sang: „Das Reich muss uns doch bleiben“, so meinte er damit wiederum nicht das Millennium, sondern ein gegenwärtiges geistliches Reich, darinnen Christus regiert und das er aus nachdrücklichste getrennt wissen wollte vom Reich der Welt, darinnen der Teufel regiert. Er stützte sich dabei auf das falsch übersetzte Lukaswort vom „Reich Gottes inwendig in euch“ (Lk 17:21). Weil die Kirche des Mittelalters beide Reiche indentifizierte und ihre Herrschaftansprüche auf diese Welt damit begründet hatte, trat der Reformator so leidenschaftlich für deren Trennung ein. Hier aber gab sich für die Folgezeit eine neue Gefahr, die Nigg mit folgenden Worten umreißt: „Die zwei Reiche nötigten den Christen, ein zweifaches Dasein zu führen, ein geistliches und ein weltliches. Diese Aufspaltung in zwei getrennte Bezirke hat sich schon in Luthers betrüblicher Haltung im Bauernkrieg gezeigt ... Diese Trennung hat es den Menschen ermöglicht, sich im Reich der Welt wie die Teufel zu benehmen, um sich dann wieder ins innere Reich zu flüchten und dort den frommen Christen zu spielen (Ni/158). Auch hier fiel man also wieder von einem Extrem in das andere. Die Lösung liegt doch wohl nach dem NT darin, dass der einzelne Gläubige wie die christliche Gemeinde in ihrer Gesamtheit sich einerseits als Fremdling und Pilgrim in dieser Welt wissen und fühlen, andererseits aber überall, wo sie in Erscheinung treten, ihren Einfluss als „Lichter inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts“ (Phil 2:15) ausüben, nicht mit der Zielsetzung, die ganze Welt heute zu bekehren oder zu beherrschen,sondern als ein Zeugnis in diese Welt hinein.

8. Thomas Müntzer, Melchior Hofmann und das „Gottesreich" zu Münster

Nachdem sich die Kirchen der Reformation ebensowenig wie die katholischen Kirche zur Erwartung des tausendjährigen Königreichs Christi auf Erden bekannten, brach sich der Chiliasmus wieder einmal außerhalb der Großkirchen Bahn, und zwar jetzt in der T ä u f e r b e w e g u n g. Hand in Hand mit ihrer Sehnsucht nach dem Gottesreich ging das Streben nach echter Jesusnachfolge und gründlicher Reinigung Seiner Gemeinde.

Durch T h o m a s M ü n t z e r, den Luther als „leiblichen Teufel“ verschrien hat, während ihn Blumhardt als „einen der edelsten Menschen“ bezeichnete (Ni/167), wurde die Reichserwartung im beginnenden 16. Jahrhundert in eine nicht ungefährliche Bahn gelenkt. Dieser Mann von „ungewöhnlicher Intelligenz, außerordentlicher Willenskraft und bildhafter Sprachgewalt“, den man schon den „nächst Luther selbstständigsten und originellsten und daher auch einflussreichsten religiösen Denker seiner Zeit“ genannt hat, dessen „Herz einer selten anzutreffenden Begeisterung fähig war“ (Ni/167), hielt in einer späten Phase seines Lebens die Zeit für gekommen, das Tausendjährige Reich durch gewaltsame Ausrottung der Gottlosen heraufzuführen. Wie schon früher bei den Taboriten verband sich bei ihm die soziale Not mit der Erwartung des Reiches. In der Bauernerhebung versuchte er die Gewaltlösung eines sozialen und religiösen Problems. Sie misslang jedoch, und Müntzer wurde 1525 bei Frankenhausen besiegt und hingerichtet.

In den folgenden Jahren gelang es M e l c h i o r H o f m a n n, breite Täuferkreise aufs neue von der Wichtigkeit und Richtigkeit der nahen Reichserwartung zu überzeugen. Hofmann war keine überragende Gestalt, ,aber ein Mann von todesmutiger Entschlossenheit, dessen unruhiger Wandertrieb ihn beständig unterwegs sein ließ. Nach seiner Botschaft wisse man zwar Tag und Stunde der Reichsaufrichtung nicht, aber das Jahr! Nach seinem Auftreten 1526 verkündigte Hofmann den Anbruch des Reiches in sieben Jahren. Er selbst gehe als „zweiter Elia“ dem Reiche voran. Nach der Weissagung eines gewissen Jost würde Straßburg das neue Jerusalem werden. Dort - so prophezeite ein anderer - müsse Hofmann ein halbes Jahr gefangen liegen und dann nach seiner Befreiung das Täufertum zum Sieg über alle Gewalten führen. Tatsächlich wurde Hofmann im Mai 1533 in Straßburg inhaftiert. Aber die angekündigte Belagerung von Straßburg blieb aus, und Hofmann griff zu dem beliebten Ausfluchtsmittel, der Herr habe den Termin hinausgeschoben. Hofmann wartete weiter vergeblich, bis ihn endlich 1536 die Verzagtheit überkam.

Da trat einer der Schüler Hofmanns, die man Melchioriten nannte, für die gewaltsame Heraufführung des Gottesreiches ein: Jan Matthys, ein Bäcker aus Haarlem. Andere Melchioriten verkündigten, der Herr habe Straßburg um seines Unglaubens willen verworfen und M ü n s t e r , wo ein ansehnlicher Teil des Rates dem Täufertum zuneigte, erwählt. Im Januar 1534 traten Jan Matthys und Johann von Leiden in fremdartiger Tracht in Münster auf und gaben sich für Henoch und Elia aus. Die Menschen gerieten in Raserei und riefen mit lauter Stimme auf den Straßen, der Tag des Herrn sei nahe. Durch eine neue Ratswahl kamen die Täufer im Februar 1534 auf legale, Wege zur Macht. Nun behauptete Matthys, der himmlische Vater wolle, dass dieses neue Jerusalem mit dem Heiligtum von Unsauberkeit gereinigt werden. Er forderte die Hinrichtung aller Katholiken und Lutheraner. Schließlich begnügte man sich mit der schonungslosen Vertreibung aller nichttäuferischen Einwohner, die in den letzten Februartagen 1534 bei heftigem Schneegestöber stattfand. Kurz darauf begann der Fürstbischof Franz von Waldeck mit der Belagerung der Stadt. Münster wurde in ein Heerlager verwandelt, auf öffentlichen Plätzen wegen der anhaltenden Blockade Gemüse gebaut. Privater Geldbesitz wurde verboten, die private Lebensmittelhaltung beschränkt und auch der Besitz eigenen Wohnraumes zur Sünde erklärt. Die Bibel durfte als einziges Buch gelesen werden, alle anderen Bücher wurden auf dem Domplatz verbrannt. Als Jan Matthys bei einem Ausfall aus der Stadt ums Leben kam, übernahm sein Jünger Jan Bockelson, genannt Johann von Leiden, die Regierungsgewalt. Später ließ er sich zum König ausrufen. Unter dem Terror-Regiment dieses „Messias der Endzeit“ kam es in Münster zu den schrecklichsten Auswüchsen eigenwilliger und eigenmächtiger „Gottesherrschaft“. Zwangsweise wurde - nach anfänglich strikter Regelung des Geschlechtslebens - die Mehrehe eingeführt. Während der „König“ für sich, seine Frauen und Freunde einen pompösen Lebensstil entwickelte, zwang er die Massen der Bürger zu den rigorosesten Einschränkungen. Der Terror verschärfte sich immer mehr. Der kleinste Ungehorsam hatte die öffentliche Hinrichtung zur Folge. Gleichzeitig wurde der günstigste Augenblick für einen kriegsentscheidenden Ausfall - nach einer Niederlage des belagernden Bischofs - versäumt, und dieser erhielt von den am Rhein liegenden Ländern Geld, Truppen und Waffen zur Verstärkung der Belagerung. Schließlich erklärten sich sämtliche Stände des Reiches bereit, zur Finanzierung der Belagerung beizutragen. Das „Gottesreich“ wurde ausgehungert, bis man Hunde, Katzen, Ratten und Igel geschlachtet und sich von Gras und Moos, ja sogar von Leichen genährt haben soll. Als zwei Männer heimlich ausbrachen und den Belagerern schwache Punkte der Stadtmauer verrieten, war das Schicksal der Stadt besiegelt. Statt des auf den Wolken des Himmels wiederkommenden Herrn, den die Belagerten zum Teil noch immer als ihren Retter erwarteten, erstürmten feindliche Söldner die Stadt.

9. Oliver Cromwells „Parlament der Heiligen“

Ein einzigartiger dastehender Versuch, das Tausendjährige Reich mit menschlichen Mitteln heraufzuführen, war die Herrschaft der „Heiligen“ unter Oliver Cromwell (1599-1658), die dieser nach seinem Sieg über König Karl I. in England errichtete. Hatte man ein Jahrhundert zuvor in Deutschland eine Stadt zum „Gottesreich“ erklärt, so unternahm man es jetzt, ein ganzes Land auf den Hereinbruch der Gottesherrschaft, den man als unmittelbar bevorstehend empfand, mindestens vorzubereiten. Das Bewusstsein göttlicher Erwählung und Sendung besaßen diese „Kongregrationalisten“ nicht nur im Blick auf sich selbst - sie betrachteten sich als die „Schwelle“ der Tür zu einem neuen Zeitalter -, sondern auch im Blick auf das englische Volk. Weil sie nach dem Propheten Daniel das „fünfte Reich“ erwarteten, nannte man sie auch „Quintomonarchisten. Sie fühlten sich berufen, „von Gott, mit Gott und für Gott“ zu regieren.

Politik und Reichserwartung verbanden sich aufs engste, als 1653 das „Parlament der Heiligen“ tagte. Jede Sitzung begann mit Gottesdienst und Gebet, die Parlamentsreden wurden zu Predigten. War aber das Gottesreich allein mit Sittenreinheit und - strenge, Verbot von Vergnügungen, Duellen, Eiden, Abschaffung des Kirchenregiments, aller Feiertage und liturgischen Formeln usw. zu verwirklichen? Bedurfte es nicht doch auch der Gewalt? Ging dem Königreich Christi nach der Schrift nicht eine gewaltmäßige Sichtung und Säuberung voraus? Diesen Fragen konnte auch Cromwell nicht ausweichen. Es ist ihm aber geschenkt worden, sich nicht auf den Weg des „Gottesreiches zu Münster“ drängen zu lassen, sondern einer solchen Entwicklung (die von manchen seiner Anhänger erstrebt wurde) rechtzeitig Einhalt zu gebieten. Seit er mehr und mehr die Unfähigkeit seiner chiliastischen Brüder erkannte, eine wirklichkeitsnahe Politik zu treiben, kamen ihm verstärkte Zweifel an dem baldigen Kommen des „fünften Reiches“. Er griff zur Gewalt, richtet diese aber gegen Irland, das protestantische Holland und gegen die Chiliasten im eigenen Land. Das „Heiligenparlament“ wurde aufgelöst. Allerdings konnte die Sehnsucht nach dem Gottesreich hierdurch nicht ausgerottet werden. Als 1656 ein „Messias“ namens James Naylor in Bristol einzog und wie Christus bei Seinem Einzug in Jerusalem gepriesen wurde, verdichteten sich aufs neue die Erwartungen sosfort anbrechender Gottesherrschaft; jedoch wurde Naylor daraufhin auf grausamste Weise als Gotteslästerer hingerichtet. Teils vom Quäkertum, teils von der Gründung eines rein diesseitigen britischen Weltimperiums wurden die puritanischen und kongregationalistischen Reichserwartungen aufgesogen und in neue Bahnen gelenkt.

10. Reichserwartungen im Pietismus

Nachdem man jahrhundertelang immer wieder versucht hatte, das kommende Gottesreich zu vergeistigen, zu verkirchlichen oder es gar mit Gewalt herbeizuzwingen, brach sich bei jenen Theologen, „Laien“ und in den von ihnen geprägten Gemeinschaftsbewegungen, die unter dem Sammelbegriff „Pietismus“ bekannt wurden, wieder eine nüchterne und bibelnähere Reichsauffassung und Reichserwartung Bahn. (Natürlich fehlte es auch im Pietismus nicht ganz an menschlichen Fündlein und Zutaten zum biblischen Reichsgedanken.) Man erkannte, dass das tausendjährige Königreich Christi weder schon gekommen noch überhaupt mit menschlichen Mitteln aufzurichten sei; Gott werde es zu Seiner Zeit, ja, wie man glaubte, in nicht allzu ferner Zeit heraufführen. So verschieden die einzelnen Gestalten auch sein mögen, die der „Pietismus“ hervorgebracht, so war ihnen allen doch ein Gottvertrauen, eine Schlichtheit und Herzenseinfalt eigen, die sie vor eigenmächtigen Umdeutungen der biblischen Weissagungen weitestgehend schützten und sich bei den einen im Drang n ach Verinnerlichung und Vertiefung, bei den anderen mehr im praktischen Tatchristentum oder in der Gemeinschaftspflege oder im missionarischen äußerten.

Wir können im Rahmen dieser Arbeit nur wenige bedeutende Namen herausstellen, und berücksichtigen dabei weniger die Männer, die sich auf sozialem, pädagogischen oder missionarischem Gebiet hervortaten, als vielmehr jene, die die biblischen Reichserwartungen wieder auf den Leuchter stellten.

Schon das Ehepaar Peterson hatte das Tausendjährige Reich, v,erbunden mit einer neuen Geistausgießung, für die nächste Zeit erwartet und bezeugt. Auch Petersens Freund und Begründer des Pietismus, der Elsässer Philipp Jakob Spener, wurde durch das Lesen der Heiligen Schrift zur Erwartung des Millenniums geführt. In jener Zeit, als im kirchlichen Raum orthodoxe Verstandesfrömmigkeit das Feld beherrschte und jede Reichserwartung als Ketzerei brandmarkte, gehörte Glaubensmut dazu, sich zu einer solchen „Entdeckung“ ans dem Worte Gottes öffentlich zu bekennen; denn indem sie das Reich als ein zukünftiges ausgaben, sprachen sie der Kirche das Recht ab, nach Augustinischer Lehre bereits die Verwirklichung des irdischen Gottesreiches zu sein! Als sowohl Spener als auch Peterson ihre Hoffnungen öffentlich verkündigten (Spener durch die 1693 erfolgte Herausgabe seiner Schrift „Behauptung der Hoffnung zukünftiger besserer Zeiten“; Petersen durch sein unermüdliches „Bekenntnis von dem zukünftigen herrlichen Reich Jesu Christi“), kam es zum unvermeidlichen Zusammenstoß mit der Kirche Luthers, die den letzteren sogar seines Amtes als Superintendent enthob und ihn des Landes verwies.

Eine stärkere Verbreitung erfuhren die Reichshoffnungen im schwäbischen Pietismus. Hier gerieten sie nicht in einen schroffen Gegensatz zur Kirche, sondern konnten sich im Raum der evangelischen Kirche (wenn auch nicht unangefochten) halten.

Wir greifen nur vier ehrwürdige Gestalten aus dem württembergischen Pietismus heraus, die von nachhaltigem Einfluss auf die Kirche und Gemeinschaften waren: Johann Albrecht Bengel (1687-1752), Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782); Johann Michael Hahn (1758-1819) und den dem schwäbischen Pietismus immerhin nahestehenden und innerlich verwandten Johann Christoph Blumhardt (1805-1880).

Mit Bengel bekannte sich erstmals ein Prälat der evangelischen Kirche zu einem kommenden tausendjährigen Königreich Christi auf Erden, und erstmals blieb ein Christ deswegen von der Kirche unangefochten. Dies hing wohl weniger von Bengels Stellung als von seiner ehrfurchtgebietenden, nüchternen, geheiligten und bibelnahen Persönlichkeit ab. Auch als er sich aufgrund seiner starken Vorliebe zur Mathematik bei der Auslegung des letzten Bibelbuches zu weit vorwagte und die Wiederkunft Christi und den Anbruch des Tausendjährigen Reiches zu errechnen unternahm, verließ ihn doch seine Besonnenheit nicht, indem er die Möglichkeit einer Fehlrechnung offen ließ und dadurch eine Katastrophe verhinderte. Bengel dividierte die Zahl 666 in Offb 13:18 durch die im gleichen Kapitel vorkommenden 42 Monate und betrachtete das Ergebnis als Schlüssen für sämtliche biblischen Zahlen (Ni/203). Er erwartete den Anbruch des Millenniums auf das Jahr 1836, also zu einer Zeit, da er selber schon Jahrzehnte im Grabe ruhen musste. Mit dieser Berechnung bereitete er vielen seiner Anhänger eine schmerzliche Enttäuschung. - Doch darf über dieser Fehlrechnung nicht die Belebung und Befruchtung vergessen werden, die dieser Theologe, indem er den Blich der Gläubigen wieder nach vorn und nach oben richtete - auf Gottes großangelegtes zukünftiges Heilswalten, wie es das prophetische Bibelwort bezeugt -, seiner Kirche schenken durfte.*76

*76 Einzelheiten über Bengels Berechnungen brachte der Aufsatz von K HUTTEN „Was bringt die Zukunft? Die Endzeitprophetie Johann Albrecht Bengels“ im „Stuttgarter Ev. Sonntagsblatt“, 96. Jahrg. Nr 48, vom 2.12.62

Ein Schüler Bengels war der spätere Prälat von Murrhardt Friedrich Christoph Oetinger. Auch ihm war eine großartige Schau des Planes Gottes bis hin zum Ziel der Rettung aller geschenkt, das er (im Gegensatz zu Bengel, der das letzte Ziel der „Wiederbringung aller Dinge“ glaubte aber nicht verkündigte) auch offen bezeugte. Bekannt geworden ist sein Satz, dass „die L e i b l i c h k e i t das E n d e der W e r k e G o t t e s ist“. Indem er die Zusammengehörigkeit von Geistlichem und Leiblichem erkannte und in der Harmonie und Entsprechung von beidem geradezu d a s Kennzeichen der göttlichen Weltvollendung erblickte, stellte er auch eine wesentliche Eigenschaft des Millenniums heraus. Er schrieb: „Geistlich ist auch leiblich, aber unbefleckt, unverweslich, unverwelklich. Der Himmel oder die unsichtbare Welt hat alles, was die Augen mit den lieblichsten Farben und Schönheiten, alles, was die Ohren mit mit musikalischen Instrumenten und Ledern, alles, was die Nase mit durchdringendsten Gerüchen, alles, was den Gaumen mit den süßesten Speisen und Tränken, alles, was das Gefühl mit den Vorwürfen (Schilderungen) des Hohenliedes vergnügen kann. Die Stadt Gottes ist aller Sinnlichkeit (Vorstellung der Sinnenwelt) Inbegriff“ (Roe/135). - „Durch die Auferstehung Christi ist der Anfang gemacht worden der Vereinigung des Himmels mit der Erde. Dies ist das Ziel der Arbeit Jesu, nicht nur, dass Er uns aus dem Diensthause des Satans ausführe, sondern auch die Erde dahin zu bringen, d,ass de rWille Gottes allda geschehe wie im Himmel. Darum starb Er und stand von den Toten auf, damit Er das Licht über die Erde einführte, denn Finsternis hat die Erde bedeckt ... Das große Vereinigungswerk Himmels und der Erde, die Erlösung der ganzen seufzenden Kreatur hat angefangen durch die Auferstehung und ist bereitet worden, dass sie offenbar werde in der letzten Zeit, allwo Jesus Christus mit aller Kraft Seiner Auferstehung denen im Himmel und auf Erden sich offenbaren wird zu Lobe, Preis und Herrlichkeit unseres Gottes durch Ihn.“ (BO/86-87).

Waren Bengel und Oetinger gelehrte Theologen und angesehene Prälaten, so handelt es sich bei Johann Michael Hahn, dem Begründer der Hahnschen Gemeinschaften, um einen ungelehrten schlichten Bauern, dem Gott eine solche Fülle von Weisheit und Einsicht schenkte, dass seine Schriften 15 umfangreiche Bände voll tiefer Glaubensgedanken umfassen. Nach langen und schweren Bußkämpfen in seiner Jugend überkam in 1777 während der Arbeit auf dem Felde „ein intuitiver Zusammenschauen aller Dinge in Gott, die Offenbarung einer höheren Welt mehr von innen heraus als von außen hinein“ (Roe/248). Diesem Erlebnis folgten in den Jahren 1778 und 1780 zwei „Erleuchtungen“, von denen die erste drei Stunden und die zweit sieben Wochen andauerte. Künftig hielt er viele Erbauungsstunden ab und legte später seine Gedanken auch schriftlich nieder. Von der Kirche wurde er teil bekämpft, teils anerkannt. Großen Wert legte J. M. Han in seiner Verkündigung auf die „Lehre von den letzten Dingen“ und betonte stark die Unterscheidung zwischen der erste und zweiten Auferstehung (nach Off 20). Über die Zeit des Millenniums schreibt er: „Jesus kommt und hält tausend Jahre in der oberen Luftregion Hochzeit mit Seiner Braut. Christus und Seine Braut werden in der oberen Luft meines Erachtens Hochzeit machen, just über dem durch ein Erdbeben zum Vorschein gekommenen Berg Zion, auf dem das Jerusalem, das Hesekiel und andere Propheten beschreiben, stehen wird, wie auch der herrliche Tempel, welchen ebenfalls ach allen Teilen Hesekiel beschreibt, wie er ihn gesehen hat.“ (Roe/270).

Der ältere Blumhardt (und nach ihm der jüngere) war ebenfalls mit zunehmenden Jahren ein immer stärkerer Zeuge biblischer Hoffnung. In seinem Ringen mit der Krankheit der Gottliebin Dittus wurden ihm nicht nur die Augen geöffnet für das Reich Satans, sondern auch für das Reich Christi (zunächst in seiner sieghaften Gegenwartsbedeutug, Kol 1:13). Zugleich erkannte aber Blumhardt dieses Reich als ein kosmisches, weltweites Reich, das erst in der Zukunft zur vollen Ausgestaltung kommt. In dem Buche „Christoph Blumhardt und seine Botschaft“ lesen wir darüber in dem einleitenden, dem Vater Johann Christoph Blumhardt gewidmeten Teil (Bl/25): „Als Mann der Hoffnung fand Blumhardt eine ganz andere Haltung der Welt gegenüber, als sie für das Christentum unserer Zeit charakteristisch ist. Während so viele Christen die Welt gerne als gottgewollt rechtfertigen und verklären und gedankenlos von einer ‚göttlichen Weltordnung‘ reden, erkannte Blumhardt, dass diese Welt ja noch gar nicht Gottes ist, sondern erst wieder Sein w e r d e n muss, und er sah sie drum in ihrer ganzen Vorläufigkeit. Die bestehende Welt galt ihm nicht als das ein für allemal Gegebene, das wir einfach hinzunehmen hätten in frommer Ergebenheit - ‚Es ist viel leichter, sich in eine Ergebung in Gottes willen hineinzuleben, als die Riegel wegschieben, die Gottes Hilfe aufhalten‘ -, sondern im Lichte der biblischen Hoffnung erschien sie ihm als das Alte, das vor dem Kommenden weichen muss wie die Nacht vor dem anbrechenden Tag. Die Erlösung, die Christus der Welt brachte, ist ja noch nicht vollendet, - es gilt für uns wie für die Christen der ersten Zeit zu ‚warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde, nach Gottes Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt‘. Gerade Er, der das große Erlösungswerk unter uns begonnen hat, heißt uns ja beten: ‚Dein Reich komme! Dein Wille gesche auf Erden wie im Himmel! Erlöse uns von dem Bösen!‘ und ermahnt uns: ‚Seid gleich Menschen, die auf ihren Herrn warten!‘ Und bis zu jenem Ende, das Christus unserer Welt bereiten wird, sind wir auf solches Warten und Beten angewiesen, - wir dürfen es aber auch tun in der gewissen Hoffnung, dass der, der das Werk begonnen hat, es auch vollenden wird.“

Die Losung seines Lebens vom Sieg Christi klingt wider in seinem Lied, das ihm einst in den Tagen Möttlingens geschenkt wurde:

Jesus ist der Siegesheld,
der all Seine Feind’ besieget;
Jesus ist’s, dem alle Welt
bald zu Seinen Füßen lieget;
Jesus ist’s der kommt mit Pracht
und zum Licht führt aus der Nacht.

Das „Dritte Reich"

Noch manches könnte gesagt werden über Reichserwartung und Enttäuschung in neuer und neuester Zeit. An dreierlei sei noch kurz erinnert: an Hitlers „Drittes Reich“, an die immer noch nicht ausgestorbene Unsitte der „Terminbesprechungen“, aber auch daran, dass es auch in neuerer Zeit nicht an erleuchteten Lehrern und Propheten in der Gemeinde Christi Jesu gefehlt hat.

Wir wissen, dass durch Adolf Hitler auch in unserem Jahrhundert versucht wurde, mit Blut und Gewalt ein „Tausendjähriges Reich“ zu schaffen. Zwölf Jahre hat es gedauert. Es ähnelte durchaus nicht dem messianischen Reich, wohl aber sehr stark dem vorhergehenden antichristlichen! Immer wieder bewahrheitete sich in solchen Versuchen das Wort des Herrn (Mt 11:12): „Von den Tagen Johannes des Täufers bis jetzt wird gegen das Königreich der Himmel Gewalt geübt, und Gewalttätige reißen es weg“ (bemächtigen sich des Reichsgedankens, wollen sein Kommen erzwingen). -

Als eine gewisse Form von „Gewalttat“ will es uns auch erscheinen, dass man wieder und wieder auf den Fehler verfiel, einen Termin für Christi Wiederkommen und den Beginn der Endzeit bzw. des Tausendjahrreichs zu errechnen und bestimmen zu wollen. Das Buch von Kurt Hutten „Seher, Grübler, Enthusiasten“ zeigt eine ganze Reiche solcher falscher Berechnungen in den verschiedenen „christlichen“ Glaubensrichtungen, von Bengel bis in die Gegenwart. Bekannt geworden ist die Behauptung des inzwischen verstorbenen „Stammapostels“ Bischoff der Neuapostolischen Kirche, er werde das Volk des Herrn heimführen dürfen, also nicht sterben, bevor Christus Seine Gemeinde zu sich nehme. Wieder kam das Enttäuschungserlebnis, und wieder einmal wurde die Schuld dafür Gott zugeschoben, der den Termin hinausgezögert habe. - Wir wissen, dass neben anderen auch die „Zeugen Jehovas“ mit solchen Terminen arbeiten und sich als Anwärter auf das Reich Christi ausgeben. Gegen sie hat Walter Nigg besonders harte Worte gefunden: „Man hätte es nicht für möglich gehalten, dass der erhabene Gedanke auf solch unsagbar banale Weise vertreten und zu einer solchen Flachheit erniedrigt werden könne ... Ohne zu erröten, werden die Lösungen der größten religiösen Probleme vorgetragen, und zwar nicht auf eine rührend hilflose Art, sondern im Tone unangenehmer Anmaßung ... Die Schwäche ihrer Reichsverkündigung wird mit einer schreienden Reklame übertönt, mit dem Ziel, um jeden Preis einen Massenerfolgt zu erreichen. Es wird bei ihnen der Baustil der massiven Wolkenkratzer auf religiöses Gebiet übertragen; es ist Warenhausreligiosität, die einem begegnet. Mit dieser amerikanischen Einstellung bemächtigen sie sich der chiliastischen Idee und benützen sie für ihre Zwecke. Sie reißen sie an sich und formen sie ihren Wünschen entsprechend. Ihrem Griff nach dem Reichsgedanken fehlt jede Ehrfurcht vor dem, was größer ist als sie. Deswegen strahlt auch diese Reichsverkündigung nichts von jener Wärme aus, die der chiliastischen Glut sonst eigen ist. (Ni/241-243)

Wo stehen wir heute?

Wir möchten diesen Rückblick aber nicht enden, ohne noch zweier Männer zu gedenken, durch die Gott Seiner Gemeinde auf Erden in unserem Jahrhundert in besonderem Maße Licht in Bezug auf die Gemeinde geschenkt hat: Professor Ferdinand Ströter (1846-1922) und der einige Jahre später verstorbene Pfarrer Theodor Böhmerle. War Ströter ein vom Geiste der Prophetie erleuchteter scharfer und logischer Denker, so hat Böhmerle die Dinge mehr von innen „geschaut“. Noch heute liest man ihre Schriften mit Segen und Gewinn. Wir beschließen diesen Abschnitt mit einigen Sätzen von E. F. Ströter über das Tausendjährige Reich, ,die er in seinem Todesjahr in seiner Zeitschrift „Das prophetische Wort“ geschrieben hat: „Wir lassen die wichtige Tatsache nicht aus den Augen, dass z.B. die Bedingungen zur Erlangen de Heils im Tausendjährigen Reich ungleich leichter und günstiger sein werden, als sie es in der gegenwärtigen Zeit sind. Satan ist gebunden, dämonische Mächte haben nicht mehr freien Kurs überall wie heute. Der Lufthimmel ist gesäubert von den unheimlichen Herrschaften, die dort ihr Wesen treiben dürfen. Der Verkehr zwischen Himmel und Erde ist wieder frei und häufig, wie Jesus den Jüngern in Aussicht stellte: ihr werdet sehen die Engel Gotts auf- und niedersteigen auf des Menschen Sohn (Joh 1:52). Das Volk Israel wird in die Fußstapfen des größten Heidenapostels treten, und das Ausmaß ihres bisherigen Fluchwirkens unter den Nationen wird das ihres segenbringenden Wirkens sein auf der ganzen Erde. Verkehrsmittel und -wege werden eine unerreichte Ausdehnung und Vervollkommnung gefunden haben. Und die Völker der Erde werden ihre sauer verdienten Gelder nicht mehr dem Kriegsmoloch darbringen. Mammon wird nicht mehr der treibende Geist sein in Handel und Verkehr. Auch Kunst und Wissenschaft werden nicht mehr in schamloser Weise wie bisher dem Kultus des Fleisches und der Lüste ergeben sein. Kurz, auf allen Gebieten des Lebens sind die äußeren Umstände einer raschen Verbreitung des Evangeliums vom Königreich Gottes auf Erde die bis dahin denkbar günstigsten. Nur- Fleisch wird auch dann noch Fleisch bleiben. Es wird immer noch seine tiefwurzelnde Feindschaft gegen den Geist behalten und zäh behaupten, bis ihm vollends der Garaus bereite werden wird durch Gericht, Verderben und Verdammnis, und bis alsdann aus dem Tode das neue Auferstehungsleben ersteht. Der Tod muss und wird verschlungen werden in den Sieg ...“

Wo aber, fragen wir zuletzt, steht die heutige Theologie? -

Bietenhardt beschreibt und werte deren Einstellung zur Erwartung eines Tausendjährigen Reiches mit den Worten: „In der wissenschaftlichen und kirchlichen Exegese setzte sich das richtige, endgeschichtliche Verständnis des Millenniums in der Folge immer mehr durch. Die Zahl der Anhänger der kirchengeschichtlichen Auffassung des Tausendjährigen Reiches ist heute verschwindend gering. Diese Einmütigkeit fehlt aber dann, wenn es sich darum handelt, Offb 20 systematisch zu erfassen. Hier wird bei allen theologischen Richtungen mit der allergrößten Freiheit verfahren. Alle Möglichkeiten, diesen Lehrpunkt der Schrift zu behandeln, werden hier angewendet: von der verschiedenen Verteidigung und Vertretung dieser Lehre über unentschiedenes Schwanken, zum Reden über ‚das große Geheimnis, das man als solches stehen zu lassen habe‘, zur stillschweigenden Ignorierung und bis hin zur offenen Polemik dagegen lässt sich alles belegen. Man könnte oft versucht sein, die wirkliche oder nur vorgegebene Schriftgemäßheit einer Theologie daran zu messen, ob sie bereit ist, die Erwartung eines Tausendjährigen Reiches auszusprechen oder nicht.“ (Bie/10).

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E. Der neue Staat Israel im Licht des Kommenden