Die Bedeutung der Erniedrigung des Knechtes Gottes - Jes 53:1-12

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aus HSA: Verkündiger von Gericht und Heil nach Jesaja (40-66) Bd.2


Die Bedeutung der Erniedrigung des Knechtes Gottes - Jes 53:1-12

An vielen Stellen weist das Alte Testament auf Jesus Christus hin; wir sprechen von "messianischen Weissagungen". Dabei überragen zwei Kapitel alles andere: Ps 22 und Jes 53, indem sie ausführlich und geradezu "detailgetreu" Jesu Kreuzesleiden beschreiben, aber nicht nur sein äußeres Ergehen und Verhalten, sondern auch sein Denken, Glauben, Hoffen am Kreuz (Ps 22) und die Bedeutung seines Leidens und Sterbens für die Rechtfertigung des Sünders (Jes 53). Es ist, als habe Jesaja, als er Jes 52:13 bis Jes 53:12 schrieb, nicht nur Jesu Passionsweg und Kreuzestod aus nächster Nähe beobachtet, sondern auch Einblick in die Paulusbriefe gehabt, etwa Röm 3 und Röm 5 oder 2Kor 5 gelesen! Doch auch der liberalste Ausleger wird nicht behaupten wollen, Jes 53 sei erst zur Zeit des Paulus entstanden! Somit haben wir es in eizigartiger Weise mit echter Prophetie zu tun; Jesaja sieht Jesu Leiden und Sterben und seine anschließende Erhöhung durch den Geist der Weissagung ganz nah vor seinem Geistesauge (wie auch David in Ps 22) - das äußere Ergehen und dazu die heilgeschichtliche Bedeutung. "Wie manchem Israeliten hat (dieses Kapitel) die Kruste vom Herzen geschmolzen", schreibt Franz Delitzsch.

Kein Wunder, dass auf dieses Kapitel im Neuen Testament immer wieder Bezug genommen wird: So wird, um nur einige Auswahl zu nennen, Jes 53:1 in Joh 12:38 und Röm 10:16 zitiert, Jes 53:4 in Mt 8:17, Jes 53:7.8 in Apg 8:26-35. Jes 53:9 erfüllte sich nach Mt 27:57-60, Jes 53:12 nach Lk 22:37 und Lk 23:34. Weiter erfüllte sich Jes 53:7 nach Mt 26:63 - Mt 27:12.14 und in 1Petr 2:22-25 werden gleich mehrere Verse aus Jes 53 zitiert.

Trotz der vielen Hinweise auf Jesus wollen aber manche Kommentatoren Jes 53 (wie andere Kottesknecht-Texte Jesajas) auf das Volk Israel im babylonischen Exil und nicht auf Jesus beziehen; erst die neutestamentlichen Schreiber bzw. die christliche Kirche hätten einen Jesustext daraus gemacht! Nun, natürlich kann man einiges auf das Ergehen Israels beziehen: Israel geht immer wieder durch schmerzliche Drangsale, der aber eine Erhebung und Erhöhung folgt; Israel wurde und wird verachtet; nach Schlägen und Folterungen sahen Juden "entstellt und nicht mehr menschlich" aus (Jes 52:14); zur "Schlachtung" geführt, taten die meisten ihren Mund nicht auf - aber haben sie "willig gelitten"?

An einem Punkt allerdings müssen alle Bemühungen scheitern. Jes 53 in erschöpfender Weise auf das Volk Israel zu beziehen, das ist das mehrfach bezeugte stellvertretende Sühneleiden! - So sagt unser Text: "Er wurde um unserer Freveltaten willen durchbohrt, um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Züchtigung lag auf ihm zu unserm Frieden und durch seine Wunden wurden wir gehelt" (Jes 53:5). Jahwe ließ ihn treffen unser aller Schuld" (Jes 53:6). - "Mein gerechter Knecht wird den Vielen Gerechtigkeit verschaffen, indem er ihre Sünden auf sich lädt" (Jes 53:11). - "Er hat die Sünden der Vielen getragen" (Jes 53:12).

Es gibt keinen Menschen außer Jesus Christus, keine Gruppe, kein Volk, worauf dies bezogen werden kann! Der Messias Jesus ist der eine Mittler zwischen Gott und Menschen, es gibt keinen anderen. Nur von ihm kann gesagt werden: "Den, der Sünde nicht kannte, hat er (Gott) für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm" (2Kor 5:21). Nur er ist "die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt" (1Jo 2:2). Kein Mensch kann einen anderen erlösen, und auch der Gedanke, es habe (in Babylon oder anderswo) ein Teil Israels durch sein Leiden für die Masse Israels stellvertretend gesühnt, ist biblisch nicht haltbar. Was Menschen erleiden, kann niemals Sünde und Schuld - die eigene oder die anderer - vor Gott tilgen. Es gibt Tieropfer im israelischen Kult und es gibt Menschenopfer in heidnischen Religionen - alles das kann Sünde nicht tilgen, sondern nur das Opfer Jesu. Das Neue Testament betont dies immer wieder, besonders in den Paulusbriefen und im Hebräerbrief. Und wenn es nach Kol 1:24 ein stellvertretendes Leiden für andere Glieder des Leibes Christi gibt, ein "Ergänzen der Drangsale des Christus für seinen Leib", so niemals im Sinne der Sühnung, wohl aber der Zubereitung. Wie das Haupt, so gehen auch die Glieder durch Leiden zur Herrlichkeit. Die Sühnung der Sünden der Welt aber wurde auf Golgatha ein für alle Mal vollbracht; dem ist nicht hinzuzufügen.

Sollte es einem Bibeleser noch fraglich sein, von wem Jesaja in Jes 53 spricht, so lese er Apg 8:26-35! Da sitzt der Finanzminister der äthiopischen Königin Kandake auf seinem Wagen. Er befindet sich auf der Rückreise von Jerusalem und liest den Propheten Jesaja, und zwar ist er gerade bei Jes 53:7.8 angekommen. Er fragt den herzugekommenden Philippus: "Von em sagt dies der Prophet - von sich selbst oder von einem andern?" Da verkündigt ihm Philippus, ausgehend von dieser Schriftstelle das Evangelium von Jesus.

Nun sei noch einiges zu den einzelnen Versen vermerkt:
Jes 53:1 wirkt wie ein Zwischenruf. Jesaja - und mit ihm "eine Mehrzahl von Prophetenjüngern" (König) - beklagen sich darüber, dass Israel ihrer Verkündigung nicht glaubt und keinen Blick hat für Jahwes Arm (= Eingreifen in den Geschichtsverlauf). Wer vertraut seiner bedingslosen, schrankenlosen, nie endenden Gnade (die allerdings nur wirken kann, wo man dafür offen ist)?

Jes 53:2 erinnert an Jes 11:1. Die stolze Zeder des davidischen Königstums war gefällt worden, doch aus dem Wurzelstumpf erwuchs aus dürrem Erdreich ein triebkräftiger Spross; die Geburt und Entwicklung des Gottesknechtes (Jesus) fiel in eine Zeit kümmerlicher äußerer Verhältnisse; denn Gottes Auswahlvolk war der Gewalt des Weltreichs (Rom) unterworfen worden (Delitzsch).

Die Verse Jes 53:3-4 geben zu Fragen Anlass. Jesus war "ein Mann der Schmerzen und mit Krankheit vertraut". Das ist zunächst einmal ein starker Trost für alle, die leiden müssen. Der Herr hat unsagbare Schmerzen des Leibes und der Seele erdulden müssen - mit dem Kreuz als Höhepunkt. Darum ist er ein mitfühlender Hoherpriester (Hebr 4:15). Jeder Schmerzgeplagte darf wissen: Er kennt meine Not und leidet mit! - Aber wieso war der Herr Jesus "mit Krankheit vertraut"? "Es ist nicht gemeint, dass er von Natur einen siechen, aus einer Krankheit in die andere verfallenden Körper hatte" (Delitzsch). Jesus musste nicht zum Arzt gehen, er war der Arzt der Schwachen und Kranken. Manche Krankenschwester, mancher Pfleger, mancher Arzt ist "mit Krankheit vertraut", ohne selber krank zu sein. Doch bei Jesus, dem Heiland, dem Heiler, der sich bei seinem ersten Kommen durch Wort und Tat als der Messias erwies, kam noch etwas anderes hinzu: Indem er heilte, nahm er unsere Krankheiten auf sich. Matthäus bezieht Jes 53:4 auf Jesu Heilungen (Mt 8:16.17). Dort heißt es: "Er nahm unsere Schwachheiten (Kraftlosigkeiten, Schwächezustände) auf sich und trug unsere Krankheiten." Das erste ("er nahm") bedeutet nach Delitzsch: Abhilfe schaffen, das zweite ("er trug"): sich selbst aufladen. Durch seine Heilungen schuf er Abhilfe, am Kreuz aber trug er die Last der Sünde und der Sündenfolgen (wozu auch Kranheit und Tod gehören) einer ganzen Welt, wie wenn es seine eigene, selbstverschuldete, wäre.

Arthur Muhl (seinerzeit Zürich) berichtet einmal, dass er von einer Schwerkranken, die er besuchte, gefragt worden sei: "Können Sie mir sagen, warum ich so schwer leiden muss, wenn doch geschrieben steht, dass ER unsere Krankheiten trug?" - Es war ihm geschenkt, darauf eine gute Antwort zu geben: "Könnte es nicht sein, dass Sie ein Teil sind von diesem ER und darum mitzutragen haben?" Er dachte dabei offensichtlich an die schon genannte Stelle Kol 1:24.

Jes 53:5 geht noch über Jes 53:4 hinaus und kommt auf den Kern der Sache zu sprechen: unsere Sünde. Obwohl nicht jede Krankheit eine Folge von Sünde ist (Joh 9:1-3), so gilt doch im Blick aufs Große und Ganze, dass Kranheit und Tod eine Folge der Sünde sind (1Mo 2:17 - Röm 5:12). Jesus schuf durch seinen Tod und seine Auferstehung die Grundlage zu deren endgültiger Überwindung. Sehr deutlich und drastisch sagt Jes 53:5: Der Herr wurde durchbohrt (vgl. Sach 12:10 - Offb 1:7), ja zerschlagen, und nach Jes 53:10 gefiel es Jahwe so! (Dabei gefiel dem Vater aber nicht der Schmerz, den er seinem Sohn zufügen musste, sondern der Ertrag: die Versöhnung des Alls! Dies sagt uns Kol 1:19.20).

"Die Züchtigung lag auf ihm zu unserm Frieden und durch seine Wunden wurden wir geheilt" - damit ist die neutestamentliche Versöhnungsbotschaft wunderbar ausgedrückt. Wir dürfen Frieden finden, wobei das Wort "Schalom" auch bedeutet: Wohbefinden, Freundschaft, unversehrt sein, heil sein (wenn nicht immer körperlich, so doch im Verhältnis zu Gott).

So ist nun Jesus "das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt". Der Begriff "Lamm" in Jes 53:7 findet im Neuen Testament ein vielfältiges Echo, nicht nur in Joh 1:29 und Apg 8:32, sondern vor allem im Buch der Offenbarung. Dieses Lamm trug die Sünde der Welt weg. "Unvergebene Sünde ist immer ein Zerstörungspotenzial - insofern ist sie eine Last; unvergebe Sünde zieht immer auch das Gericht Gottes nachn sich - insofern ist sie ebenfalls eine Last" (Dieter Schneider). Darum sollte möglichst niemand mit unvergebener Sünde, diesem Zerstörungspotenzial, durchs Leben laufen! Es kann dem Menschen in vielfacher Hinsicht Schaden zufügen und ihn in Haltlosigkeit, Angst, Depression und Aggression stürzen. Der rechte Ort, sie loszuwerden, ist allein Golgatha (im Sinne von 1Jo 1:9).

Manche Ausleger vermissen in Jes 53 die Auferstehungsbotschaft. Aber fehlt sie wirlich? Sie ist doch - auch wenn das Wort "Auferstehung" nicht vorkommt - in Jes 52:13 und Jes 53:10-12 mit enthalten. Jesu Erhöung setzt seine Auferstehung und Lebendigmachung voraus. Auch in Phil 2:9 wird die Erhöhung Jesu nach seinem Kreuzestod bezeugt, ohne dass in dieser knapp gehaltenen Darstellung die Auferstehung besonders erwähnt wird; sie wird als selbstverständlich vorausgesetzt. So auch in Jes 52:13. Und Jes 53:10 bezeugt vom Knechte Jahwes, dass er seine Tage verlängern (König: lange leben) und Nachkommen sehen und das Vorhaben Jahwes ausführen wird. Spricht Jes 53:8 von seinem Tod, Jes 53:9 von seinem Begräbnis (Mt 27:57-60), so weissagen die Verse Jes 53:10-12 sein Leben und Wirken danach.

Jes 53:11 bezeugt: "Infolge der Mühsal seiner Seele wird er sehen, sich sättigen." Hier vermuten manche, dass ein Wort aus dem ursprünglichen Text ausgefallen sei, und sie ergänzen (mit der Septuaginta) "Licht", andere "Frucht", wieder andere sagen, er wird sich satt sehen. Als Frucht seiner stellvertretenden Sühnung wird er "den Vielen Gerechtigkeit verschaffen"; dabei bedeutet "viele" nach hebräischem Sprachgebrauch so viel wie "alle" (Mt 20:28 - 1Tim 2:6 - Röm 5:18.19). - Wer aber sind die Großen und Mächtigen, mit denen er Jes 53:12 zufolge die Beute teilen soll? Es ist dies die Sprache des Krieges, und man kann bei den Mitstreitern an Ps 110:3 oder Offb 17:14 und Offb 19:14 denken (vgl. auch Jes 49:24.25).

Kommen wir zum Schluss auf den Anfang dieses gewaltigen Abschnitts zurück (Jes 52:13): "Mein Knecht wird Erfolg haben." Ja, das Erlösungswerk Jesu ist eine erfolgreiche, segensreiche, sieghafte Sache. Aber der Weg zum Ziel führte den Knecht Jahwes, den Sohn Gottes, durch unermessiches Leid, und sein Opfer offenbart aufseiten des Sohnes wie auch des Vaters eine Liebe, die alles Denken übersteigt (Joh 3:16 - Röm 5:8 - Gal 2:20 - 1Jo 4:10).