Der Leidenspsalm und das Judentum

Aus Bibelwissen
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Von Daniel Muhl

Die orthodoxen Juden sehen hier verständlicherweise keinen Hinweis auf den leidenden Messias. In einem Kommentar von Rabbi Samson Raphael Hirsch finden wir zu Psalm 22 folgende Aussage:

  • "Dieser Psalm ist ein Gebet für Jisrael, wenn es ins Exil vertrieben wird, und beschreibt auch das Lob das ausgesprochen wird, wenn der Maschiach kommt."

Hier wird deutlich, dass sich die Juden im Exil, die unter der Verfolgung leiden, mit diesem Psalm identifizieren. Das Gleiche gilt auch für Jes 53. Ignaz Maybaum, einer der führenden jüdischen Theologen des 20. Jahrhunderts, stellte folgende These auf:

  • "Der Holocaust sei die ultimative Form der stellvertretenden Versöhnung. Das jüdische Volk ist tatsächlich der "leidende Knecht" des Jesaja geworden, es leidet für die Sünden der Welt."

Maybaum schreibt:

  • "In Auschwitz litten die Juden stellvertretend für die Sünden der Menschheit." »Er«, der leidende Knecht, ist der Stellvertreter des Volkes Israel, und die Wendung »unsere Missetaten« bezieht sich ebenfalls auf das Volk Israel. »Er«, der Gerechte, leidet an »unseren Übertretungen«, den Sünden der Welt. Gottes unschuldiger Knecht leidet mit den Schuldigen."

Die Parallelen von Psalm 22 und Jesaja 53 zu der Passionsgeschichte, die wir in den Evangelien finden, sind so überwältigend, dass man eigentlich nur zwei Schlüsse ziehen kann:

  • Entweder handelt es sich bei Jesus um den leidenden und prophezeiten Messias, weil die Übereinstimmung unmöglich ein Zufall sein kann,
  • oder aber man behauptet, dass die Passionsgeschichten der Evangelien nicht der Wahrheit entsprechen, sondern im Nachhinein so angepasst wurden, dass sie mit den alttestamentlichen Prophezeiungen übereinstimmen.

Es dürfte klar sein, dass die orthodoxen Juden von der zweiten These überzeugt sind, sie bezweifeln wohl in den meisten Fällen die historische Zuverlässigkeit des neuen Testaments.