Das Rätsel der römischen Kirche

Aus Bibelwissen
Wechseln zu: Navigation, Suche

Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor:
4. Abschluss des 6. Reichs

5. Das Rätsel der römischen Kirche

Ist der hinter uns liegende Weltkrieg dem Gedanken günstig, dass um 1970, also in einem starken Menschenalter, das 6. Reich der Offenbarung zu Ende gehen könne? Wenn wie seither, unter diesem 6. Reich Europa verstanden wird, zu welchem das alte römische Reich sich ausgestaltet hat, dann spricht der Weltkrieg mit seinen tiefgreifenden Folgen für Europa eher für diesen Gedanken als gegen ihn. Der Krieg hat Europa zu einem großen Trümmerfeld gemacht. Europa schien trotz aller Spannungen zwischen den Staaten eine wohlgegliederte Völkerfamilie geworden zu sein, dessen hohe Kultur auch Russland sich immer mehr einfügte. Noch von 20 Jahren schien ein Krieg, der fast alle europäischen Völker gegeneinander mobil machte, undenkbar zu sein. Europa schien einem weiteren Aufstieg entgegen zu gehen. Nun liegt das Europa der Vorkriegszeit dahinten, und lässt sich nie wieder zurückholen. Europa ist wund geworden, und die Wunden wollen nicht heilen. Nach Kriegsende wurde in einem Buch der Satz "Untergang des Abendlands" vertreten. Die Begründung des Satzes erfolgte durch den Hinweis auf rein innermenschliche Vorgänge. Man könne an verschiedenen Kulturen eine Jugend-, Reife- und Altersform wahrnehmen; und wenn eine Kultur diese Stufen durchlaufen habe, dann erfolge das Absterben. So sei die abendländische Kultur im Sterben begriffen. Im vorliegenden Buch wird der Gedanke vom Ausgang der Zeit des Abendlandes, ja der ganzen Menschheit, ebenfalls vertreten.

Aber die Begründung ist ganz anderer Art. Sie sieht das, was den Geschichtslauf zur Entscheidung drängt, nicht innerhalb dieser Welt und Zeit, sondern in Gottes Plan und Willen, der dem jenseitigen Verderber der Menschheit Raum gibt für sein böses Wirken, um dann sein Reich in der Menschheit aufzurichten. Aber trotz der grundsätzlichen Verschiedenheit der Begründung ist doch jener Satz vom Untergang des Abendlands bemerkenswert, und ebenso der Eindruck, den er trotz manchen Widerspruchs gemacht hat. Der Traum vom fortschreitenden Sieg der Kultur hat durch das Kriegserlebnis einen Stoß bekommen, und die verantwortlichen Führer der europäischen Völker mag manchmal ein Bangen ergreifen, wie auf die Dauer die Zukunft Europas sich gestalten werde, nachdem der Krieg und die Nachkriegszeit aus diesem Erdteil in staatlicher, wirtschaftlicher, sozialer und sittlicher Hinsicht ein großes Trümmerfeld gemacht hat. Der Schwerpunkt der Weltgeschichte hat sich verschoben. Das durch den Krieg mit veranlasste Erwachen der großen Völker Asiens, und der schwarzen Bevölkerung Afrikas, ist ein ernstes Zeichen für Europa, das bisher obenan war und die Führerrolle innehatte.

Wenige Jahre haben genügt, um die Weltlage von Grund auf zu ändern. Eine nüchterne Beobachtung der Lage zeigt, dass der Geschichtsverlauf dem Gedanken eines, in absehbarer Zeit bevorstehenden Endes der europäischen Vormachtstellung nicht entgegensteht. Es ist nicht gesagt, dass ein solches Ende eine Art Sterben sein müsste. Aber mancherlei Zuckungen wirtschaftlicher, politischer, sozialer und revolutionärer Art können dem jetzigen, und dem kommenden Geschlecht bevorstehen! Und solche Zuckungen werden verschärft durch den sittlichen Niedergang. Das Einzelne ist dem Auge entzogen. Es können auch Ereignisse kommen, die nicht vom menschlichen Willen abhängen, sondern wie mit Naturnotwendigkeit, und doch nach Gottes heiligem Plan eintreten, Zeiten großen Sterbens, wie sie Johannes bei der Öffnung des 4. Siegels wahrnahm; oder gewaltige, tief in das menschliche Leben eingreifende Naturereignisse, in der Art, wie sie aufgezählt werden bei den ersten vier, der das nahende Ende ankündigenden, Trompetenstöße (Offb 6:7.8; Offb 8:7-12). Es kann ja die Frage auftauchen, ob zumal die letztgenannten Ereignisse auf das Naturgebiet bezogen werden müssen. Aber der nächste Eindruck ist der, dass es sich um Naturereignisse handle. Und dieser Eindruck wird verstärkt durch die Wahrnehmung, dass die letzteren in der neueren Zeit sich häufen, und zugleich an Umfang zunehmen. Es ist, als ob den Gärungen in der Völkerwelt das Toben der Elemente zur Seite stünde. Auch das weissagende Wort Jesu hat als Vorzeichen und Zeichen des Endes Erschütterungen auf dem Naturgebiet genannt.

Ausreifen des Erntefelds

Wenn von einem Ende gesprochen wird, so denkt man an den Ausgang, an das Aufhören. Aber Ende bedeutet auch soviel wie Abschluss. So ist das Reifwerden auch ein Ende, nämlich das Ende der wachstümlichen Entwicklung. Ein Reifen gibt es nicht nur auf dem Erntefeld, sondern auch in der Geschichte, und zwar ein doppeltes Reifen im Sinn des 2. Ackergleichnisses Mt 13:24-30. Die Menschheit hätte in diesem Geschichtslauf reif werden sollen für das Reich Gottes. Nach dem Willen des Fürsten dieser Welt soll sie reif werden zum völligen Abfall von Gott. Das Reifwerden in beiderlei Sinn braucht Zeit. Es gilt nun den Doppelsinn vom Ende zusammen zu schauen, wonach es sowohl das Aufhören als das Reifwerden einschließt. Dass beides in Eines gesehen werden kann, wird am Gleichnis von der Ernte deutlich; diese ist Reifsein und Aufhören in Einem. Denn das Reifwerden der Ernte ruft die Sichel, und das Erntefeld wird leer. In diesem Licht gewinnt der Weltkrieg noch einmal ein besonderes Aussehen: er hat den Fall Europas, aber auch sein Reifwerden beschleunigt. Was zuerst ins Auge fällt, ist das Trümmerfeld, das den Gedanken wachruft: Europa hat sich selbst das Grab gegraben! Diese Wirkung des Kriegs ist ja entsetzlich genug. Aber der Krieg hat auch Entwicklungen entbunden, von denen man beim Blick auf die Weissagung der Bibel sagen muss, dass ihr Eintreten unvermeidlich war. Rom reift erst durch den Krieg vollends aus. Und der Krieg war eine wichtige Stufe auch für das Reifwerden der ganzen Menschheit.

Sieht man auf das Wachstum in der Natur, so macht die Wahrnehmung des Reifens Freude. Dass zur Blüte die Frucht kommt, und dass die Frucht reif wird, ist das Naturgemäße. Folgt der Blüte kein Fruchtansatz, fällt die Frucht vor der Zeit ab: das ist ein wehmütiger Anblick. Auf dem Gebiet der Geschichte löst der Blick auf das Reifwerden des Geschehens nicht immer freudige Gefühle aus. Ja, wenn es sich immer um normale Entwicklungen handelte! Dann würde die Betrachtung des Werdegangs des Menschen und Völkern eine Freude nach der anderen auslösen. Ganz fehlt ja solche geschichtliche Erquickung nicht. Ungetrübte Freude macht der Gang des Einen, der Gottes- und Menschensohn zugleich ist. Am Kreuz kam dieses ganze wunderbare Leben zur Reife. Das Kreuz an sich ist ein ernster Missklang; trotzdem hat es in den Gang Christi keinen Missklang hinein, sondern ihn zur vollen Reife gebracht, für ihn selbst und für die ganze Welt. Manche biblischen Lebensbilder tun deshalb so wohl, weil das Leben der Männer, von denen sie Kunde geben, ohne wesentlichen Missklang, oder nach Überwindung von Missklängen harmonisch abschloss oder zur Reife gelangte.

Wesentlich anders wird ein Werdegang, wenn die Sünde ihren störenden, verunstaltenden und verkehrten Einfluss geltend macht, ohne dass ein Ausgleich erfolgt. Die Wahrnehmung eines solchen Werdegangs ist eine Pein, zumal wenn es sich um große geschichtliche Zusammenhänge handelt. So wagt nur die Bibel den klaren Blick auf den unheimlichen Ausgang der Menschheitsgeschichte, dass sie nämlich mit der völligen Verhaftung der Menschheit an die Macht der Finsternis schließen wird; und nur die Bibel wagt solchen Ausgang in greifbarer Nähe zu sehen, während die Welt es liebt, unangenehme Dinge in möglichst weite zeitliche Ferne hinauszurücken.

Die Geschichte der römische Kirche

So ist ein großes Rätsel, dem man nicht gerne näherrückt, die römische Kirche. Sie wird gewöhnlich katholisch genannt, und sie selber legt auf diesen Namen, dass sie nämlich die allumfassende sei, großen Wert. Aber wegen der engen geschichtlichen Beziehung zu Rom möge sie die römische genannt werden. Unseren Reformatoren war es völlig klar, dass in dieser Kirche, die doch ursprünglich für sie Mutter war, neben dem Evangelium, das ihr immer noch eigen war, eine widergöttliche Entwicklung die Oberhand gewonnen hatte. Die katholische Kirche besteht aber weiter. Sie hat zeitweise ihren Gegensatz gegen die evangelischen Kirchen zurückgestellt; aber im Grundsatz erkennt sie dieselben nicht als Kirchen an. Sie hat sich im Gegensatz gegen das, was den evangelischen Kirchen das Teuerste ist, versteift. Aber wer wagt es, über den weiteren Werdegang der katholischen Kirche nachzudenken, und sie sich vorzustellen in der Zeit ihrer Reife? Wer wagt eine Verbindungslinie zu ziehen von der Gegenwart des geistlichen Roms zum Schlussbild der Offenbarung?

Es sei ausdrücklich gesagt, dass jeder Versuch, diese Linie zu ziehen, auch für die evangelischen Kirchen amerikanischer Prägung, für die englische Hochkirche, wie für die deutschen Kirchen sehr ernst ausfällt. Jede einseitige Hervorhebung Roms, als sei es allein auf bedenklichen Wegen, ist ein Unrecht und ein Verkennen der ernsten Erscheinungen auf der eigenen Seite. Ebenso wäre es, wie schon früher hervorgehoben wurde, ein großes Unrecht, einzelne Personen, selbst wenn sie Führer sind, für die Gesamtentwicklung verantwortlich zu machen. Persönlicher Widerwille scheidet bei der Frage nach den letzten Triebkräften einer langen Entwicklung völlig aus. Denn ein langer Werdegang liegt bei der katholischen Kirche vor; sie selber erfasst sich als eine durch fast zwei Jahrtausende hindurch gehende Einheit. In einem derartigen ununterbrochenem Zusammenhang mit dem alten Römerreich sieht keine der heutigen europäischen Völker seine Geschichte, wie die römische Kirche der Gegenwart über die mittelalterliche Kirche zurück, den Zusammenhang wertet mit der alten Reichskirche, ja ihre Organisation zurückführt bis auf Petrus.

Die Kirche Roms ist noch nicht ausgereift. Aber Anhaltspunkte, in welcher Weise sie zur Reife gelangen werde, bietet ihre bisherige geschichtliche Entwicklung. An ihr lassen sich, im Unterschied und Gegensatz zur Gemeinde Jesu, drei ungöttliche Merkmale wahrnehmen. Einmal der Drang, sich selbst hervorzuheben und zu verherrlichen. Daher rührt das Verlangen nach Herrschaft. Der Herrschaftanspruch über ihre eigenen Glieder, wie über die, die draußen sind, wird erhoben im Namen Christi. Auch das neuerdings eingeführte Fest von der Königsherrschaft Christi stellt die Kirche auf den Leuchter. Darum geht die römische Kirche nicht darauf aus, ihre Glieder mündig und wahrhaft frei zu machen; sie kann und will ihnen auch nicht zur Heilsgewissheit, und zum unmittelbaren freien Hintreten zum Gnadenthron behilflich sein, bindet sie vielmehr bis über das Grab hinaus an sich. Dass mancher sich wohlfühlt, wenn ihm bei gehorsamer Anhänglichkeit an die Kirche von der Kirche die große Selbstverantwortung abgenommen wird, welche in der Gemeinde Jesu keinem erspart werden kann, ist ja verständlich.

Wenn ein Mensch nicht durchdringt bis zu den letzten Gründen der Geborgenheit, der Gewissheit der Versöhnung mit Gott, durch Christi Blut im Heiligen Geist, dann ist es begreifbar, wenn das Gefühl der Geborgenheit im Schoß der Kirche gesucht wird. Die römische Kirche hat übrigens zu allen Zeiten auch solche gehabt, und hat sie heute noch, die im unmittelbaren Besitz des Friedens Gottes waren und sind. Sie brauchen deshalb ihrer Kirche nicht den Rücken zu kehren, und dürfen sie ehren in demütiger Untergebung unter ihre Ordnungen, wenn sie sich nur im Glauben auf Christum als ihrem einzigen Versöhner stützen. Von Herzen gönnen wir der katholischen Kirche solche Glieder, und begehren sie nicht auf die eigene Seite herüberzuziehen. Die Gemeinde Jesu in ihrer Mitte ist der größte Halt und Schutz aller Kirchen. Und solange eine Kirche diese schätzt oder auch nur duldet, ist sie noch nicht ganz widergöttlich geworden. Aber das ernste Urteil, dass jede Kirche, die aus demütigem Dienst zum Herrschaftsanspruch übergegangen ist, in eine widergöttliche Bahn eingetreten ist, bleibt trotzdem bestehen. -

Ein zweites Merkmal der römischen Kirche neben dem Drang zur Herrschaft, ist die Bereitschaft zu Zugeständnissen an das natürliche Menschenwesen, wenn nur der Hoheitsanspruch der Kirche anerkannt wird. Diese Zugeständnisse können zu Anpassungen im Großen führen, ja zur Übernahme von Wesenszügen, die der Kirche eigentlich fremd sein müssten. So hat die katholische Kirche das Heidentum nicht nur nicht überwunden, sondern hat vielmehr einen nicht kleinen Teil heidnischen Wesens, unter christlicher Ausprägung übernommen, und ihm damit eine christliche Weihe gegeben. - Ein dritter Zug Roms ist die Bereitschaft zum erbitterten Kampf gegen alles, was sich aus Gewissensgründen nicht in sein Gefüge findet, nicht in sein System einfügen kann. Wo kein gewissensmäßiger Einspruch vorliegt, kann Rom sehr freundlich und entgegenkommend sein; ebenso wo Aussicht ist, dass es sich durchsetzen kann. Eine im Gewissen gebundene Freiheit dagegen erträgt es schwer, Zeugnis davon legen viele Scheiterhaufen in früherer Zeit ab. Der Kampf hat sich später nicht mehr in dieser Weise durchführen lassen; aber Roms inwendige Stellung zu denen, die es hartnäckige Ketzer nennt, hat sich nicht geändert.

In allen drei Stücken ist die römische Kirche noch nicht ausgereift. Aber wie die Frucht zur Reife drängt, so geht's auch hier. Letzten Endes ist es freilich nicht die Kirche selber, die vorwärts will; sondern sie wird getrieben. Nochmals sei dieses Geschobenwerden betont. In dem seit fast zwei Jahrtausenden bestehenden Gefüge kommt weder den Geführten, noch den Führern klar zum Bewusstsein, was an der Richtung des Ganzen ungöttlicher Art ist. Sie handeln weithin in guter Absicht. Wem dieser wunde Punkt zum Bewusstsein kommt, bei dem wird ein inneres Beben anheben, von einer nicht geringen Schwere. Hinter jeder Strömung, welcher Art sie auch sei, die an irgendeiner Stelle aus der göttlichen Linie herausgetreten ist, stellt sich in aller Verborgenheit die Macht der Finsternis, um sie in der begonnenen Fehlrichtung weiter vorwärts zu drängen. Das gilt auf allen Gebieten. Diese Macht der Finsternis wird geleitet von einem persönlichen Willen, der durch die Zeiten hindurch eine wachsende Entschlossenheit, eine zunehmende Energie entfaltet, je mehr er weiß, dass seine Zeit dem Ende entgegengeht: es ist der Wille des alten, bösen Feindes.

Auf dem Weg zur Einheitskirche

Es sei hier zum Verständnis der Schlussgerichte eine wichtige Bemerkung beigefügt: dieser, die Personen und die Zeiten überragende Wille, geht darauf aus, die vielen Strömungen in der Welt zu einer einzigen großen Bewegung zusammenzufassen, nämlich zu der gegen Gott und gegen Christus. Seiner Kunst wird es schließlich gelingen, auch solche Bewegungen, die zuerst einander widerstrebten, einander näher zu bringen, bis sie schließlich zusammenfließen. Er wird alle Strömungen auf einen Punkt hin zu sammeln wissen. Aber auf dem Weg zu diesem seinem Ziel bevorzugt er diejenigen Bewegungen, welche die größte Durchschlagskraft haben. Diesen macht er andere von geringerer Durchschlagskraft dienstbar.

Eine der gewaltigsten Kräfte dieser Art, mit einer mehr als tausendjährigen Tradition (Überlieferung), noch gesättigt mit altem christlichen Gut, aber von der Bahn der Gemeinde Jesu schon weit abgekommen, ist die römische Kirche. Wird der Fürst dieser Welt diese Macht auf der Seite lassen, wenn er seinen Menschheitsplan zum Abschluss bringen will? Das ist nicht wahrscheinlich. Nur muss er zu diesem Zweck, das in ihr noch vorhandene christliche Erbgut schwächen, und die ungöttlichen Ziele stärken. Das Jahr 1870 mit der Unfehlbarkeitserklärung war ein wichtiger Meilenstein in dieser Entwicklung. Der Weltkrieg hat äußere Widerstände gebrochen. Im Herzen Europas ist diejenige Macht, die der Finsternis als Bollwerk des Evangeliums galt, ausgeschaltet. Und durch das deutsche Volk gehen die schweren Erschütterungen, die nach Gottes Willen wohl zum Evangelium hindrängen, aber nach des Satans Willen von ihm wegtreiben sollen. Durch die Völker des europäischen Festlands geht ein Zittern. Sie fühlen, wie der Boden wankt. Zum Teil rührt die Erschütterung her von den Nachwehen des Kriegs, zum Teil von den, die ganze Gesellschaft zersetzenden Gärungen.

Werden die Völker vielleicht reif für die römische Kirche, als dem Felsen im Toben der Wellen? Wer weiß, ob nicht auch die Staatsmänner noch Roms Mithilfe anrufen, wenn sie merken, dass ihnen die Zügel entgleiten wollen? Das Starkmachen ist sonst Gottes Sache, wenn nämlich die Schwachen ihn um Verstärkung anrufen; aber es gibt auch eine Stärkung von der entgegen gesetzten Seite. Es wäre wohl möglich, dass die Macht der Finsternis im erschütterten Europa zwei Entwicklungen fördert: zuerst ein Wachsen der Nöte und der sozialen Erschütterungen; und dann ein Hochkommen Roms als des Retters in den stärksten Wirren. Es wäre nicht undenkbar, dass Rom sich stärker erweist als sozialistische Bestrebungen, ja als revolutionäre Umtriebe. Ihm stehen eine längere Erfahrung und große Menschenkenntnis zur Seite. Auf die Lage und Aufgabe der evangelischen Kirchen Deutschlands kommen wir in diesem Zusammenhang nicht mehr zu sprechen. Was sie wissen und beachten müssen, was sie zu tun haben, und wessen sie sich trösten dürfen, das ist in dem Reformationslied ausgesprochen: Ein feste Burg ist unser Gott! Nur ist es nötig, sich nicht nur des 1. Verses zu erfreuen, sondern auch die übrigen zu beherzigen.

Das politische Erbe Europas

Überblickt man die Mächte, die seit dem Weltkrieg auf dem europäischen Festland um Geltung ringen, und lässt man die von außen einwirkenden Bestrebungen einstweilen auf der Seite, dann kann man drei nennen: den Imperialismus, den Sozialismus und die römische Kirche. Der erstere, d. h. das Streben nach politischer Vormachtstellung, ist vor allem in Frankreich vorhanden, und hat dort eine lange Geschichte hinter sich. Der Ausgang des Weltkriegs hat dieses politische Machtstreben noch gesteigert. So steht es zur Zeit unter den europäischen Staaten des Festlands an erster Stelle. Russlands alte politische Macht ist zur Zeit ausgeschaltet; Deutschland ist wehrlos. Es kann sein, dass Frankreich der politische Erbe Roms in der Gegenwart wird, dass das vorher zerklüftete festländische Europa unter seiner Führung noch einmal eine Art Zusammenfassung erlebt. Aber das Machtstreben regt sich ebenso in Italien, das gerne die eigentlichen Mittelmeerländer zusammenfassen möchte, in später, aber nicht weniger kräftiger Nachbildung des älteren Roms. Und sehr stark ist das Machtstreben in Russland, obwohl dem Bolschewismus die äußeren Machtmittel nur in geringerem Maße zur Verfügung stehen. Die Glieder des Leibes sind uneins geworden. Welchen Jammer das gegenseitige Ringen dieses Imperialismus noch über Europa bringen kann, das vermag niemand zu sagen; aber manchmal mag denen, die darüber nachdenken, eine bange Ahnung aufsteigen. -

Der Sozialismus ist vorhanden von maßvoller bis zur ausgeprägtesten Form; bald will er nur im eigenen Volksganzen zur Auswirkung gelangen, bald will er über das eigene Volk hinübergreifen, und europäische Wirkung, ja Weltwirkung erzielen. Wer will sagen, wie sich das Leben gestalten würde, wenn sozialistische Bestrebungen, besonders solche umstürzender Art, zum Ziele gelangten? Was in Russland vorgefallen ist, im Hass gegen alles Göttliche, darf wohl zu denken geben, zumal die Zuckungen sehr ernster Art in den Nachkriegsjahren auch in Deutschland zu verspüren waren. - Es kann wohl sein, dass die römische Kirche, die die ruhigste, am meisten ihres Ziels bewusste unter den 3 Mächten ist, mit denen beide anderen zusammengehen. Sie wäre geeignet, sich zwischen streitende Gruppen zu stellen, und ein Bindeglied zu bilden zwischen Imperialismus und Sozialismus.

Wenn der weitere Geschichtslauf diesen Gedanken über den Gang der römischen Kirche Recht geben würde, dann würde es sich ergeben, dass sie die Abschattung des römischen Reichs darstellt. Es entspricht der in der alten Zeit: römisches Reich und Reichskirche; im Mittelalter die abendländische Völkerfamilie unter dem neuerstandenen Kaisertum und die mittelalterliche Kirche unter dem Papsttum; und nach einer Zeit des Niedergangs der mittelalterlichen Kirche, und der Trennung Europas in zwei kirchliche Lager, könnte es für die kommende Zeit heißen: Rettung Europas aus den Erschütterungen des Weltkriegs, durch die römische Kirche unter Ausschaltung der Selbstständigkeit der evangelischen Kirchen, und unter Wiederanschluss der griechischen Kirche! Wir wissen nicht, ob die Geschichte diesen, im Großen angedeuteten Weg gehen wird. Anzeichen, die nach dieser Richtung weisen, sind vorhanden. Würden die obigen Mutmaßungen sich als richtig erweisen, dann wäre die römische Kirche zur Reife gelangt als die eigentliche Erbin Roms. Was Eisen und Ton zusammenhielt, was beim Auseinandergehen in die Zehen die Einheit darstellte, und wieder zu ihr zurückführte, das wäre dann das geistliche Nachbild des alten römischen Reiches. Die römische Kirche wäre über das Mittelalter hinüber das Bindeglied zwischen der ersten und der dritten Erscheinungsform des 6. Reiches. Das wäre ein Triumph des alten, bösen Feindes, wenn es ihm gelingen würde, in solch umfassender Weise die Gemeinde Jesu ihrem eigentlichen Zweck zu entfremden, und seinem Ziele dienstbar zu machen.

Auf dem Weg zur Weltherrschaft

Bisher war der Blick mit bewusster Einseitigkeit auf das festländische Europa gerichtet worden. Aber die Geschichte des Festlands ist schon seit langer Zeit nicht mehr denkbar ohne England, den vorgeschobenen Posten an Europas Westseite, und ohne Amerika, den überseeischen Ableger Europas im Westen. Und schon längst hat Europa einschließlich Englands, nach den anderen Erdteilen gegriffen, und sie seine Überlegenheit fühlen lassen. Aber in zunehmendem Maße wirken nun Asien und Afrika auf Europa zurück. Der Weltkrieg hat nicht nur für innereuropäische Geschichte ausschlaggebende Bedeutung gehabt; seitdem ist vielmehr, die vorher so zersplitterte Geschichte der Völker und Völkergruppen zur gemeinsamen Geschichte, zur Weltgeschichte geworden. Das im Weltkrieg sich selbst zerfleischende Europa hat die ganze Welt zum Krieg herbeigerufen, und in den Krieg hineingezwungen; nun wird es die Welt nicht mehr los.

Der Griff nach der Welt

Es war früher die Rede davon, dass dem 6. Reich, durch die arabische und türkische Welt des Islam, der Weg nach Asien und Afrika versperrt wurde, und dass deshalb sein Ausdehnungsdrang sich nur nach dem Norden Europas betätigen konnte. Um die Wende des 15. zum 16. Jahrhundert wurde die Umgehung des Sperrwalls auf dem Seeweg versucht. Sie gelang. Um Afrika herum wurde der Weg nach Ostindien gefunden. Beim Versuch, Indien auf anderem Weg zu erreichen, war Kolumbus einige Jahre vorher nach Amerika gelangt. Später kam die Kenntnis Australiens dazu. Die alte Welt hatte wieder einen Ausgang, und eine neue Welt tat sich vor den Völkern Europas auf. Sie haben sich darauf gestürzt. Im Lauf der Zeit haben sich nahezu alle europäischen Völker ein Stück der Welt zu sichern gewusst, die Portugiesen, die Spanier, die Russen, die Franzosen, die Italiener, die Deutschen. Wie soll das verstanden werden? Hier kam zur Bestätigung, was Daniel im 4. Tier sah: nämlich das Umsichgreifen mit den Krallen, das Zermalmen mit den Zähnen, das Zertreten mit den Füßen (Dan 7:19). Das alte römische Kaiserreich war noch nicht die Ausgeburt dieses Tieres, sondern erst dessen Erstlingsgestalt; im Mittelalter hatte es bereits nach dem Norden Europas weiter gegriffen, und nun griff es nach der Welt.

Die also nach der Welt griffen, das waren christliche Völker! Ihre Schuld gegenüber diesen außereuropäischen Völkern, die mit Ausnahme der Inder alle der hamitischen Völkergruppe angehören, ist riesengroß, wiewohl nicht alle Völker in gleichem Maße mit Schuld belastet sind; verhältnismäßig am wenigsten das deutsche. Die amerikanische Geschichte der Neuzeit ist mit dem Blut der Ermordeten, und mit den Tränen der Verdrängten geschrieben worden. Ein ganzer Erdteil, AMERIKA, ist der einheimischen Bevölkerung abgenommen worden; sein Süden wurde von Romanen, der Norden von Germanen in Beschlag genommen. Und wie groß ist die Schuld der Christenheit am SCHWARZEN ERDTEIL! Mögen die Araber mit den Sklaven begonnen haben: christliche Völker fuhren fort. In dem Buch "Die Mission in der Schule" (15. Auflage 1913) berechnet Warneck die Entvölkerung Afrikas infolge des Sklavenraubs, einschließlich der Menschenverluste bei der Jagd auf Sklaven, und bei der grausamen Überführung zur Küste auf etwa 100 Millionen!

Den Anfang machten Portugiesen; Spanier führen fort, um den durch die Ermordung der Urbevölkerung auf den westindischen Inseln entstandenen Arbeitermangel zu decken; aber die anderen seefahrenden Nationen beteiligten sich auch, Engländer, Franzosen, Holländer, Dänen; zeitweise taten sogar Brandenburger mit. Diese Sünden christlicher Völker erklären manche Merkwürdigkeiten ihrer Geschichte. Der tiefe Fall Portugals und Spaniens hängt wohl auch mit diesen Sünden zusammen, wozu noch die grausame Unterdrückung des Evangeliums in spanischen Landen gekommen ist. Die immer dringender werdende Frage der schwarzen Menschen der Union ist die unmittelbare Folge jener Sünden: die Schwarzen kamen ja nicht freiwillig nach Amerika, sondern sind die Nachkommen der Verschleppten.

Afrika selber ist seiner übriggebliebenen Bevölkerung nicht in gleicher Weise weggenommen worden, wie Amerika den Indianern. Für die neue Art der Besiedlung und Ausbeutung ist das Wort Kolonisation geprägt worden. Mit diesem Wort wird manchmal der Gedanke verbunden, es sei den fremden Völkern mit dem Einzug ihrer Herren eine Wohltat erwiesen worden. Nun soll nicht bestritten werden, dass die Kolonisation, besonders wo sie menschenfreundlich gehandhabt wurde, der einheimischen Bevölkerung auch Erleichterung und Annehmlichkeiten gebracht hat. Aber der Wahrheit würde es mehr entsprechen, wenn statt Kolonisation "Eroberung" gesagt würde. Denn der eigentliche Beweggrund zur Erweckung von Kolonien war nicht das Verlangen, die Bevölkerung zu beglücken, sondern das selbstsüchtige Begehren.

Die Geschichte des Verkehrs der christlichen Völker mit ASIEN ist ebenfalls kein Ruhmesblatt für sie. Es sei hingewiesen auf die Geschichte der Unterwerfung Indiens, zuerst unter portugiesische, dann unter die englische Herrschaft, und auf den unseligen Krieg, durch den England im Jahre 1842 den Chinesen das indische Opium aufgezwungen hat, das man in China garnicht wollte, und das den Chinesen schon in so hohem Grad verderblich geworden ist. - Die Geschichte der Besiedlung AUSTRALIENS ist ebenfalls eine Kette von Gräueltaten, welche die einheimische Bevölkerung fast zum Aussterben brachten.

"Die Weltgeschichte ist das Weltgericht'": Ganz stimmt dieser Satz nicht, aber Wahres ist dran. Wenn Europa, nachdem es im selbstmörderischen Krieg, sich selbst an den Rand des Verderbens gebracht hat, von seiner Herrscherstellung heruntersinkt, die es seit Beginn der Neuzeit über die Welt aufgerichtet hat, so rächen sich hier alte Sünden. Vieles am Christentum der europäischen Völker ist übertünchte Ungerechtigkeit und Barbarei. Und die Missionstätigkeit, soweit sie wirklich das Evangelium bringen, und nicht mit dem Evangelium "christliche" "Kultur" verbreiten will, ist nur eine kleine Abtragung vom Schuldenkonto der europäischen Christenheit, das durch die Jahrhunderte nicht verjährt ist. Zugute rechnen kann sich die Christenheit auf diesen Liebesdienst nichts. Zudem ist er ihr auch befohlen. Übrigens ist er von einzelnen christlichen Kreisen ausgegangen, nicht von der Christenheit als ganzer. Es ist eine Freundlichkeit Gottes, dass er diesen Dienst angenommen hat und ihn in seinen Reichsplan einfügt.

Was einst Noah weissagend ausgesprochen hat, als sein Sohn Ham sich an ihm versündigt hatte, ist an der hamitischen Völkergruppe in Erfüllung gegangen. Die neuere Weltgeschichte ist eine wesentliche Auswirkung dieses Fluchs. Sowie die Hamiten in den Gesichtskreis, und in die Reichweite der japhetitischen Völkerwelt Europas kamen, begann ihre Unterwerfung unter die letztere. Aber diese haben, das ihnen durch die göttliche Regierung eingeräumte Herrscherrecht über die hamitischen Völker überschritten und missbraucht. Deren Knechtschaft währt nicht für immer. Wie mächtig steht schon seit geraumer Zeit Japan da, als Bundesgenosse begehrt, weil es als Nebenbuhler gefürchtet ist! Wie regt sich das chinesische Riesenreich, und zieht in seinem gegenwärtigen inneren Wirren die Blicke der Welt auf sich! Wenn es sich aus seinem Durcheinander herausgearbeitet hat, und sich seiner Kraft bewusst geworden ist, können die europäischen Völker die Behandlung nicht mehr fortsetzen, die sie sich ihm gegenüber früher erlaubten. Und die schwarze Welt Afrikas ist im Krieg auch erwacht, und hat Europas Schwäche gesehen, und die Waffen gebrauchen gelernt. Ob nicht die Staatsmänner manchmal besorgt sind ob der Zeiten, die für das eins ans Herrschen gewöhnte Europa und Amerika anbrechen können, wenn die fremden Völker erstarkt sind! Europa verdankt seine Herrscherstellung letzten Endes nicht der eigenen Tüchtigkeit seiner Völker, sondern der Güte und Gnade Gottes. Wie aber die Hamiten unter dem Fluch der Sünde seufzen, so steht auch die Sünde der Japhetiten unter dem Fluch; und der Fluch beginnt sich zu erfüllen.

England und Amerika - politisch

Es ist bereits gesagt worden, dass ziemlich alle Völker Europas an dessen Herrscherstellung innerhalb der Welt Anteil gesucht und gefunden haben. Unter den festländischen sind aus der Gegenwart zu nennen: die Erben West- und Ostroms, nämlich Frankreich und Russland. Das letztere hat den ganzen Norden Asiens sich einverleibt. Das erstere hat sich ein gewaltiges Kolonialreich in Nordafrika geschaffen; auch in diesem Stück geht es in den Bahnen Roms, das seinerzeit auf die Besitzergreifung Nordafrikas einen Hauptteil seiner Kraft verwandte. Zu nennen ist auch der große Kolonialbesitz der Niederlande auf der hinterindischen Inselwelt. Aber der eigentliche Vertreter der europäischen Herrscherstellung in der Welt ist England, dessen Reich man mit gutem Grund ein Weltreich nennen kann, auch wenn man es nicht als eines der 7 in der Offenbarung genannten Reiche betrachtet, wiewohl die Eigenart dieses Reiches einen solchen Gedanken nahelegen würde. Ohne die Teilnahme Englands am Weltkrieg, die auch den Eintritt der Union nach sich zog, wäre derselbe, menschlich gesprochen, für Deutschland kaum so ernst geworden. Das englische Reich unterscheidet sich von allen anderen Staatsgebilden. Die letzteren sind geschlossene Herrschaftsgebiete von kleinerem oder größerem Umfang. Das Mutterland des Reichs, England, hat keinen sehr großen Umfang. Aber sein Herrschaftsgebiet, das ihm in engerer oder loserer, in selbstständigerer oder gebundenerer Form angegliedert ist, erstreckt sich über sämtliche Erdteile. Bald sind es Gebiete von gewaltigem Umfang, bald ganz kleine Flächen, die wie Inseln innerhalb der Völkerwelt sich ausnehmen. Aber jedes Gebiet liegt am Meer und ist so angelegt, dass die wichtigsten Wasserstraßen von diesen Stellungen beherrscht werden können. Das Werden dieses Reichs hat eine lange Geschichte. Zwar sind die Engländer im allgemeinen geneigt, ihr Reich in naher Beziehung zum Reich Gottes zu sehen, aber die Art, wie es zustande gekommen ist, ist ein Zeichen, dass es ebenfalls an der Tierart teilhat.

Ein Ableger Englands sind die Vereinigten Staaten Nordamerikas, die Union. Zwar haben alle europäischen Völker ihre überschüssige Bevölkerung an die Union abgegeben und haben so Amerika zu einem Ableger Europas gemacht. Aber die eigentliche Brücke nach Amerika hinüber war und ist England. Übrigens ist Amerika längst nicht mehr nur eine europäische Kolonie, sondern ein zweites Europa, ein weiter entwickeltes Europa. Europa ist das altgewordene 6. Reich; Amerika ist seine verjüngte Gestalt. Dort ist ein neues Volk entstanden und immer noch im Entstehen begriffen. Jäger hat in seiner bereits genannten Abhandlung über die Kulturen im Licht der Bibel recht, wenn er Amerika den Schmelztiegel der Völker nennt. In diesen Tiegel kommen die Auswanderer; sie werden in kurzer Zeit umgeschmolzen. So geht es aber nicht nur mit den Einzelnen, sondern auch mit den Volksarten. Das Ergebnis des Umschmelzungsprozesses ist der Amerikaner. Dessen Gepräge ist zwar nicht in ganz Amerika gleich. In Südamerika wiegt die romanische Art vor. Aber merkwürdig einheitlich in der Art sind, die zur Union gehörenden Amerikaner, trotz der Herkunft aus ganz verschiedenem Blut, aus germanischem, romanischem, keltischem und slawischen. Die Grundart der Vereinigten Staaten ist englisch, die Sprache ist englisch. Bis vor 150 Jahren gehörten sie auch zum englischen Reich. Beispiellos ist die rasche Entwicklung der Union zu einer Weltmacht ersten Ranges, die vor allem mit ihrer unerhörten wirtschaftlichen Blüte zusammenhängt. Die Union und England haben vieles Gemeinsame, namentlich das angelsächsische Wesen. Die Interessen sind freilich nicht die gleichen. Aber ob nicht, zumal in gemeinsamen Notzeiten, die noch kommen mögen, das Gefühl für das Gemeinsame die Gegensätze ausgleichen würden?

Der Übergang zum 7. Weltreich

Wie soll England-Amerika im Rahmen der, in der Offenbarung genannten 7 Weltreichbildungen verstanden werden? Den Verfasser hat früher der Gedanke viel bewegt, ob die beiden, durch den Bindestrich zusammengehörig bezeichneten Mächte, nicht nach dem römisch-europäischen Reich als dem 6. Tierkopf, die Überleitung darstellen zum antichristlichen Reich, so dass sie durch den 7. Tierkopf bezeichnet wären, der dem 8. Kopf vorausgeht. Veranlasst war dieser Gedanke durch die Beobachtung der Eigenart und der Kraftentfaltung der englisch-amerikanischen Macht, sowie durch die Wahrnehmung, dass England nicht nur geographisch abseits von Europa liegt, sondern dass auch seine Geschichte nicht ganz in den Bahnen der europäischen Völker verläuft. Zwar hat England in zunehmenden Maß in die europäische Geschichte eingegriffen, so mit der Niederwerfung seiner seefahrenden Konkurrenten auf dem Festland, der Spanier, der Niederländer, der Dänen. Weiter mit dem erfolgreich durchgeführten Grundsatz, keine festländische Macht zu stark werden zu lassen - so hat es seiner Zeit Napoleon I. in Schach gehalten; so hat es im letzten Krieg Deutschland getroffen, und gleichzeitig Russlands Kräfte, die für England gefährlich wurden, festgelegt.

Die europäischen Völker und Staaten waren und sind ihm mehr Figuren auf dem Schachbrett, von denen es je nach seinen Bedürfnissen, und nach der jeweiligen Lage, eine gegen die andere ausspielt. Aber nähere Beziehungen zu ihnen hat England nicht und begehrt sie nicht; seine Freundschaft bleibt kühl, und sogar seine Abneigung und sein Hass ist kalt. Auch die innere Geschichte Englands ist mit der Entwicklung der europäischen Staaten nicht gleichartig gewesen und ihr vorausgeeilt. Wäre aber England, zusammen mit Amerika, als das 7. Weltreich anzusehen, dann dürfte - die Richtigkeit der Annahme vorausgesetzt, dass das 6. Reich in 3 Zeiträumen von je 666 Jahren verlaufe - ihr Eintritt in die eigentliche Weltmachtstellung erst in einem starken Menschenalter beginnen. Nun war es zwar auch bei den früheren Weltreichbildungen so, dass ihre Vormachtstellung eine kürzere oder längere Geschichte vorausging mit manchmal kräftiger Machtentfaltung - man denke an das römische Reich vor dem Jahre 30 v. Chr.. Aber der Eindruck ist doch stark, dass zwar die Union sich noch in aufsteigender Bewegung befinde, England aber nahezu den Höhepunkt seiner Machtstellung erreicht habe. Es wäre zwar verfehlt, ein baldiges Sinken Englands von seiner Höhe zu erwarten; es ist wohl möglich, dass nach der Niederwerfung Deutschlands seine Macht noch steigt. Aber die Zeit des ruhigen, sicheren Genusses seiner Weltherrschaft scheint doch bereits abgelaufen zu sein; es muss die Mittel der Staatskunst fleißig anwenden, um sich auf der Höhe seiner Stellung zu halten, und gegen die vom Erwachen der Völker Asiens und Afrikas drohenden Gefahren zu sichern.

Auch für die Union sind schon ernste Fragen entstanden auf äußerem und innerem Gebiet. Im großen Ozean trifft es mit den Interessen Japans zusammen, und muss sich fragen, wie die Lage werde, wenn China zu einem guten Schluss seiner Wirren käme. Ob es z. B. die Absperrung der Völker Ostasiens von seinem Gebiet auf Dauer durchführen könnte; die gleiche Frage kann für England brennend werden im Blick auf Australien. Eine der brennendsten inneren Fragen für die Union ist die, ob sie auf Dauer die Übersättigung mit Zivilisation ertragen kann, ohne Schaden zu nehmen an der Seele. Die Entwicklung aller Verhältnisse geht in immer rascherem Tempo voran. Ein Menschenalter ist in der Gegenwart als eine lange Zeit zu werten, in der grundlegende Änderungen vor sich gehen können, in der auch Hochstellung und Kraftentfaltung sich wandeln können in Niedergang und Schwächung. Diese Erwägungen sind der Vermutung nicht günstig, dass der Höhepunkt der englisch-amerikanischen Machtentfaltung erst etwa 1970 erreicht sein werde. Und ein anderer Gedanke wäre nicht denkbar, wenn es das 7. Reich wäre, und wenn die bisher an der Geschichte geprüfte Auffassung von der Dauer des 6. Reichs, zu Recht besteht. Denn ein neues Reich tritt in seine eigentliche Zeit erst ein, wenn die vorhergehenden abgeschlossen sind. Das neue hebt das alte auf.

An diesem Punkt entsteht eine neue Schwierigkeit für die Vermutung, dass England-Amerika das 7. Reich sein könnte. Wenn England auch ein vorgeschobener Posten ist, und Amerika eine von Europa zu unterscheidende Welt, so ist der Zusammenhang beider mit der europäischen Geschichte, sowohl der blutmäßige, als auch der geschichtliche, nicht zu verkennen. England und Amerika Vorposten und Ableger Europas: damit ist die notwendige Unterscheidung der beiden Größen von Europa ausgesprochen, aber ebenso ihre Zusammengehörigkeit anerkannt. Es sei auch darauf hingewiesen, dass schon das alte römische Reich sich England einverleibt hat. Würden nun Europa und England-Amerika als Reich aufeinanderfolgen, dann wäre innerhalb eines zusammengehörigen Ganzen der Zwiespalt ausgebrochen; mit einem Bild zu reden: der Sohn hätte sich über den eigenen Vater erhoben. Das ist richtig, dass die Vorherrschaft in der Welt in deutlich wahrnehmbarer Weise vom europäischen Festland nach England und Amerika hinübergerückt ist. Das muss aber nicht den Fall des einen Reichs durch das andere bedeuten, sondern nur eine Verschiebung des Schwerpunktes, wenigstens in dem Punkt des Welteinflusses. Auf anderen, ebenso wichtigen Gebieten, kann die Führung bei Europa bleiben. So wird es wahrscheinlich auf geistlichem Gebiet sein. Doch können die Ausführungen zu diesem Punkt erst an einer späteren Stelle gemacht werden.

Aus diesen Gründen muss England-Amerika mit dem 6. Reich zusammen genommen werden. Das früher über dieses Reich Gesagte bedarf deshalb noch einer Ergänzung. Das 6. Reich hat drei Erscheinungsweisen, nicht nur nach seiner Art, sondern auch nach seinem Umfang. Das alte Reich umfasste die Länder um das Mittelländische Meer. Viel ging davon an den Islam verloren. Aber ein großer Teil des Gebiets ist in der neueren Zeit wieder zurückgeholt worden; man denke an die Angliederung Nordafrikas an Frankreich, und an den beherrschenden Einfluss, den England in Ägypten und in Vorderasien errungen hat. Im Mittelalter hat sich das Reich erweitert durch Eingliederung der germanischen und slawischen Welt, wodurch die Schicksalsgemeinschaft der europäischen Völker entstanden ist. In der Neuzeit hat das Reich sich noch weiter ausgedehnt, indem es Amerika zu einem Ableger Europas machte, unter weitgehender Umschmelzung der alten Volksarten, und indem es auf dem Weg der sog. Kolonisation über einen großen Teil der Welt die Herrschaft errang, und den Rest unter seinen Einfluss zu bringen suchte. Die wichtigste Brücke zwischen Europa und Amerika, und zugleich der eigentliche Träger der WELTherrschaft des 6. Reiches, ist England. Das letzte ist neben Russland und Frankreich zur dritten Ausprägung römischen Wesens auf politischen Gebiet geworden.

So ist das 6. Reich im Lauf seiner langen Geschichte mehr und mehr zu einer Zusammenfassung der japhetitischen Völkergruppe geworden. Von dieser steht nur der östliche Zweig abseits, der das persische Volk und die Inder umfasst. Sie stehen abseits, sofern die Perser und Inder von den europäischen Völkern nicht als Brüder bewertet werden, obwohl sie blutmäßig Brüder wären. Das rührt nicht bloß von ihrer frühen Trennung vom europäischen Zweig der Japhetiten her, sondern vom seitherigen Verlauf der Geschichte. Die Araber, und später auch die Türken haben sich als Wall zwischen die europäischen und asiatischen Japhetiten geschoben, und haben den Übergang der letzteren zum Christentum verhindert. In Indien sind schon frühe christliche Einflüsse wirksam gewesen, und in Persien hatte das Christentum Fuß gefasst. Durch die vom Islam herbeigeführte Absperrung kamen die christlichen Einflüsse in Persien nicht zur Reife, und Indien blieb auf seiner heidnischen Stufe stehen. Und die Perser nahmen den Islam an, der auch in Indien starken Eingang gefunden hat. Das Fehlen des Christentums bei den Persern und Indern hat die Wirkung gehabt, dass zwischen den weltlichen und östlichen Japhetiten kein Gemeinschaftsgefühl aufkam, auch nicht in der Zeit, seit England sich in Indien festgesetzt hat, und es als sein Kleinod unter seinen auswärtigen Besitzungen wertet.

Die Beziehung England - Indien

Eigentlich wären Engländer und Inder dem Blut nach Brüder. Die beiden Völker sind freilich nicht unmittelbar miteinander verwandt. Aber sie gehören beide der gleichen Völkergruppe an, und die indische Wesensart hat trotz aller Unterschiede Annäherung an die europäische Art. Der bekannte Inder Sundar Singh z. B ist nach Gestalt und Aussehen viel mehr Europäer als Asiate. Trotzdem behandelt England die Inder nicht viel anders als die Schwarzen. Das Fehlen des Christentums sorgt für diese Trennung, obwohl es nicht christlich ist, um dieses Mangels willen ein stammverwandtes Volk wie ein fremdes zu werten und zu behandeln. In diesem Zusammenhang wird es von neuem deutlich, dass erst das Christentum dem 6. Reich seinen Gehalt, und sein Gewicht gegeben hat. Erst das Christentum hat die Völker des 6. Reichs einander näher gebracht.

Der Segen Noahs hat sich übrigens auch am indischen Volk ausgewirkt. Den Japhetiten wurde das Wohnen in den Hütten Sems verheißen. Das ging dadurch in Erfüllung, dass gerade der japhetitschen Völkergruppe das Evangelium früher nahegebracht wurde als den Hamiten. Nun hat sich zwar die Christenheit, als sie sich, freilich spät, ihrer Missionspflicht gegenüber der nichtchristlichen Völkerwelt bewusst wurde, mit der Verkündigung des Evangeliums allen Erdteilen zugewandt; aber Indien war das erste fremde Land, dem in der Neuzeit das Evangelium dargeboten wurde. Das war schon vor mehr als 200 Jahren, zu einer Zeit, als China und Afrika die beiden, nach Indien wichtigsten Missionsgebiete, noch lange außerhalb des Missionsinteresses lagen. Man kann Indien als den Erstling der Mission ansehen; aber die andere Betrachtung ist ebenso möglich und wohl richtiger, dass es unter den japhetitischen Völkern der christliche Nachkömmling ist. Unter den Missionsgebieten ist Indien dasjenige, wo das Volksleben am durchgreifendsten mit christlichen Einflüssen durchsetzt ist, auch wenn angesichts der Schwierigkeit des Übertritts die Zahl der Getauften im Verhältnis zum Volksganzen verhältnismäßig gering ist. Bei den Indern reift die Entscheidung heran, ob sie sich volksmäßig dem Evangelium aufschließen wollen, oder ob auch weiterhin nur Einzelpersonen, und einzelne Kreise und kleinere Volksteile, den Weg zum christlichen Glauben finden. Im Grunde genommen ist es auch bei den christlichen Völkern Europas und Amerikas nicht anders: trotz ihrer Christlichkeit sind es doch nur einzelne und kleinere Kreise, die ein inneres Verhältnis zum Evangelium gewinnen. Je länger desto mehr gleicht sich die Lage der Gemeinde Jesu innerhalb der Christenheit derjenigen auf den Missionsgebieten an.

Es wäre vielleicht nicht ausgeschlossen, dass England, zwar nicht aus dem Drang christlicher Liebe heraus, aber in staatsmännischer Klugheit, Indien aus der Rolle einer Kolonie mehr in die eines Freundes versetzte. Denn Indien ist zusammen mit Ägypten die Schlüsselstellung des englischen Reichs. Und England ist imstande, viel zuzugestehen und viel zu opfern, wenn es sich darum handelt, den Bestand seines Reiches zu erhalten, und noch mehr, wenn es in ernsten Zeiten um die Rettung des Reiches ginge. Um Indiens willen ist es schon seit längerer Zeit bestrebt, von seinem großen afrikanischen Besitz über Ägypten und das Zweistromland hinüber, eine Brücke zu schlagen zu diesem seinem Kleinod in Südasien. Der Weltkrieg hat ihm mächtig dazu geholfen, indem es sich beim Kriegsende die Verwaltung des heiligen Landes und des Zweistromlands (Irak genannt) sichern konnte. Über die dazwischen liegende Welt des Islam hinüber sucht es die Verbindung zu Indien. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass Indien noch der vorgeschobene Posten des 6. Reichs würde. Dann wäre Amerika der vorgeschobene Posten im Westen, und Indien der östliche Schlusspunkt. Und das Bindeglied dazwischen die europäische Völkerwelt. Der Sperrwall des Islam, der mehr als 1200 Jahre lang dem Weg nach Asien vorgelagert war, soll durchbrochen werden. Ob der Plan gelingt? Es muss an anderer Stelle auf diesen Punkt noch eingegangen werden.

Europas Herrschernaturen

Innerhalb des 6. Reichs ist England die Aufgabe zuteil geworden, in der Welt führend und herrschend vorzugehen. Es vertritt die diesem Reich zugedachte Führerstellung der Welt gegenüber. In diesem Maß hat keine frühere Macht Weltstellung erreicht. Am weitesten hatte das griechische Reich gegriffen, bis nach Indien; aber es zerfiel rasch. Durch England, als durch seinen vorgestreckten Arm, hat das 6. Reich ebenso weit gegriffen; aber sein Zugriff war fester. Denn das griechische Reich glich dem weichen Metall; aber das römische dem Eisen. England vereinigt die ungestüme Kraft des Ungetüms mit der geschmeidigen Art des Panthers. Und die Union ist, ohne es zu wissen und zu wollen, Englands Rückendeckung bei seinen Raubzügen, und beim Festhalten seiner Beute. Die englische Art ist eine großzügige Verkörperung des Römertums. England ist die selbstbewusste und selbstverständliche Art eigen, mit der einst die Römer sich fühlten innerhalb der ihnen bekannten Welt. Wo einst des alten Roms Gesandte hinkamen, da fühlten sie sich als Herrn. Genau so selbstverständlich ist es für den Engländer, dass England in der Welt herrscht. Die römische Art ist zwar auch im heutigen Frankreich und Italien verkörpert. Aber hier ist sie kleiner. Sie wollen innerhalb des eigentlichen Gebiets des römischen Reichs, also innerhalb Europas, die erste Rolle spielen.

England greift ungleich weiter. England ist eine Herrschernatur. Das Herrschen schafft ihm Befriedigung. Frankreich und Italien gehen aus auf Befriedung ihres Ehrgeizes. Diesem Bedürfnis dient das Trachten nach der ersten Stelle innerhalb des Reichs; auch alle auswärtigen Eroberungen werden von diesem Gesichtspunkt aus gewertet. England dagegen bringt es fertig, sich im Hintergrund zu halten; es lässt gern den von ihm beherrschten Völkern einen Schein von Selbstständigkeit, wenn es dieselben nur am Gängelband hat. Darum ist Frankreichs Art heißblütig und grausam, die Englands berechnend und kalt. Deutschland kann diese zwei Arten der Herrschsucht fortwährend an seinem eigenen Leib wahrnehmen. Römisch sind beide Arten. Das alte Rom hat sie in sich vereint, bei seinen neueren Vertretern treten sie auseinander, indem einen die eine Abart, dem anderen die andere eigen ist. An der römischen Kirche ist der Herrscherwille bereits aufgezeigt worden; in ihr sind beide Arten desselben, die heiße und die kühle, vereinigt. Je nach den Zeitumständen tritt bei ihr nur die eine Art zutage. Es kann aber die Zeit kommen, da sie in grausigem Verein miteinander sich auszuwirken suchen.

England und Amerika - geistlich

Auf dem europäischen Festland hat das politische Rom in zunehmendem Maß einen geistlichen Doppelgänger bekommen in der römischen Kirche. Ein Zeichen davon ist der heutige Sprachgebrauch, der "Rom“ sagt, und die römische Kirche meint. Auch das englische Wesen hat in seiner Kirche seinen geistlichen Niederschlag gefunden. In der englischen Hochkirche findet es seinen hauptsächlichen Ausdruck. Die englische Kirche ist zwar durchaus nicht einheitlich; es gibt in England erhebliche kirchliche Unterschiede, ja Gegensätze. Trotzdem kann die Hochkirche als der eigentliche Ausdruck englischen Wesens bezeichnet werden; und sie hat dann ihrerseits wieder dem englischen Wesen einen gewissen Stempel aufgedrückt. Was ist die Hochkirche? Grob ausgedrückt: das Mittelglied zwischen den evangelischen Kirchen und der römischen; sie ist in einem die Erbin der römischen Kirche UND der Reformation. Auf diese Weise hängt sie mit der gesamten kirchlichen Entwicklung des Abendlandes eng zusammen; sie führt die römische Überlieferung weiter, und will gleichzeitig Tochter der Reformation sein. Es ist ein Jammer, dass die Beweggründe, die seiner Zeit den englischen König zur Überleitung der Reformation nach England veranlassten, eigennütziger Art waren. So wurde die Reformation England zuerst nur aufgepfropft. Später hat England auch noch Reformation erlebt, so die kalvinistische in Schottland, und die methodistische Bewegung; aber die rechte Grundlegung war versäumt; die genannten nachträglichen Reformationen haben den Grund des englischen Wesens wohl beeinflusst, aber nicht mehr umgestalten können. So kommt es, dass die Entwicklung der evangelischen Kirchen Englands von der der deutschen grundverschieden ist. Äußerlich ist England, und das von ihm bestimmte Amerika, viel kirchlicher als Deutschland. Aber diese Kirchlichkeit darf nicht verwechselt werden mit wirklichem Erfasstsein vom Evangelium.

Die englische Hochkirche

Die oben genannte Mischung von katholischen und evangelischen Wesenszügen ist in der englischen Hochkirche in eigenartiger Weise zu einem Ganzen zusammengeschweißt worden, wie es auf dem europäischen Festland nicht vorkommt, und nicht denkbar gewesen ist. Der Engländer ist auf seine Kirche stolz und liebt sie. Er schämt sich nicht, in ihr mitzuwirken und für ihren Einfluss tätig zu sein. Ein Beweis für die Wertschätzung der Kirche in England ist die Tatsache, dass der Engländer, der den Wert des Geldes zu schätzen weiss, für seine Kirche, und für die Mission Geld übrig hat. Das will viel heißen.

So hat England, wie auf dem Festland, das Volkstum und die politische Macht auf einen geistlichen Nenner bekommen, ein aus dem Natürlichen heraus gewachsenes geistiges, bzw. geistliches Gegenstück, das die natürliche Seite in geistiger Weise darstellt, vertritt, versinnbildlicht, verkörpert. Der Schatten des alten römischen Reichs war die Reichskirche; die Abschattung des mittelalterlichen römischen Reichs, die Papstkirche. Und die römische Kirche der Neuzeit ist, wie wir vermuten, aufgespart, um dem alternden und gefährdeten festländischen Europa letzte Zusammenfassung, letzten Halt und Glanz zu geben. Und mit England ist es ähnlich. Das englische Reich sonnt sich in seiner Hochkirche; sein "Allgemeines Gebetbuch" ist Englands Sinnbild und Erkennungszeichen in der ganzen Welt. Ja, England geht noch einen Schritt weiter als die alte Welt. Es weiß zwar von der Reformation her, dass das Reich Gottes sich nicht mit der Kirche deckt. Aber weil England seine Kirche als die rechte ansieht, und sich und sein ganzes Reich in seiner Kirche verankert sieht, deshalb erscheint ihm sein Reich in einem besonderen Verhältnis zum Reich Gottes. Es sieht in seinem Reich einen Wegbereiter des Gottesreiches in der Welt, des Gottesreichs Schildträger. Das englische Reich erscheint ihm bis zu einem gewissen Grad als Vorstufe des Reiches Gottes. In diesem Licht sieht der Engländer das gewaltige Aufblühen seines Reiches: er meint darin Gottes Hand wahrnehmen zu müssen und zu dürfen.

Darüber vergisst er gern das Menschliche, das Allzumenschliche, das Tierische im Werden des großen Reichs. Es bekommt für ihn einen göttlichen Strahlenkranz. Er meint, für Gottes Sache zu streiten, wenn er auf die Belange seines Reiches bedacht ist. Er ist geneigt, in demjenigen einen Widerchristen wahrzunehmen, der die Sache des englischen Reichs anzutasten oder zu gefährden scheint. In nicht wenigen Köpfen hat diese seelische Verfassung sich in dem Gedanken verkörpert, dass die Engländer die seinerzeit verschollenen 10 Stämme Israels seien. Gewiss hat der Neid gegen das seit 1870 zu großer Blüte gelangte Deutsche Reich, und die Sorge wegen dessen immer schärferen Handelskonkurrenz mitgewirkt zum Eintritt Englands in den Krieg, auf Seiten der Gegner Deutschlands. Aber die seelische Einstellung, die in einzelnen Köpfen bis zum Gedanken fortschritt, der deutsche Kaiser sei der Antichrist, weil er es wagte, im englischen Reich dem Reich Gottes Widerpart zu halten, muss ebenfalls ernstlich in Rechnung gestellt werden, damit man nicht gegen den Kriegsgegner ungerecht wird. Diese seelische Verfassung ist eine Verminderung der englischen Schuld am Krieg. Aber es wird zugleich daran deutlich, in welchem Maß in weiten Teilen der Christenheit, sogar in solchen, die von der Reformation herkommen wird, das eigentliche Wesen des Reiches Gottes missverstanden wird.

Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Ebenso wird deutlich, dass auch das englische Reich trotz, oder vielmehr wegen seiner scheinbaren Einstellung auf das Reich Gottes zu den Reichen dieser Welt gehört, die fallen müssen und fallen werden, damit das Reich Gottes kommen kann. Das tiefernste Urteil, dass der Hintergrund der Weltreiche finsterer Art ist, kann auch dem englischen Weltreich nicht erspart werden.

Um Missverständnisse zu vermeiden, sei aber ausdrücklich betont, dass im Vorstehenden eine Schilderung englischen Wesens im allgemeinen gegeben wird, die nicht auf jeden Engländer und nicht auf alle englischen Kreise zutrifft. Aber die Gefahr, dass englische Reich in nahe, allzu nahe Beziehung zum Reich Gottes zu setzen, ist auch für die ernst-christlichen Kreise Englands vorhanden.

Das geistliche Gepräge Amerikas

Fragen wir nach dem geistigen, bzw. geistlichen Gepräge AMERIKAS! Der Süden des Erdteils ist wegen des Vorherrschens des spanischen Bestandteils in der Hauptsache von der römischen Kirche bestimmt. Dagegen ist die Eigenart der geistlichen Haltung Nordamerikas von den englischen Kirchen hier bestimmt, genauer: von den englischen Freikirchen. So ist die Union das Land der Freikirchen geworden. Es will etwas heißen, dass diese Kirchen ohne Rückhalt am Staat und an einem bestimmten Volkstum verhältnismäßig blühenden Zustand sich befinden, und imstande sind, die kirchlichen Lasten auf freiwilligem Weg zu bestreiten, und außerdem große Mittel freizumachen für die Mission. Solchen Mitteln hat die Innere Mission in Deutschland es großteils zu verdanken, dass sie die fruchtbare Inflationszeit überstand. Aber trotz der Zerklüftung in eine Unzahl von Kirchen und Kirchlein ist doch eine bestimmte kirchliche Gesamthaltung vorhanden, die nachher zu beschreiben ist. Eine Reformation haben die Kirchen der Union nicht erlebt; denn die Einwanderer, die sie begründeten, gehörten von ihrer Heimatkirche her in der Hauptsache bereits dem evangelischen Bekenntnis an. Vielleicht hat dieser Umstand zusammen mit der Tatsache, dass die Kirchen evangelischen Bekenntnisses drüben, nie um die Erhaltung ihres Glaubens ringen mussten, die seelische Verfassung der Union mitbestimmt.

Einen weiteren Einfluss hatte das Gefühl der Freiheit von innenpolitischen Fesseln, die große wirtschaftliche Blüte und Weltgeltung, und das Gefühl der Sicherheit vor außenpolitischen Verwicklungen, das durch die günstige Lage Amerikas veranlasst ist. So ist, im allgemeinen genommen - die Lutheraner in der Union machen eine Ausnahme -, das Gefühl des Abstands vom Reich Gottes nicht so lebhaft. Weithin herrscht der Eindruck, dass es nur der Einführung der politischen Freiheit bei den Völkern auf dem Weg der Demokratie, und der Beseitigung der Kriege, auf dem Weg eines tätigen Pazifismus bedürfe; dann sei das Reich Gottes um ein gutes Stück nähergerückt. Diese Wirklichkeit der Sünde nicht gerecht werdende Auffassung, hat Deutschland im Krieg großes Unrecht getan. Ihr erschien Deutschland mit seinen straffen Ordnungen und mit seinem Kaisertum als der Hauptstörenfried der Weltdemokratie, und die Beseitigung der Monarchie als ein Glück für Deutschland, zu dem man ihm behilflich sein müsse. So war es auch möglich, dass sogar ernste amerikanische Christen den Ausbruch der russischen Revolution im Jahr 1917, die der Vorläufer der bolschewistischen war, mit Freuden begrüßten, in der Meinung, eine solche Umwälzung sei der Weg in die Freiheit, und auf solche Weise auch ein Mittel zum Näherkommen des Reiches Gottes. Auch Präsident Wilson war, von den weiter oben genannten Gedanken beseelt und meinte, mit der Beseitigung des deutschen Kaisertums, und mit der Aufrichtung des Völkerbunds das Zeitalter des Friedens heraufführen zu können.

Von der ernsten Bedeutung der herrschenden Ideen im Völkerleben war bereits früher die Rede. Aber die Sache ist so wichtig, dass in diesem Zusammenhang wohl noch einmal die Rede darauf kommen darf. Diese Ideen finden ihren sprachlichen Ausdruck durch die Nachsilbe "ismus"; man denke an Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Parlamentarismus, Pazifismus, Kapitalismus, Imperialismus. In dem Grundwort ist der berechtigte Kern dieser geistigen Strömungen genannt; mit der Nachsilbe "ismus" wird das Berechtigte auf die Spitze getrieben und auf solche Weise entstellt. So entsteht das Schlagwort, das Zauberwort, das die Gemüter, die Gedanken und den Willen einfängt und spannt, und zur Verwirklichung dieser Ideen drängt. Was haben diese "ismen" schon angerichtet! Es ist merkwürdig, das die Gemeinde Jesu keine solche "ismen" kennt und nötig hat, und sie darf sich auch nicht von ihnen beeinflussen lassen. Der Zutritt zur Gemeinde Jesu, der nicht mit dem Eintritt bei einer menschlichen Organisation, und wäre es die frömmste, verwechselt werden darf, und der nicht nur von unserem Verlangen abhängt, sondern davon, dass der Herr die Gemeinde ihn gewährt, löst von den vielen Schlagworten.

Die Tragik des Weltreichgedankens

Die vielen in der Geschichte wirksam gewordenen Ideen, von denen die Weltgeschichte viel mehr getrieben wird, als von den Regierungen und von den Führern, und von den äußeren Machtverhältnissen, sind im Grunde nur Erzeugnisse des, seit der Lösung von Gott ruhelos gewordenen Menschengeistes. Der Menschengeist knüpft an etwas Göttliches an - denn ohne ein Körnchen Wahrheit kann selbst die Lüge nicht leben -, aber er löst es von der göttlichen Grundlage ab, verkehrt es ins Menschliche und ins Sündig-Menschliche, und sucht es mit menschlichen Mitteln zu verwirklichen. Das ist z. B. die schuldhafte Tragik des Weltreichsgedankens: die Menschheit ist tatsächlich auf ein Ganzes angelegt; aber nur mit Gott, und unter göttlicher Leitung erreicht sie dieses Ziel. Wird der Gedanke des Menschheitsganzen ohne Gott erfasst, und stürzt sich der Menschengeist auf die Verwirklichung dieses Gedankens mit menschlichen Mitteln, dann gibt es Jammer und Blutvergießen und Sünde über Sünde. Selbst im Kommunismus ist ein wichtiger göttlicher Wahrheitskern. Echter, wahrhafter Kommunismus ist aber nur möglich im Reich Gottes, wenn Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist Allgemeingut wird. Wenn aber sündige Menschengedanken sich am Kommunismus berauschen, und sündige Menschenhände ihn herbeiführen wollen, dann ist das Ergebnis keine gleiche gemeinschaftliche Anteilnahme aller, an den Gütern dieser Welt, sondern Schreckensherrschaft (Terror) und Gewaltübung (Despotie). Und was dabei herauskommt, ist schlimmer als alle andern Zustände, die der Kommunismus bessern will. Die Geschichte der französischen Revolution, und noch mehr die der russischen von 1918, reden eine deutliche Sprache. Gerade das Beste ist dem Missbrauch am meisten ausgesetzt. Sünde ist im Grunde genommen, immer Missbrauch, nämlich Missbrach göttlicher Gaben und göttlicher Verheißungen. Die Lüge ist Missbrauch der Wahrheit. Selbst der Satan kann nichts anderes tun, als fortwährenden Missbrauch zu üben. Seine Sünde ist grundsätzlicher Missbrauch alles Göttlichen mit hartnäckiger Energie.

Diese Abschweifung möge klarer machen, dass der in Amerika weithin vorhandene Blick auf das Reich Gottes eine sehr ernste Kehrseite hat. Es ist ein Unterschied, ob die Aufrichtung des Reiches durch Gott selber erfolgt, oder ob sündige Hände, auch wenn sie von edlen Gedanken geleitet werden, sich an die Aufrichtung des Reiches Gottes machen. Sie greifen in Gottes Amt ein. Und die Meinung, dass rein menschliche Mittel, die zudem mit Sünde durchwirkt sind, zur Anbahnung und Herbeiführung des Gottesreichs brauchbar seien, ist verkehrt. So wird auch ein an sich edles Streben, durch die menschliche Hauptsünde des Selbermachenwollens und der Überhebung verkehrt.

Nun ist es merkwürdig zu sehen, dass dieser wohlgemute Sinn, welcher der Meinung ist, das Reich Gottes sei bereits in der gegenwärtigen Weltzeit im Anzug, und Menschenhände und menschliche Einrichtungen und Veranstaltungen seien brauchbar, sein Kommen anzubahnen, in beiden Teilen der angelsächsischen Welt wirksam ist, im englischen und im amerikanischen Gebiet. Darum kann man von einer angelsächsischen Form des Christentums sprechen. Immerhin ist die Färbung dieser Reichsgottesgedanken in beiden Gebieten verschieden. Dem Durchschnitts-Engländer erscheint das englische Weltreich als Wegbereiter des Gottesreichs, während in Amerika, freies großzügiges christliches Wirken, als Weg zu diesem Ziel aufgefasst wird. Wie an andern Stellen so sei übrigens auch hier betont, dass diese Kennzeichnung des englischen und amerikanischen Christentums nur im allgemeinen zutrifft. Dass es in England wie in Amerika Christen und christliche Kreise gibt, die sich von dieser Verirrungen fernhalten, oder die den Gefahren der seelischen Verfassung der Allgemeinheit zu begegnen suchen, ist gewiss. In Amerika sei namentlich auf die Lutheraner hingewiesen, die sich den unbiblischen Reichsgottesgedanken fernzuhalten suchen.

Vielleicht hängt dieser Gang der Entwicklung doch z. T. mit der Doppelgestalt der Reformation zusammen. Diese Doppelheit hat schon zu schweren Kämpfen und Streitigkeiten geführt, die zu bedauern sind. Aber ob das Urteil recht hat, dass für den Eindruck eines Unterschieds eigentlich kein Grund vorliege, ist doch zweifelhaft. Der Verfasser kommt von dem Gefühl nicht los, dass der Geist von Wittenberg und Genf nicht ganz der gleiche sei. Vielleicht liegt ein Grund des Unterschieds in der verschiedenen praktischen Stellung zum Reich Gottes. Für Luther war das Größte, was einem Menschen zuteil werden kann, der Glaube, als das zuversichtliche und dankbare Eingreifen, der durch das Evangelium dargebotenen Gnade. Das Tätigwerden stellt sich dann von selber ein, in dem von Gott auf dieser Welt gegebenen Rahmen der natürlichen, von Gott geschaffenen, aber noch mit Sünde durchtränkten Ordnungen. Das Reich Gottes dagegen liegt über dieser Welt und Zeit. Es ist richtig, dass bei dieser Auffassung für manche Gemütsverfassung die Gefahr naheliegt, sich auf das Innenleben zurückzuziehen. Aber die notwendige Folge von Luthers Glaubensstellung ist das durchaus nicht. Wie tätig echtes Luthertum sein kann, das kann man an Männern wie Löhe und Bezzel sehen.

Die reformierten Kirchen

Aber sie haben bei aller Tätigkeit oder Aktivität gewusst, dass kein Mensch weder bei sich, noch bei andern Glauben schaffen kann; das tut nur das Wort Gottes. Kirche ist da wo Gottes Wort ist. Dort ist sie, auch wenn sie äußerlich gar nicht in Erscheinung träte. Aber wo Gottes Wort nicht ist, ist auch keine Kirche, mögen noch so glänzende Einrichtungen und Werke dasein. Für Calvin war Glauben ebenfalls das Hauptstück des christlichen Lebens. Aber nun erhebt sich auf dem Grund des Glaubens eine Energie des Willens, die das Alte aus den Angeln heben will; die nicht bloß bei sich selbst den Kampf mit der Sünde aufnimmt, sondern auch im Umkreis; die Zucht übt und Widerstände bricht, mit heiliger, nicht mit stolzer Tatkraft. Ist Aktivität, ist Kampf und Zucht in solchem Sinne nicht recht? Doch! Und trotzdem! Schleicht sich nicht leise wieder der Mensch ein, und das Gesetz? Solcher Tatfreudigkeit entgeht der Selbstherrlichkeit und mit der Sünde nur dann, wenn ihr ein, in Gottes Gericht gebrochener Wille zugrunde liegt. Bei Calvin war diese geheiligte Selbstzucht vorhanden. Sie ist auch in der Geschichte der reformierten Kirchen weithin wahrzunehmen. Aber die Gefahr eines nicht geheiligten Tätigkeitstriebs liegt den reformierten Kirchen doch näher als den lutherischen.

Nun ist Genf nicht die Wurzel der englischen Hochkirche. Auch die amerikanischen Kirchen sind nicht als reformierte Kirchen im eigentlichen Sinn anzusprechen. Aber die Stimmung und die praktische Haltung der genannten Kirchen, läuft mehr in Richtung der Genfer Reformation als der lutherischen. Sie haben sich in der Öffentlichkeit viel mehr durchgesetzt als die deutschen Kirchen. In Deutschland ist man im allgemeinen lieber im stillen oder kleinen Kreis Christ, als in der Öffentlichkeit. Die angelsächsischen Kirchen lassen sich sehen und hören; sie haben auch, ohne dass dazu eine besondere Organisation nötig wäre, eine wirksame Vertretung in der Gesellschaft und im Staatsleben. Dass es so bei uns Deutschen nicht steht, falls sich der Gebildete, der Industrielle, der Arbeiter, neuerdings gelegentlich auch der Bauer im allgemeinen schämt, seine Zugehörigkeit zur Kirche öffentlich zu bekennen, das ist sündhafte Schwäche. Aber die Ehre, die die Kirche in angelsächsischen Landen genießt, und der Eifer mit der ihr gedient wird, ist noch kein genügendes Zeichen für Leben aus Gott. Und ein falsches Verständnis des Reichs Gottes schleicht sich mit ein, dass man das Reich Gottes in DIESEM Weltlauf erwartet, der doch nach der Schrift mit dessen scheinbarem Unterliegen enden soll; und dass man meint, mit Glaubensenergie herbeiführen zu können, was dem Wiederkommen Christi vorbehalten ist.

Auf die Gefahr des Anstoßes hin muss es in diesem Zusammenhang ausgesprochen werden, dass nicht bloß die römische Kirche, sondern auch der Teil der Christenheit, der sein Bestes aus der Reformation herleitet, aufs Ganze gesehen, nicht auf Gottes Weg geblieben ist. Auch die evangelischen Kirchen haben den Kreuzesweg gescheut und müssen erst wieder lernen, ihn entschlossen zu gehen, wenn sie bei Gott Ehre haben, und seinem Willen dienstbar sein wollen. Tun sie das nicht, dann können sie vor dem kommenden Antichristentum nicht stehen, sondern schwenken schließlich in dessen Lager um. Schämen und schuldhafte Schwäche ist ein Ausweichen vor dem Kreuzesweg; aber eine tätige Haltung, die das Kommen des Reiches Gottes selber herbeiführen, und es so vorwegnehmen will, das ist auch Kreuzesscheu. In einer Kirche mit Siegesbewusstsein lässt es sich freilich leichter leben, als mit dem Blick auf die kleine Kraft und auf die kleine Schar, und auf das Unterliegen alles menschlichen Wesens, das sich nicht im Bewusstsein seiner Armut auf die Gnade stützt.

Das Selber-Schaffenwollen, das Ausweichen vor dem Kreuz ist menschlich so begreiflich. Aber auch echt Menschliches steht dem Satanischen offen. "Hebe dich weg von mir, SATAN! Du meinst nicht was göttlich, sondern was MENSCHLICH ist!" (Mt 16:23). Die Zusammenstellung: "irdisch, menschlich, dämonisch" (Jak 3:15) ist geeignet, die der Erde zugewandte menschliche Weisheit tief zu demütigen; aber die richtige Beurteilung menschlichen Weinens, Planens, Wirkens ist darin enthalten. So sinkt alle menschliche Größe, auch die fromme, in den Staub; und es wird offenbar, dass der einzelne Mensch und die ganze Menschheit, auch die Kirchen, satanischem Einfluss zugänglich sind, und satanischem Willen dienstbar werden können. Auch der in der Reformation von Gott geschenkte Neuanfang hat in der Menschheitsrichtung keine Änderung durchsetzen können. Aber die Gemeinde dankt für die ihr durch die Reformation zugeflossene Hilfe Gottes, und soll sie fleißig nutzen, und den Kirchen und Völkern, unter welche sie gestellt ist, dienen, solange ihr Dienst gewünscht, erlaubt und möglich ist.

Lies weiter:
1. Von der Gegenwart zur Endzeit