Von den Anfängen

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Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor:
Zur Einführung

1. Teil

1. Von den Anfängen

Die 3 Menschheitsbücher in der Schrift

Es gibt nur ein Menschheitsbuch, nämlich die Bibel. Dass sie das Buch der Menschheit ist, sieht man freilich nicht auf den ersten Blick. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man meinen, dieses Buch habe nur für ein einziges Volk ein Herz, nämlich für Israel, das Gottesvolk des Alten Bundes, und für die Gemeinde Jesu, das Gottesvolk des Neuen Bundes. Aber das Herz der Bibel ist nicht eng, sondern schlägt weit für die ganze Menschheit. Israel und die Völkerwelt, die Gemeinde Jesu und die Menschheit: das sind die beiden Brennpunkte der Bibel. Und drei Bücher sind in der Bibel besonders weit, obwohl sie dem Anschein nach eng sind: das erste und das letzte und zwischendrin Daniel, die bestrittensten Teile der Schrift. Das erste Buch Mose mit seiner Erzählung vom dreifachen Anfang: dem Anfang der Welt, der Menschheit und Israels; die Offenbarung mit der Bezeugung des dreifachen Ausgangs: Israels und der Gemeinde Jesu, der Menschheit und der gesamten Schöpfung; das Buch Daniel mit dem tiefen Blick in das Ringen zwischen Gottesreich und Weltreich, in das Israel hinein verflochten ist. Das 1. Buch Mose und die Offenbarung bezeugen das Anfangs- und das Schlussstück der Geschichte von Welt und Menschheit, Daniel das Mittelstück.

Das alte Babel

Babels Werdegang und Bedeutung

An der Stelle, da im ersten Buch der Bibel der Übergang stattfindet von der alten Geschichte der Menschheit zum Werden Israels, steht eine merkwürdige Geschichte, die von Babel (1Mo 1:1-9). Mit dieser Geschichte entlässt die Schrift die Menschheit auf lange Zeit aus ihrer Berichterstattung. Wir beachten, dass diese Stelle grundlegend ist für das Verständnis der ganzen Menschheitsgeschichte. Sie schließt die alte Geschichte ab, und begründet die Berufung Israels als des Volkes der Wahl Gottes. Die Menschheit war bestimmt für das Reich Gottes. Ehe Gott die von uns wahrnehmbare Schöpfung schuf, war Gottes Reich bereits vorhanden in der lichten, oberen Welt. Aber die Menschheit sollte einen wichtigen Teil derselben bilden. Gott wollte die neugeschaffene Menschheit, die er aus kleinstem Anfang zu einem großen Organismus ausbauen wollte (1Mo 1:2, in sein Reich hinein leiten. Aber die Menschheit entzog sich ihr bereits im Anfang, unter dem Einfluss des aus seinem Reich herausgefallenen Reichs der Finsternis, unter dessen Oberhaupt, dem Satan (1Mo 3). Trotzdem, obwohl die Sünde, der Tod und die Gewalt des Teufels ihren Einzug hielten, in der für Gott geschaffenen Menschheit, gab er seinen Plan nicht auf. Denn es blieb auch im Niedergang eine Menschheitslinie übrig, in welcher Gottesfurcht und Hoffnung hochgehalten wurden (1Mo 5). Die Linie war dünn und wurde so schmal, dass Gott das ganze alte Geschlecht dem Gericht der Sündflut überantworten musste. Nur Noah mit seinen 3 Söhnen bildete die schmale Brücke zwischen der ersten und zweiten Menschheit. (1Mo 6-8).

Auch in der zweiten Menschheit riss das Verderben ein, in zweifacher Weise: auf der einen Seite durch die Pietätlosigkeit Menschen gegenüber, die über das Heiligste im Menschenleben spotteten über die Vaterwürde, und damit den reinen Aufbau der neuen Menschheit infrage stellten (1Mo 9:20-27); und durch die Pietätlosigkeit gegen Gott, die seinen Namen nicht mehr achtete, und dafür der Menschheit einen Namen machen wollte (1Mo 11:4). So kam es, noch in der Anfangszeit der zweiten Menschheit, ehe die Aussonderung in Völker und Völkergruppen erfolgte, zu dem Versuch einer großen Menschheitszusammenfassung, einer einheitlichen Menschheitsorganisation. Diese letztere war aber das Gegenstück zum Reich Gottes. Wohl mag bei dieser Bildung das Zusammengehörigkeitsgefühl mitgewirkt haben - das ist an sich berechtigt, denn die Menschheit bildet tatsächlich nach Gottes Willen eine Einheit, der an Geschlossenheit im Bereich der Schöpfung sonst nichts zur Seite steht. Aber die Triebkraft war nicht Gottesfurcht und Gottesliebe, nicht das Verlangen, mit dem genannten Vorhaben dem Willen Gottes zu dienen. Was die damalige Menschheit trieb, war vielmehr selbstsüchtiger Art. Die willentliche Lösung von Gott war bereits weit gediehen, und der Traum, das göttliche Ziel ohne Gott zu erreichen, hielt die Gemüter in Bann. Die letzte Triebkraft jenes Vorhabens aber war die Macht der Finsternis, welche die Menschheit Gott entwinden, und ihren Zwecken dienstbar machen wollte, ohne dass diese es ahnte. Was ihr bei den ersten Menschen gelungen war, die Loslösung von Gott, das gelang ihr nun auch beim Menschheitsganzen.

Teilung der Menschheit in 3 Völkergruppen

Das Kennzeichen dieses ungöttlichen Menschheitsreichs war Babel, die Stadt am unteren Euphrat, mit ihrem Turm. Stadt und Turm zusammen sind das Sinnbild des himmelstürmenden Menschheitsreiches. Aber Gott hinderte die Vollendung von Stadt und Turm und zerschlug das erste Menschheitsreich. Denn das Weitergehen auf diesem Weg hätte das Kommen des Reichs Gottes unmöglich gemacht. Gottes Eingreifen war Gericht und Gnade in einem. Nun musste die Menschheit auseinander in Völker und Völkergruppen und trat ihren Weg an in die Weite der Erde. Einem neuen Gericht, ähnlich dem der Sündflut, überantwortete Gott sie nicht; aber dass er sie ihre eigenen Wege gehen ließ, wie es Paulus auf seiner ersten Missionsreise bezeugt hat (Apg 14:16), das war auch Gericht. Diese eigenen Wege führten, obwohl Gott auch der irrenden Menschheit nicht ferne war (Apg 17:27.28), und obwohl er sich ihr mit vielen Wohltaten (Apg 14:17) und im Gewissen (Röm 2:14) bezeugte, tief hinein in die Gottesferne des Heidentums und in die Nacht des Götzendienstes.

Die Bibel unterscheidet die Völkergruppen nicht nach körperlichen Merkmalen und nach Sprachzusammenhängen, sondern nach der Abstammung. So sind drei Gruppen zu unterscheiden nach den drei Söhnen Noahs: Die Semiten, Hamiten und Japhetiten, s. 1Mo 10. Die Japhetiten entsprechen den Indogermanen; zu den Semiten gehörten in der alten Zeit die Assyrer und Babylonier, in der Gegenwart die Juden und Araber; unter Hamiten versteht man sonst die schwarzhäutigen Afrikaner. Es gibt nun ernstliche Gründe, die Mongolen und Malaien, sowie die Indianer ebenfalls den Hamiten (im Sinn der Bibel) zuzuzählen. Es sei in dieser Hinsicht verwiesen auf zwei Abhandlungen, die eine von Zigeunermissioniar R. Urban mit dem Titel: "Sem, Ham und Japhet. Der biblische Schlüssel zur Urgeschichte", während des Kriegs bei der Evangel. Buchhandlung P. Ott in Gotha erschienen; die andere von Samuel Jäger: "Kultureintwicklung im Lichte der Bibel", enthalten in der Aprilnummer 1923 der Zeitschrift "Bethel", herausgegeben in Bethel bei Bielefeld. Beide Abhandlungen kommen von verschiedenen Ausgangspunkten her zum gleichen Ergebnis, dass nämlich der größere Teil der Menschheit hamitischen Ursprungs sei. Nicht hamitisch ist nur Europa und das heutige Amerika und die Oberschicht Indiens,m sowie die wenigen semitischen Völker. Das Interesse an diesen Ausführungen ist nicht rein geschichtlicher Art, sondern biblisch begründet. In 1Mo 10 liegen Schätze, die noch lange nicht gehoben sind - die biblischen Nachrichten aus ältester Zeit sind mindestens ebenso viel wert, wenn nicht mehr, als die von den nichtisraelischen Völkern.

Sodann: in der Weltgeschichte ist des Stammvaters Fluch und Segen in Erfüllung gegangen: sein Segen wandte sich Sem zu - ihm entstammte das Volk Israel; in abgestuftem Maßen auch Japhet - die Japhetiten haben die Vorherrschaft in der Menschheit erlangt, und ihnen wurden die Segnungen des von Israel ausgehenden Christentums zuteil. Im Schatten dagegen standen die Hamiten, die zum Teil erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit in die Weltgeschichte eingetreten sind; und besonders legte sich der Fluch auf die Kanaaniter, die Nachkommen von Hams jüngstem Sohn. Noahs Fluch und Segen war eine Weissagung, deren göttliche Erfüllung die Menschheitsgeschichte ist.

Es ist wahrscheinlich, dass die eigentlichen Träger der ersten ungöttlichen Menschheitsorganisation die Hamiten waren. Denn in 1Mo 10:8-12 ist Babel als hamitische Gründung bezeichnet. Vielleicht ging jener schlimme Reichsgedanke von Nimrod aus, dessen Name die Bedeutung hat: "wir wollen uns empören!" Tatsache ist jedenfalls, dass im Zweistromland zuerst hamitische Kultur zuhause war; die semitische der alten Babylonier und der Assyrer kam erst nach der hamitischen auf. So ist der ehrfurchtslose Sinn Hams auch in der ältesten Menschheitsorganisation zum Durchbruch gekommen. Aber die beiden anderen Gruppen haben sich ebenfalls beteiligt. Seitdem haben die Hamiten innerhalb der Menschheit keine führende Rolle mehr erlangt; die Führung ging später auf die Semiten und Japhetiten über. Aber die Zeit ist gekommen, da auch die von Ham herrührenden Völker sich kräftig regen - ein Zeichen, dass die Menschheitsgeschichte dem Ende des gegenwärtigen Zeitlaufs entgegengeht.

Das alte Jerusalem

Jerusalems Urbild

Das Kennzeichen des ungöttlichen Menschheitsreichs ist Babel und sein Turm; das Kennzeichen des Gottesvolks und des Reiches Gottes ist Jerusalem und der Tempel. Jerusalem ist die Friedensstadt. Es gibt ein oberes Jerusalem Gal 4:26: "Das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, die ist unser aller Mutter". Die Gemeinde Jesu hat jetzt schon Heimatrecht "auf dem Berge Zion, in der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, bei der Menge vieler tausend Engel, bei der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel angeschrieben sind, bei Gott, dem Richter über alle, bei den Geistern der vollendeten Gerechten, beim Mittler des Neuen Bundes, Jesus." (Hebr 12:22-24). "Jerusalem, du hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär' in dir!" "O Jerusalem, du schöne, da man Gott beständig ehrt!"

Die göttliche Wahl

Von diesem oberen Jerusalem ist das untere ein Abbild. Denn auch dieses ist "des großen Königs Stadt“ (Mt 5:35). Auch darin ist das irdische Jerusalem ein Abbild des oberen, dass es hoch gelegen ist. Die Weltstädte, so Babel, liegen in der Tiefe, meist am Meer oder vom Meer aus leicht zu erreichen, und sind Mittelpunkte des Verkehrs. Jerusalem liegt vom eigentlichen Verkehr abseits. Es ist die Hauptstadt des heiligen Landes, dieses von den Ländern abgesonderten Landes, durch Wüste, Gebirge und tiefes Tal von ihnen getrennt, und doch inmitten der Länder. Es liegt inmitten des sog. Kontinentalblocks, d.h. der drei zusammenhängenden Erdteile Asien, Afrika und Europa. Und Jerusalem ist durch diese seine Lage zum Weltmittelpunkt bestimmt. Verglichen mit dieser zentralen Lage des heiligen Landes liegt Amerika und die große Inselwelt im Stillen Ozean einschließlich Australien draußen. Diese Gebiete gehören, biblisch gesprochen, zu den "Inseln" (Jes 49:1) und zu den "Enden der Erde" (Ps 2:8). Aber das Heilige Land und Jerusalem bilden die Mitte. Die Menschheit wird diese biblische Geographie wieder verstehen lernen. Ist ja doch Vorderasien bereits zu einem Brennpunkt des großen Geschehens geworden.

Jerusalem und Israels Höhepunkt

Das Heilige Land ist das Land des Gottesvolkes, und Jerusalem ist seine Hauptstadt. Als Gott die Völker, nach dem schlimmen Menschheitsversuch von Babel, ihre eigenen Wege ziehen ließ, da schuf er sich ein neues Volk, durch das er zu seiner Zeit der irrenden Menschheit sich wieder nähern wollte. Abraham ist sein Stammvater, der Mann des Gehorsams und des harrenden Glaubens (1Mo 12:1-3). Merkwürdig ist, dass Jerusalem schon in Abrahams Gesichtskreis trat, als die Stadt des Priesterkönigs Melchisedek (1Mo 14; Hebr 6:20; Hebr 7:1.2), und als der Ort, der bereit war, den Sohn der Verheißung Gott wieder zum Opfer zu bringen (1Mo 22). Das letztere geschah auf dem nachmaligen Tempelberg, der damals noch nicht die Tenne Aravanas war, die David kaufte als Stätte des späteren Tempels (2Sam 24:2; 2Chr 3:1). Durch Melchisedek, dem Urbild auf Jesus, und durch die Opferung Isaaks trat schon zu Abrahams Zeit die Beziehung Jerusalems zu Jesus an den Tag. Jerusalem ist Christi Stadt.

Erst zu Davids Zeit kam Jerusalem vollends ganz in Israels Hand; erst da wurde die Eroberung aus kanaanitischer Hand vollständig. David machte Jerusalem zur Hauptstadt des heiligen Landes und Volkes. Und Salomo vollendete das Werk, indem er Jerusalem zur Gottesstadt machte durch die Erbauung des Tempels.

Der Höhepunkt der alttestamentlichen Geschichte Israels ist die Zeit Davids und Salomos. Damals erst kam die Einsetzung Israels zum Gottesvolk zur Vollendung. Freilich war durch die Erlösung aus Ägypten, und durch den Bundesschluss am Sinai durch Mose, der Grund gelegt, und durch die Eroberung des heiligen Landes unter Josua ein gewisser Abschluss erreicht worden. Aber wie vorher schon, nach dem Bundesschluss, so war nach Josuas Tod der lange schwere Fall Israels in der Richterzeit gekommen, aus dem erst unter dem treuen Gottesmann Samuel das Aufstehen folgt. Und dann musste noch ein weiterer Rückschlag überwunden werden, als Israel mit dem Begehren nach dem Königtum nach Art der umliegenden Völker seine Sonderstellung verleugnete. Gott hat des Volkes verhängnisvolles Begehren zum Guten gewandt und dem Volk einen König nach seinem Herzen gegeben in David, hat Davids Versündigung auf dessen Buße hin vergeben. Ja, das neue Königshaus sollte nach seiner gnädigen Verheißung ausmünden in Israels rechtem König, der nicht nur Davids Sohn sein sollte, sondern Davids Herr (Ps 110:1; Mt 22:41-46). Und nun schenkte Gott dem Volke seine Gegenwart in seiner Mitte im Tempel. Wer nicht zum Volke Israel gehört, kann es kaum fassen, was Israels Tempel bedeutete: nämlich Gottes Gegenwart inmitten seines Volkes, zwar noch verhüllt aber doch wirklich. Nun war Jerusalem wirklich Gottes Stadt geworden.

Israels Abstieg und der Aufstieg Babels

Aber nicht lange blieb Israel auf seiner Höhe. Bereits Salomo tat in seinen späteren Jahren den tiefen Fall, indem er sich in Nachgiebigkeit gegen seine vielen Frauen zu heidnischem Wesen bewegen ließ. Dann trennte sich der Hauptteil des Volks vom davidischen Königshaus, und ließ sich von seinem neuen König mit einem halbheidnischen Gottesdienst zufrieden stellen, unter Verzicht auf den rechtmäßigen Gottesdienst im Tempel. Auch mit Juda und seinem Königshaus ging es abwärts. Selbst gewaltige Propheten konnten den Niedergang nicht verhindern.

So nahte das Verhängnis. Babel hatte Jerusalem weichen müssen. Das Weltreich hatte zurücktreten müssen vor dem Gottesvolk, so dass es aussah, als sei Gott nur für Israel da. Aber als Israel sank, da kam die Weltmacht wieder empor. Da bekam der böse Feind das Recht, seine alten widergöttlichen Menschheitspläne wieder aufzunehmen. Er hatte bereits in Israels Werdezeit in Ägypten den Versuch gemacht, das Gottesvolk zu bedrücken und zu vernichten. Aber Gott hatte Ägyptens König machtvoll gedemütigt. Nun aber musste er, weil Israel seiner Berufung untreu zu werden begann, dem Satan Freiheit lassen, von neuem ein falsches Menschheitsreich zu verwirklichen und das Gottesreich zu bekämpfen. Seine erste Schöpfung war das assyrische Weltreich mit seiner gewaltigen Hauptstadt Ninive. Ihm ist das Reich Israel erlegen im Jahr 772. Seine Bewohner wurden nach Assyrien weggeführt.

Nach Jerusalem griff Assyrien ebenfalls. Aber Jerusalem hatte einen König, der beten konnte. Jerusalem blieb, und das assyrische Heer ging jämmerlich zugrunde, und der assyrische König büßte durch seiner eigenen Söhne Hand sein Leben ein. Als aber auch Juda nach seiner Rettung nicht auf Gottes Wegen blieb, da wurde es mit Jerusalem und dem Tempel in die Hand des babylonischen Königs Nebukadnezar gegeben. Der Tempel wurde verbrannt, Jerusalem wurde ein Trümmerfeld, und Juda wanderte in die babylonische Gefangenschaft. Das war im Jahr 586 v.Chr.

Was war geschehen? Weil das Gottesvolk nicht auf Gottes Wegen geblieben war, war Jerusalems Gegenstück, Babel, wieder erstanden. Um Jerusalems willen hatte seinerzeit Babel zurücktreten müssen. Als Jerusalem eine unheilige Stadt wurde, kam Babel wieder obenauf. Ninive war Babels Vorläufer gewesen. An Stelle des Gottesreichs regte sich wieder das ungöttliche Menschheitsreich, das den Kampf mit dem Gottesreich aufnahm. Es kommt nicht mit einem Male zustande; die Finsternis braucht dazu mehrere Anläufe. Der erste große Anlauf war seinerzeit das alte Babel gewesen: das war, mit einem Bild der Offenbarung ausgedrückt, des Tieres erster Kopf. Nun kamen die weiteren Köpfe: Assyrien war der zweite und Babylon der dritte. Babylon war eine Wiedererstehung des alten Babel.

Zwar sind die unsichtbaren Hintergründe des gewaltigen Geschehens schon genannt worden; aber es darf wohl noch einmal ausdrücklich von den tieferen Zusammenhängen gesprochen werden. Jerusalem und Babel sind vollendete Gegensätze. Sie bleiben, solange der gegenwärtige Zeitlauf währt. Babel war vor Jerusalem da. Es verschwand aus der Geschichte, als Gott das falsche Menschheitsreich zerteilte. Aber es tauchte wieder auf, sowie das Gottesvolk zu sinken begann, und wurde über Jerusalem Herr. Dann verschwand es wieder. An seine Stelle trat später Rom, als kraftvollster Vertreter Babels. Aber Rom geht dahin, und Babel soll wieder aufkommen, und mit ihm soll die Geschichte der von Gott gelösten Menschheit zum Abschluss gelangen (Offb 17 und 18). Diese Geschichte wird der weiteren Darstellung vorbehalten. - Jerusalem kam erst auf, als das älteste Babel unvollendet geblieben war. Es war zur Überwindung Babels bestimmt. Aber weil Israel seinem Beruf untreu wurde, musste Jerusalem unter Babel hinunter. Seit Nebukadnezars Zeit ist es unten geblieben. Aber bereits naht Jerusalems Zeit wieder heran. Jerusalem und Babel werden wieder nebeneinander stehen; und äußerlich wird Jerusalem zuerst unterliegen. Aber Babel wird bald darauf fallen, und Jerusalem zu Ehren kommen als die geliebte Stadt. (Offb 20:9).

Schon aus dem Bisherigen geht hervor, dass Babel und Jerusalem nicht nur als Städte so große Bedeutung haben. Ihre Menschheitsdeutung kommt Ihnen zu, weil sie die Vertreter eines größeren Ganzen sind. Babel ist der Vertreter der ungöttlich gewordenen Menschheit; Jerusalem der Vertreter des Gottesvolks, und zwar zunächst des nationalen Gottesvolks oder Israels, aber auch des Gottesvolks aus allen Nationen und der Gemeinde Jesu. Die Menschheit will sich gegen diese zweifache Auswahl aus ihrer Mitte behaupten und meint, gegen sie den Kampf aufnehmen zu müssen. Und es wäre doch gar nicht nötig; denn Israel und die Gemeinde Jesu sind ja um der Menschheit willen da, um sie aus ihrer Sünde und ihrem Jammer zurückzuführen zu Gott, hinein in sein Reich. Aber die Menschheit steht im Banne des Satans und hält das alt- und neutestamentliche Gottesvolk für einen Feind, und will es deshalb unterdrücken oder untüchtig machen, indem es dasselbe auf seine Stufe herabzuziehen sucht. Darum zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte dieses Zeitlaufs der Kampf Babels gegen Jerusalem, bald der offene, bald der versteckte. Und es macht den Jammer der Menschheitsgeschichte aus, dass Babel weithin über Jerusalem gesiegt hat und noch mehr siegen wird, äußerlich und auch innerlich. So wurde Jerusalem auch die Stadt des ungläubigen Judentums und des Islam; und Babel wird dereinst noch die Stadt, der aus ihrem Beruf gefallenen Christenheit werden. Aber Gottes Hand bringt die Lösung zustande.

Damit kommen wir auf einen noch tieferen Gegensatz, der dem Gegensatz Babel - Jerusalem zugrunde liegt, nämlich den zwischen dem satanischen Reich und dem Gottesreich. Das satanische Reich ist nicht von Anfang an da gewesen; es ist erst später entstanden, weil Gott in seinem freien Reich freie Liebe und freien Gehorsam erwirken will, während er selber bei all seiner Heiligkeit die Liebe und das Erbarmen bleibt. Dieser freie Gehorsam wurde Gott von einem Teil der Geisterwelt versagt. So löste sich das satanische Reich aus dem Reich Gottes los und trat seinen schrecklichen Gang an unter der Leitung seines unheimlichen Fürsten. Gottes Gerechtigkeit hat ihm Wirkungsmöglichkeit gelassen, bis er seiner Sünde und seiner Ohnmacht inne wird. Er umfasst auch das satanische Wirken. Wir stehen mitten in diesem Zwiespalt drin. Die Menschheit steht in der Mitte, begehrt vom Reich Gottes und umworben von der satanischen Welt. Der Kampf kommt erst im letzten Gericht zum vollen Austrag. Es ist gut, wenn jeder Mensch sich bewusst wird, dass auch um ihn der Kampf geht. Von Gottes Seite kommt Christi treuer Ruf, bezeugt vom Heiligen Geist: Komm! (Offb 22:17). Aber die Finsternis lockt auch. Gott will die Menschheit in sein Reich hineinbauen; der Satan will sie ihm entreißen. So ist die Losung: Hier Gottesreich, hier Menschheitsreich - denn der Satan tritt mit seinem Ziel nicht deutlich hervor; er tut, als ob er die Interessen der Menschheit verträte. So kann man die Losung auch so fassen: Hier Gott und Christus, dort Humanität! So ist Babel der Ableger, die Filiale des satanischen Reichs; Jerusalem die Geburtsstätte des Gottesreichs. Babel ist der Vertreter der Hölle; Jerusalem die Abschattung des Himmels mit der Gottesstadt die droben ist, und die Vorausschattung der neuen Welt, deren Mittelpunkt das neue Jerusalem ist (Offb 21:22).

Das mittlere Babel

Babylons Sieg über das alte Gottesvolk

Der Sieg Babels über Jerusalem war schon vor Jerusalems Zerstörung entschieden. Als Nebukadnezar nach der Zerstörung des assyrischen Reichs auch den ägyptischen König bei Karchemisch am Euphrat auf das Haupt geschlagen hatte (Jer 46:2), stand das babylonische Reich fertig da. Als Jahr dieser Schlacht wurde früher 606, neuerdings mehr 605 genannt. Wohl auf dem Heimweg ereignete sich der Zug Nebukadnezars gegen Jerusalem, vom dem 2Kö 24:1 und Dan 1:1 die Rede ist, der den König Jojakim von Babel abhängig machte, und aus dessen Anlass bereits eine Wegführung von Geiseln nach Babylon erfolgte, zu denen auch Daniel gehörte. So begann Jerusalems Unterwerfung etwa im Jahr 605. 597 folgte die zweite Wegführung, die wesentlich umfangreicher war; damals war Hesekiel einer der Weggeführten. 586 wurde Jerusalem erobert; es begann die eigentliche babylonische Gefangenschaft. Seit 605 war Israel, und mit ihm Jerusalem nicht mehr frei, mit Ausnahme der kurzen Zeit der makkabäischen Könige. Seitdem stand das Gottesreich, wie es sich bei Israel anbahnte, und wie es dann mit Jesus in seiner Niedrigkeitsgestalt erschien, unter dem Druck der Weltmacht, bzw. der widergöttlichen Menschheit. Die Zeit der Freiheit bricht erst an mit dem Beginn des tausendjährigen Reichs.

Das Buch Daniel und sein Inhalt

Der Prophet, der diese Zeit mit dem Kampf der Weltreiche gegen das Gottesreich überschaute, und der den Sieg des Reiches Gottes sah, ist Daniel. Er war einer der ersten, der vom Gottesvolk unter den Druck der Weltmacht hinunter musste. Sein Genosse in der Zeit der Gefangenschaft ist Hesekiel, mit einem ähnlich weitgehenden Blick, der aber mehr den inneren Gang Israels sah, ebenfalls bis zum Beginn des Reiches Gottes in Kraft. Hesekiel wiederum hatte enge Beziehungen zu Jeremia und Jesaja.

Ohne auf die vielen Fragen einzugehen, die an Daniels Buch entstanden sind, und die sich am ehesten lösen, wenn man es gelten lässt, wie es sich ergibt, sei ein kurzer Überblick gegeben über die Blicke, die dem Daniel geschenkt wurden. Sein Blick auf die kommende Geschichte des Gottesvolks war ein vierfacher: zunächst wartete er auf das Ende der babylonischen Gefangenschaft, für das ihm in der Weissagung Jeremias von den 70 Jahren ein Anhaltspunkt gegeben war (Jer 25:11.12; Jer 29:10; Dan 9). Dann sah er die schwere Drangsal des Gottesvolks in der Zeit des griechischen Reichs (Dan 8:11); darüber hinaus wurde ihm der Blick geschenkt auf die dem Volk bevorstehende große Erlösung unter dem Messias, welche die aus der babylonischen Gefangenschaft weit überragte. (Dan 9:20-27). Der Blick ging aber noch weiter, in die Endzeit. Daniel sah, dass die genannte große Erlösung noch nicht die letzte sei, dass dahinter weitere Trübsal komme (Dan 9:26.27; Dan 12). Die letztere sah er z. T. noch mit der unter dem griechischen Reich zusammen s. Dan 8:17; aber der Eindruck lässt sich nicht vermeiden, dass namentlich das Dan 12. weit darüber hinausgreift. Deutlich klingt bereits Offb 20 an mit dem Wort von der 1. Auferstehung und von der Teilnahme am Reich.

Von diesen Weissagungen sei die von Dan 9 kurz besprochen. Die Weissagung Jeremias erhält dort eine weitergehende Auslegung. Wenn die Ansetzung der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft auf das Jahr 536 v. Chr. recht hat, dann ist die Ankündigung Jeremias genau in Erfüllung gegangen. 605 ist Daniels Wegführung anzusetzen; mit dem Jahr 536 ging das 70. Jahr zu Ende. Das war aber noch nicht die volle Erlösung. Nach der Rückkehr kamen kümmerliche Zeiten. Jerusalem war zwar wieder bewohnt, und der Tempel war wieder aufgebaut; aber es war wehrlos gegen die feindliche Nachbarschaft, und im Innern begann, mit der Ermattung der Freudigkeit, wieder der Zerfall. Im Hinblick darauf wurde Daniel gezeigt, dass die volle Erlösung nach schwerstem Fall, die in Vergebung der Sünden bestehe, nicht nach 70 einzelnen Jahren, sondern nach 70 Jahrwochen, also nach 70 x 7 Jahren eintreten werde. Als Anfangstermin wurde ihm der Befehl zur baulichen Wiederherstellung Jerusalems genannt. Besonders ausgezeichnet wurde die 70. Woche der Bundesstärkung; zugleich wurde im gesagt, dass nach den 69 Wochen der Gesalbte werde ausgerottet werden, und dass in der Mitte der Woche das Opfer abgeschafft werde. Die Übersetzung im einzelnen ist schwierig und umstritten. Aber die eben gegebene Übersetzung ist nicht bloß möglich, sondern wird, von der Erfüllung aus rückwärts gesehen, auch die richtige sein.

70 Jahrwochen sind verordnet

Die Erfüllung stellt sich folgendermaßen dar: im Jahre 458 gab der persische König Artaxerxes die Erlaubnis zur Rückkehr des Schriftgelehrten Esra mit weitgehenden Vollmachten. Durch ihn, und den bald darauf vom persischen Hof nachfolgenden Nehemia, wurde Jerusalem wieder innerlich und äußerlich instand gesetzt. Die Mauern Jerusalems wurden gebaut. 69 x 7 = 483 Jahre führen auf das Jahr 25 n. Chr. Das ist das Jahr, da Johannes der Täufer aufgetreten sein muss. Denn Jesus ist etwa 5 Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung geboren; Herodes starb bereits etwa 4 Jahre vor derselben. Jesus war ein halbes Jahr jünger als Johannes, und Lk 3:23 gibt sein Alter zur Zeit seiner Taufe auf ungefähr 30 Jahre an. Auf das Jahr 26 nach Beginn unserer Zeitrechnung führt auch Joh 2:20. Als Jesus bald nach seiner Taufe zum Passahfest nach Jerusalem kam, sagten die Juden anlässlich der Tempelreinigung zu ihm: "An diesem Tempel ist nun 46 Jahre gebaut worden." Der Bau des Tempels des Herodes begann 20 v. Chr. und war zur Zeit Jesu noch nicht ganz fertig. 46 Jahre nach 20 v. Chr. führen auf 26 n. Chr. Das Auftreten des Täufers gehört dann in das Jahre 25/26 n. Chr. Damals begann Israels großes Wochenjahr. Jesu öffentliches Wirken umfasste etwas über 3 Jahre, mit dem des Johannes zusammen 3 1/2 Jahre. So fällt sein Kreuzestod, der Israels Sünde vollmachte, und der gleichzeitig die Versöhnung der Missetat bewirkte, in die Mitte der 70. Jahrwoche. Damals geschah das große Opfer, das alle Opferordnungen Israels ersetzte. Vielleicht ist die Steinigung des Stephanus an den Schluss der 70. Woche zu setzen. Bis dahin hätte Israel das Volk des Gekreuzigten werden können; aber damals zeigte es sich, dass es das Evangelium ablehnte. Aus diesem Grund ging die 70. Jahrwoche nicht gut aus, wie Dan 9:26.27 es andeutet. Es folgte das tatsächliche Aufhören des Opfers infolge der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. In diesem Licht stellt sich die Weissagung Offb 11 und Offb 12 als eine Wiederholung der 70. Jahrwoche dar. Noch einmal wird der Tempel in Jerusalem stehen in der Zeit des Antichrists. Nach 3 1/2 Jahren setzt der letztere nach Tötung der 2 Zeugen sich selbst in den Tempel als großes Gräuelbild (2Thes 2:4). Aber nach weiteren 3 1/2 Jahren fällt die ganze antichristliche Macht, und Israels völlige Erlösung beginnt; und es tritt seinen heiligen Dienst an der Völkerwelt an.

Die vier Weltreiche

Daniel bekam nicht nur Blicke in die kommende Geschichte des Gottesvolkes, sondern ebenso in die ungöttliche Entwicklung der Menschheitsgeschichte. Was dem König Nebukadnezar durch seinen Traum von dem gewaltigen Menschenbild (Dan 2) gezeigt wurde, das durfte Daniel sehen in dem Gesicht von den 4 Tieren (Dan 7). Wenn nicht der Gedanke aufgekommen wäre, das Buch Daniel sei erst in den Zeiten des Antiochus geschrieben worden, und zwar nicht als wirkliche Weissagung, sondern nur in der Form der Weissagung, dann wäre schwerlich ein Zweifel entstanden, welche Reiche unter den 4 Teilen des Standbildes, und unter den 4 Tieren zu verstehen seien. Aber mit dem eben genannten Gedanken verband sich der andere, im Buch Daniel könne keine über das griechische Reich hinausreichende Weissagung enthalten sein; folglich müsse das 4. Reich das griechische sein, das von Alexander ins Leben gerufen wurde, und von dem das syrische Reich des Antiochus ein Teil war. Unter dem Einfluss dieser Gedanken wurde im 3. Reich das persische erblickt, im 2. ein medisches, im 1. das babylonische. Zugleich kam der Gedanke auf, dass die Geschichtsdarstellung des Daniel nicht richtig sein könne, da sich zwischen dem babylonischen und dem persischen Reich kein selbstständiges medisches Reich befindet, während im Buch Daniel von einem solchen die Rede sei. Aber im Buch Daniel stehen Medien und Persien nicht als selbstständige Mächte neben- bzw. nacheinander, sondern sie werden miteinander genannt. Das medisch-persische Reich wird Dan 8:3 vergl. mit Dan 8:20 als ein einziges Reich gerechnet. Dann ist es aber klar, dass Daniels Blick über das griechische Reich hinausreicht; das 4. Tier ist das römische Reich. Daniel sah, dass zur Zeit Roms das Reich Gottes beginnen werde (Dan 2:44 verglichen mit Dan 2:34). So geschah es tatsächlich. Damals wurde Christus geboren. Was Daniel noch nicht ganz deutlich sah, war nur das, dass von der Niedrigkeitsgestalt des Reiches Gottes dessen Herrlichkeitsgestalt unterschieden werden muss. Erst in der letzteren Zeit löst das Reich Gottes das Weltreich ab; in seiner Niedrigkeitsgestalt steht es noch unter dem Druck des Weltreichs.

Das kleine Horn

Von der Erkenntnis aus, dass Daniels Weissagung über das griechische Reich hinausgeht, wird auch klar, dass das kleine Horn, das Daniel aus einem der 4 Hörner des Ziegenbocks herauswachsen sah (Dan 8:9), etwas anderes ist als das kleine Horn, das er zwischen den 10 Hörnern des 4. Tieres hervorschießen sah (Dan 7:8). Denn das erstgenannte kleine Horn gehört dem 3. Reich, das letztere dem 4. Reich an. Fand das erstere seine geschichtliche Verwirklichung in Antiochus Epiphanes, so wird das letzte seine letzte Verwirklichung im Antichristen finden. Zugleich wird durch die Erkenntnis, dass Daniel über das griechische Reich hinausblickte, der Weg frei zu der weiteren, dass 12 nicht eine geradlinige Fortsetzung von 11 sein muss. In 12 ist von der Endzeit die Rede. Dieses lag aber für Daniel hinter der Notzeit unter Antiochus. Nur das war Daniel verborgen, dass zwischen der eben genannten Bedrängnis, und in der Not der Endzeit die Zeiten sich so dehnen würden, wie es jetzt offensichtlich ist. Dass dieser Zwischenraum so groß sei, sah Daniel noch nicht. Darum konnte er in Dan 12:1 sagen: "in jener Zeit", als schlösse sich die Endzeit mit der griechischen Bedrängnis zusammen. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass bereits Dan 11:36-45 über die letztere hinausgreift auf die Not der antichristlichen Zeit.

Fürsten und Gewaltige

Wer durch seine Stellung zur Schrift, auch durch das fortlaufende Nachdenken sich gedrungen fühlt, das Buch Daniel als wirkliche Weissagung zu nehmen, der bekommt einen tiefen Eindruck davon, in welchem Maße bis auf Kleinigkeiten hinaus der Geschichtslauf im voraus durch Gottes Regierung bestimmt ist; eben so einen Einblick in die Wirkensweise Gottes wie auch der satanischen Welt. Was Paulus mancherorts über die Fürsten und Gewaltigen der unsichtbaren Welt sagt (Röm 8:38; Eph 1:21; Eph 6:12; Kol 1:16), das erhält eine Beleuchtung durch die Blicke, die Daniel tun durfte in den unsichtbaren Hintergrund des Weltgeschehens. Hinter den Entschlüssen und Handlungen der Weltherrscher, und hinter dem planmäßigen Vorgehen der Weltmächte stehen unsichtbare, dem Satan untergebene Gewaltige oder Fürsten. So wird der Fürst Persiens genannt, und der Fürst Griechenlands (Dan 10:13.20). Menge übersetzt Schutzengel, macht aber dadurch die satanische Bezogenheit dieser Mächte nicht deutlich. Welchen Einblick gibt es, wenn erkannt wird, dass hinter dem Unpersönlichen, das man den "Geist" eines Volkes, einer Bewegung, einer Strömung nennt, tatsächlich ein Geist steht, d. h. ein persönlicher Wille in der unsichtbaren Welt! Dieser Einblick tut nach verschiedener Richtung gut: man unterschätzt dann die Bewegungen nicht, weil man in ihnen nicht mehr nur Menschenwerk sieht. Menschen gehen, Bewegungen dauern an. Wohl kommen sie aus der Ruhelosigkeit des von Gott abgewichenen Menschengeistes; aber eben deshalb bemächtigen sich ihrer die Mächte der Finsternis. Und wenn eine Bewegung abflaut und von einer anderen abgelöst wird, so ist damit noch nicht gesagt, dass sie tatsächlich zu Ende sei. Was sich geändert hat, ist vielleicht nur das Äußere; aber die Finsternis verzichtet auf ihre Ziele nicht. In anderer Form gehen die Bewegungen weiter. Und geleitet durch einen großen Schlachtenlenker, dessen Befehlen die Unterfeldherrn gehorchen, müssen die verschiedenen Strömungen, ob sie nun politischer, geistiger oder wirtschaftlicher Art sind, alle auf ein großes Ziel zusteuern: auf das Antichristentum.

Und die weitere Erkenntnis ist auch wichtig, dass nicht die Großen dieser Welt die menschliche Geschichte leiten, sondern dass sie selber die Geleiteten, die Getriebenen, die Irregeführten sind. Diese Einsicht bewahrt angesichts der furchtbaren Taten in der Welt und angesichts des vielfältigen verkehrten Wollens, vor Zorn und rascher Schuldzuweisung Menschen gegenüber; und die Liebe gewinnt Raum statt des Zorns. Freilich wird schuldig, wer sich von der Finsternis den Willen geben lässt; aber die Schuld wird doch gemindert, wenn die eigentliche Triebkraft von außen kommt. Zugleich wird der furchtbare Ernst des menschlichen Geschehens offenbar, auch wenn Menschen die Handelnden sind. Denn hinter dem schlimmen Geschehen steht das Böse und der Böse aus der unsichtbaren Welt.

Wie es aber persönliche Finsternismächte gibt, so gibt es auch in Gottes Namen und Auftrag handelnde gute Geister in der unsichtbaren Welt. Diese müssen den finsteren Mächten wehren, müssen aufhalten, müssen helfen und behilflich sein, so im Großen wie im Kleinen. So sind dienende Geister, ausgesandt zum Dienst derer, die ererben sollen die Seligkeit (Hebr 1:4). Zwei der gewaltigen Geister Gottes sind bei Daniel mit Namen genannt, Gabriel und Michael. (Dan 8:16; Dan 10:13). Sie kehren im Neuen Testament wieder. Die selige Geisterwelt, auch die kleineren Geister, nehmen an allen Dingen des Reiches Gottes auf Erden innigen und tätigen Anteil (Mt 18:10; Lk 2:9.13; Lk 15:7.10). Sie spielen auch in der Offenbarung eine große Rolle. So ist es nicht sicher, ob wirklich unter den Engeln der 7 Gemeinden (Offb 1:20; Offb 2 und 3) Vorsteher der Gemeinden zu verstehen seien und nicht tatsächliche Engel. Es besteht freilich die Schwierigkeit, warum und wie Johannes solchen Engeln das Urteil Jesu über die Gemeinden kundtun sollte. Aber wenn die gute Geisterwelt - selbstverständlich ohne dass ihr irgendeine Verehrung zuteil werden darf - so nahe Beziehungen zu den zum Reich Gottes Berufenen hat, so konnten sie auch Kenntnis vom Urteil Jesu über diese Gemeinden bekommen. Wenn es unheimliche Einflüsse aus der finsteren Welt gibt, so sind ja bewahrende und leitende Gegenwirkungen aus der lichten Welt umso nötiger. Was der Deutung der Engel auf Vorsteher der Gemeinden im Weg steht, das ist einmal eine rein geschichtliche Erwägung, ob nämlich zur Zeit der Offenbarung Johannes bereits ein einzelner Bischof an der Spitze einer Gemeinde stand - zur Zeit des Paulus war das noch nicht der Fall; sodann der fast untragbare Ernst der Verantwortung, wenn ein einzelner Christ für den Stand einer ganzen Gemeinde haften sollte. Ein Pfarrer oder Gemeinschaftsvorsteher z. B. könnte eine solche Last kaum tragen, auch wenn er sich eines großen Maßes von Verantwortung bewusst ist.

Das Tier als Ganzes

Auf die frühere Entwicklung der Weltmacht und des Gottesvolkes geht Daniel nicht ein, nur im Bußgebet Dan 9, wo er sich unter die ganze Sünde seines Volkes, auch aus der früheren Zeit gebeugt hat - ein wichtiger Tipp für umfassende, demütige, fürbittende Buße. Auch in die Endzeit waren ihm genauere geschichtliche Einblicke noch versagt. Für seine Fragen in dieser Hinsicht wurde er Dan 12 zu friedvoller Bescheidung aufgefordert. In diesem Stück wird Daniel von der Offenbarung ergänzt, wie dieses letzte Buch der Schrift überhaupt eine Weiterführung Daniels ist. - Bei Daniel erscheinen vier Weltreiche. Sein 4. Reich ist in der Offenbarung der 6. Kopf. Von den Reichen Daniels stehen zwei, und hinter ihm kommen noch zwei (Offb 17:11) Trotzdem bleibt Daniels Weissagung zu Recht bestehen. Sein 4. Reich führt, wie noch auszuführen ist, reicht tatsächlich bis nahe an die Endzeit heran. Nur erscheinen in der Offenbarung die Reiche als ein einheitliches Ganzes, als ein Tier, nicht als mehrere. Was bei Daniel durch die Tiere selber dargestellt ist, das wird in der Offenbarung den Köpfen des Tieres zugeschrieben. Doch erscheint auch bei Daniel die Weltmacht als etwas Zusammengehöriges, wie man am Standbild des Nebukadnezars sehen kann (Dan 2). Was Daniel noch nicht sagen konnte, das ist das Ergehen Israels in der Endzeit, und die Geschichte der Gemeinde Jesu und des Reiches Gottes in seiner Herrlichkeitsgestalt. So ist die Offenbarung eine wichtige Ergänzung zu Daniel. Umgekehrt bietet Daniel auch Ergänzungen zur Offenbarung, so namentlich die Beschreibung des römischen Reiches mit seinen Schenkeln, Füßen und Zehen und mit dem verschiedenartigen Material. Die Beschreibung des 4. Tieres gibt durch die Erwähnung des kleinen Hornes auch Hinweise auf den 7. und 8. Tierkopf. So ist das Buch Daniel des eingehenden Studiums wert und lohnt es. Es ist noch nicht ausgeschöpft. Und es ist anzunehmen, dass manches noch Unverstandene an diesem Buch mit dem Fortgang der Geschichte ins Licht treten wird, wie es auch bei der Offenbarung der Fall ist.

Seine sieben Köpfe

Johannes sah das Tier, d. h. die un- und widergöttliche Menschheit siebenköpfig (Offb 13:1). Die nächstliegende Deutung würde den Gedanken ergeben, dass es sich um 7 gleichzeitige Reiche handeln werde. Aber bei der Deutung wurde dem Johannes gesagt, dass es aufeinanderfolgende Reiche seien (Offb 17:9.10). Die Geschichte hat das Rätsel gelöst, wie es möglich sei, dass das Tier gleichzeitig 7 Köpfe haben könne, die doch nacheinander kommen. Der erste Kopf war das erste ungöttliche Menschheitsreich mit dem ältesten Babel als Mittelpunkt. Dieses Reich kam nicht zur Ausgestaltung, aber der Gedanke, die Idee blieb, zumal in Vorderasien. Die übrigen 5 Köpfe waren alle schon vorhanden, als der erste neue Weltreichversuch durch Assyrien gemacht wurde; aber sie traten erst nacheinander in Führerstellung ein. Als Assyrien ganz Vorderasien, im Namen seiner Götter zusammenzwang und auch nach dem Reich Israel griff, da waren Babylonien und Persien schon vorhanden; sie standen nur noch unter Assurs Druck und warteten auf ihre Stunde. Aber längst bildete sich auch Griechenland heran, zwar noch mit schwacher, zerklüfteter politischer Macht; aber das griechische Wesen war schon kräftig entwickelt. Und wenn die alte Nachricht recht hat, dass Rom im Jahr 753 gegründet wurde, dann war zu der Zeit, da das Reich Israel dem assyrischen Reich unterlag, der Grundstein des römischen Reichs bereits gelegt. Als der 2. Kopf des Tieres das Tierwesen geltend machte, war also die Idee des Tieres vom 1. Kopf her von neuem lebendig geworden und der 2. - 6. Kopf war in seinen Anfängen bereits vorhanden. Aber auch der 7. Kopf war schon da, wenn wir, wie später ausgeführt werden wird, unter diesem das ungläubig gewordene Judentum verstehen dürfen. Denn dessen Anfänge bildeten sich damals ebenfalls schon aus. Die Macht der Finsternis hielt so von Anfang an alle ihre Hilfsmittel bereit, um sie nacheinander einzusetzen.

Die ersten wiedererstehenden Weltreiche:

Das assyrische und babylonische Reich

Assyrien und Babylonien sind zusammen zu nehmen. Assyrien war der Wegbereiter Babylons. Die beiden gehören blutmäßig zusammen, sofern beide der semitischen Völkergruppe zugehören. Nachdem die Hamiten beim ältesten Babel vorangegangen waren, ging nun die Führung bei den neuen Weltreichversuchen auf die Semiten über. Wäre es nach dem Willen der Assyrer und Babylonier gegangen, dann hätte diese Völkergruppe, auf der doch Noahs Segen in besonderem Maße ruhte, den eigentlichen Segensträger, nämlich das Gottesvolk, wieder ganz in ihre eigene Reihe zurückgenommen, und der Segen wäre dann aus ihrer Mitte, und aus der Menschheit verschwunden. Aber Gottes Geist brachte in der babylonischen Gefangenschaft, durch das Wirken Hesekiels und Daniels, eine Sinnesänderung innerhalb der Weggeführten zustande. Und selbst Babylons König musste sich unter Israels Gott beugen und ihn ehren. Israel ging nicht in der Völkerwelt auf, wenigstens nicht als Ganzes; vielmehr bildete sich nun innerhalb des Volkes als heiliger Rest und Same für die Zukunft eine Gottesgemeinde, das Vorbild für die Gemeinde Jesu.

Das persische Reich

Als Gott diesen Zweck seiner Züchtigung erreicht hatte, musste das babylonische Reich abtreten, und eine Weltmacht kam an die Reihe, die Israel zwar auch nicht aus ihrer Gewalt entließ, die aber trotzdem zur Pflegerin der neuen Gemeinde werden musste, nämlich das persische Weltreich. Dieses Reich nimmt unter den Weltreichen eine Sonderstellung ein. Zwar war es der Finsternis ebenfalls dienstbar, und legte zeitweise harten Druck auf die Gemeinde; aber doch verschaffte es ihr nach Gottes Willen den neuen Anfang im heiligen Land, war zum Baum des Tempels behilflich, und beförderte die Festigung der Gemeinde und den Aufbau Jerusalems. Gottes gute Geister siegten über Persiens bösen Geist (Dan 10:13.20).

Wie ging das zu? Als Persien die Vormachtstellung in Vorderasien antrat, ging die Führung der neuen Weltreichversuche auf die Japhetiten über. Bei der japhetitischen Völkergruppe ist ein weltlicher (europäischer) und ein östlicher (asiatischer) Teil zu unterscheiden. Die Perser gehören zum asiatischen Teil. Der andere asiatische Zweig, die Hindu, hat auch eine gewisse Weltstellung erlangt: ihm gelang die Unterwerfung der hamitischen Urbevölkerung Indiens, und der eben damals auf seinem Boden wachsende Buddhismus hat später einen Siegeszug in Asien angetreten; ebenso wirkt indisches Gedankengut zur Zeit auf dem Weg über die Theosophie und Anthroposophie bis tief hinein in die Christenheit. Aber Weltreichstellung wurde den Indern nicht zuteil; dagegen wurden die Perser ihrer teilhaftig. Ihre Religion, von Zarathustra begründet, bzw. gereinigt, stand unter allen heidnischen Religionen am höchsten. Ein tiefes Gefühl für die Heiligkeit des guten Gottes, und für die Verpflichtung zum Kampf gegen die Macht der Finsternis, und ernstes sittliches Streben war ihr eigen. Ob bei den Persern nicht das gute Erbe aus der noachitischen Zeit noch nachwirkte? Mit dieser edlen Haltung des persischen Wesens wird es wohl zusammenhängen, dass das persische Weltreich, obwohl ebenfalls der Macht der Finsternis dienstbar, doch für die Einflüsse von oben zugänglich war, so dass sein erster Herrscher, der die göttliche Aufgabe hatte, die Gefangenen heimzulassen, bei Jesaja als Gesalbter Gottes, als Messias, bezeichnet wird (Jes 45:1).

Bereits der medische Darius (Dan 6) - sein Name wird in der üblichen Geschichtsdarstellung anders lauten - hatte eine große Empfänglichkeit für Gott. Und im Erlass des Kores (Cyrus), der die Heimkehr Israels und den Neubau des Tempels verfügte (Esr 1), ist die Berufung auf Gottes Auftrag, nicht nur eine Redewendung, sondern entspringt einem lebhaften Gefühl für die Wirklichkeit des lebendigen Gottes. Ähnlich stand es bei dem König Artaxerxes, dessen Haltung gegen Esra und Nehemia nur denkbar ist unter der Voraussetzung, dass er dem Geiste Gottes zugänglich war. In solcher Weise begann die Vorherrschaft der Japhetiten. Es ist nicht so geblieben. Von den Persern ging sie auf den europäischen Zweig dieser Völkergruppe über, auf die Griechen und dann auf die Römer. In dem Maß, wie es bei den Persern der Fall war, war das griechische und römische Wesen für das Reich Gottes nicht mehr aufgeschlossen. Diese gleiche Beobachtung, dass nämlich mit der Zeit die Empfänglichkeit für Gottes Geist nachlässt, war ja auch bei den beiden Weltmachtvertretern auf semitischer Seite, den Assyrern und Babyloniern zu machen. In seiner ältesten Zeit war Assyriens Hauptstadt Ninive, noch zu eindringlicher Buße bereit, sogar auf die widerwillige Predigt Jonas hin (s. das Buch Jona). Dieser Sinn war nicht mehr vorhanden, als Assyrien Jerusalem angriff; man vergleiche die echt heidnischen Worte Jes 36 und 37. Nebukadnezar war auch besserer Regungen fähig; aber wirkliche Buße kam nicht mehr zustande, obwohl zu solcher, anlässlich der Erlebnisse dieses Königs, mehr Grund vorhanden gewesen wäre als seinerzeit beim assyrischen König zur Zeit des Propheten Jona.

Am persischen Reich tritt das Streben nach Weltherrschaft mehr zutage als bei seinen beiden Vorgängern, dem babylonischen und assyrischen Reich. Deren Gebiet beschränkte sich noch auf das eigentliche Vorderasien; dass die neuen Weltreichversuche gerade da begannen, ist begreifbar. Das Zweistromland ist die geschichtliche Stätte des ersten großen Menschheitsversuchs. Dort waren die alten Überlieferungen noch lebendig. Dort knüpfte die Macht der Finsternis wieder an. Das Hinausgreifen über die Grenzen des eigenen Volkstums ist ja auch beim assyrischen und babylonischen Reich schon wahrzunehmen. Einem Reich, das sich mit der staatlichen Zusammenfassung seines eigenen Volkstums begnügt, hat noch keinen Weltreichcharakter, selbst wenn es einen großen Umfang hat. Aus diesem Grund ist auch das Ägypten zur Zeit Moses nicht als einer der Tierköpfe anzusehen, trotz seiner feindseligen Haltung gegen das Gottesreich. Denn Ägypten hatte damals keine Eroberungsgelüste. Der Versuch, das in seiner Mitte ansässig gewordene Israel zu unterdrücken, war anderer Art als der Drang der Weltreiche, die Völker ringsum unter die eigene Hoheit zu zwingen. Von diesem Drang war Assyrien beseelt; siehe die selbstrühmende Aufzählung seiner Eroberungen gegenüber Hiskia. (Jes 36:18-20; Jes 37:11-13). Ebenso ist bemerkenswert, dass hinter dem Eroberungsdrang ein treibender Gedanke, eine Idee, stand. Bei Assyrien war er religiöser Art: seine Götter sollten ihre Überlegenheit beweisen über die Götter der anderen Völker. Diesen Göttern wurde Israels Gott gleichgesetzt. Siehe dazu die eben genannten Bibelstellen.

Auch das babylonische Reich hat sich nicht mit der politischen Oberhoheit über die Völker begnügt, sondern hat ebenfalls ein geistiges Joch auf sie legen wollen. Bei einem Staatswesen, das nur ein einziges Volk zusammenfasst, ist das Einheitsband im Volkstum gegeben. Ein Weltreich dagegen, das viele Völker umfasst, und meist mit Zwang zusammenhält, sucht nach einem andern Bindemittel, das die zusammengezwungenen Völker innerlich einigen soll. Nebukadnezar suchte es in der gemeinsamen Verehrung des gewaltigen Standbildes, das wohl die Herrlichkeit des Reichs sinnbildlich darstellen sollte. Darum sah er in der Nichtbeachtung seines Befehls ein Vergehen gegen das Reich, das mit dem Tod zu bestrafen sei (Dan 3). Wir werden der Tatsache, dass die Weltreiche nicht nur ein politisches Gesicht haben, sondern auch ein geistiges, noch öfter begegnen und wahrnehmen, welche Kraft den weltbeherrschenden Ideen innewohnt. Die Gemeinde Jesu hat nur eine solche Idee, die aber kein Schein ist, sondern der volle Wirklichkeit zugrunde liegt, nämlich das Reich Gottes. Der Ideen der Weltreiche gibt es mehrere; auch ein verzerrter Reichsgottesgedanke gehört dazu. Aber alle die letztgenannten Ideen stammen nicht von oben, sondern aus dem Reich der Finsternis. Sie sind die Mittel, durch welche der Satan die Menschheit seinen Zwecken dienstbar macht.

Es ist nun nötig, noch einmal auf das persische Reich zurückzukommen. Es war gesagt worden, dass dasselbe sich der Art eines umfassenden Weltreichs mehr näherte, als seine beiden Vorgänger. Sein Ausgangspunkt war in der Nähe des ältesten Babel. Aber von da aus griff es nach allen Seiten. So nach Osten bis nahe zur indischen Grenze, im Südwesten verleibte es sich Ägypten ein, im Nordwesten Kleinasien. Von dort aus griff es hinüber nach Europa. Aber in Griechenland wurde ihm Halt geboten (Dan 11:2). So war Persien nicht auf das Zweistromland und seine Nachbarschaft beschränkt, sondern streckte nach allen Seiten seine Fangarme aus. Dagegen vermochte es nicht, um seine Völker ein geistiges Einheitsband zu schlingen. Es war in diesem Stück unbeweglich wie ein Bär, in dem es sein Abbild bekam (Dan 7:5).

Das Griechentum

Übergang der Führung nach Europa

Die Finsternis hatte ein geschmeidigeres Werkzeug für seine Pläne nötig. So ließ sie das persische Reich fallen. Nun ging die Führung der Geschichte von Asien nach Europa hinüber, zum westlichen Teil der japhethitischen Völkergruppe, zuerst zu den Griechen, dann zu den Römern. Bei beiden war das Stammland klein: das kleine Griechenland und Mittelitalien, die Gegend um Rom. Aber weltweite Wirkungen sind von diesen Mittelpunkten ausgegangen. Bei den Griechen waren die Wirkungen mehr geistiger Art, bei den Römern mehr politischer; doch hat den Griechen auch die politische Wirkung nicht gefehlt, und das römische Reich erhielt seine Fortsetzung bis in unsere Tage durch den Geist, welchen Roms Art weiter leitet. Griechentum und Römertum sind einander politisch gefolgt, aber das griechische Wesen ist damit nicht verschwunden, sondern durchdrang weithin auch das römische Reich. Das römische Reich ist in seiner alten Form freilich zugrunde gegangen; aber es hat in umgewandelter Gestalt im Lauf der Jahrhunderte die ganze japhethitische (indogermanische) Völkerwelt erfasst, von Amerika bis nach Indien. Die Grundlage dessen, was wir Bildung nennen, stammt aus griechischem Wesen. Auf dem Weg über Griechenland und Rom sind die Japhethiten in die ihnen, schon durch Noahs weissagendes Wort, zugewiesene Weltstellung eingetreten.

Aber den Semiten ist durch das gleiche Wort (1Mo 9:26.27) ebenfalls Weltstellung zugewiesen worden. Zur Zeit sind beide Völkergruppen am ringen, wer der stärkere sei, und wer die Führung der Welt erlange. Dieser Satz erscheint als Rätselwort. Wenn aber bedacht wirf, dass die Semiten in der Gegenwart völkisch durch Israel und die Araber, und geistig durch das Judentum und den Islam vertreten sind, und die Japhethiten politisch durch die europäisch-amerikanischen Mächte, und geistig durch das ziemlich weit von seinem Ursprung abgekommene Christentum, dann wird der obige Satz verständlich werden. Der Gedankengang dieses Buches kommt zu dem Schluss, dass dem Judentum noch eine führende Rolle in der Welt zufallen wird, sodass es zum 7. Kopf werden wird; und dass das Schlussergebnis der menschlichen Geschichte, in Zusammengehen aller drei Menschheitsgruppen, und eine Zusammenfassung aller geistigen Mächte, unter Führung des Judentums sein wird, im antichristlichen Reich als den 8. Kopf. Dieser 8. Kopf ist zugleich die Wiedererstehung des 1. Kopfes, nämlich des ungöttlichen Menschheitsreichs mit Babel als Mittelpunkt; und gleichzeitig stellt dieser 8. Kopf das Tier selbst dar, das dann nach seiner tödlichen Verwundung, die es (1Mo 11) durch Gottes Eingreifen erhielt, als geheilt und völlig ausgestaltet erscheint.

Das griechische Reich und seine Vorgeschichte

Nach diesem Überblick, der in der weiteren Darstellung der Begründung bedarf, ist nun ein Eingehen auf das griechische Reich nötig, das den 5. Tierkopf darstellt. Die Geschichte des alten Griechenlands und des griechischen Geistes bis zum Antritt seiner Weltmachtstellung, bleibt im vorliegenden Zusammenhang außer Betracht. Es sei nur auf die schon erwähnte allgemeine Beobachtung hingewiesen: dass nämlich jede Weltmacht ihre Vorgeschichte hat, ehe sie in ihre beherrschende Stellung eintritt. Mit dem Antritt der Herrscherstellung schließt die Vorgeschichte ab, und beginnt die eigentliche Geschichte. Einer mehr an der Oberfläche haftenden Geschichtsbetrachtung könnte es scheinen, als sei mit Alexander dem Großen die eigentliche griechische Geschichte zu Ende, als sei mit ihm ihr Höhepunkt längst überschritten. Tatsächlich ist aber die griechische Geschichte bis zu Alexander dem Großen nur Vorbereitungszeit für die Übernahme der Herrscherrolle. Ein bedeutsames Stück dieser Vorgeschichte ist die tapfere, siegreiche Abwehr der nach Europa hinübergreifenden persischen Eroberungsgelüste. Damals begann bereits die Gegnerschaft zwischen dem 4. und 5. Reich, nur dass Griechenland damals noch Verteidigungsstellung einnahm, während es später zum Angriff überging. Die gleiche Beobachtung, dass zwischen Vorgeschichte und Hauptgeschichte unterschieden werden muss, wird sich später beim 6. Reich, dem römischen, ergeben.

Auch bei Israel ist diese Unterscheidung zu machen. Seine Vorgeschichte wäre mit seiner gläubigen Unterstellung unter seinen König, aufgrund des apostolischen Zeugnisses zu Ende gegangen, und hätte einer die ganze Völkerwelt umfassenden Geschichte Platz gemacht. Weil es versagt hat, erstreckt sich seine Vorgeschichte viel länger; sie ist jetzt noch nicht zu Ende, sondern kommt erst mit dem Ende des gegenwärtigen Zeitlaufes zum Abschluss, um dann auszumünden in die Hauptgeschichte, wenn Israel den ihm, seit Abrahams Berufung, zugedachten Völkerberuf ausüben wird. Auf langem, heiligen Weg, mit einer Fülle von Gnade und Gericht, rüstete und rüstet Gott dieses Volk für seine Aufgabe. - Wer leitet die Vorbereitung der Weltvölker für ihre Herrscherstellung? Gottes Hand darf freilich auch da nicht übersehen werden. Aber es steht damit, wie mit der göttlichen Leitung der Menschheit nach dem Beginnen von Babel: sie ist nicht mehr unmittelbar, sondern mittelbar. Der Plan, welcher der Geschichte solcher Herrschervölker zugrunde liegt, bis sie heranreifen zur Übernahme ihrer eigentlichen Rolle, ist nicht göttlich, sondern satanisch.

Der Widersacher Gottes arbeitet von langer Hand und auf lange Sicht. Die Herausarbeitung des griechischen Wesens geht weit zurück, bis in Israels erste Königszeit. Als Gott Israel seinem vorchristlichen Höhepunkt entgegenführte, begann bereits die Heranbildung eines gefährlichen Gegners. Und als das alte Griechenland seinen Höhepunkt erreichte, da stellte die Macht der Finsternis bereits eine andere Weltmacht bereit, die griechisches Wesen durch äußere Machtentfaltung ergänzen musste, nämlich Rom. Daniel kannte bereits den "Fürsten von Griechenland" (Dan 10:20), womit nicht etwa Alexander der Große gemeint ist, sondern "der böse Geist, der in Griechenland sein Unwesen treibt" (Stuttgarter Jubiläumsbibel).

Dass Alexander der Große das Werkzeug war, das griechische Wesen zur Weltherrschaft zu bringen, ist bereits gesagt worden. Mit wenigen gewaltigen Stößen warf er Persien zu Boden. Der letzte persische König ließ im Jahr 330 sein Leben. Damit trat das griechische Reich an die Stelle des persischen. Es griff zu Alexanders Zeit noch über Persien hinüber bis nach Indien, und erreichte damit zeitweilig die Grenze der japhethitischen Völkergruppe. Aber hier bereits war ihm sein Ziel gesetzt, das es nicht überschreiten sollte. Bereits reckte Rom seine Glieder. Alexanders Werk hatte politisch keine lange Dauer. Zwei Haupterben hatte er: das syrische und das ägyptische Reich, die sich beide tief mit griechischem Wesen durchdringen ließen. Zuerst fiel Syrien an Rom. Im Jahr 30 v. Chr. folgte Ägypten. Mit Ägypten war der Rest des griechischen Reiches verschwunden. Rom war der Erbe. Aber den griechischen Geist hat Rom nicht angetastet und hat ihn nicht antasten dürfen. Denn dieser hatte seine Aufgabe noch nicht vollendet, sondern musste, und konnte nun unter der straffen römischen Ordnung seine Arbeit noch ungehemmter tun. Politisch hat das griechische Reich genau 300 Jahre gewährt: eine abgemessene Zeit.

Das Griechentum als geistige Größe

Weltmachtgröße im politischen Sinn hat das griechische Reich verhältnismäßig nur kurze Zeit gehabt. Es hat nur mit der Schnelligkeit des Panthers (Dan 7:6), und mit den raschen Stößen des Ziegenbocks (Dan 8:5) den Bären (Dan 7:5), den Widder (Dan 8:7) überwunden. Aber im übrigen war das politische Gefüge des großgriechischen Reichs zu weich; es glich darin dem Kupfer, im Unterschied von der eisernen Härte des Römerreichs (Dan 2:32.33). Aber umso mehr hat das 5. Reich als geistige Größe gewirkt. Das griechische Wesen hat die Art einer Weltmacht erlangt. Griechisches Wesen hat das ganze Altertum beherrscht, und war auch im römischen Reich tonangebend. Rom wurde später Inhaber der politischen Macht; aber vor dem griechischen Geist hat es sich gebeugt. Als geistige Größe ist das griechische Wesen noch nicht am Ende seiner Wirksamkeit angelangt. Die abendländische Welt zehrt heute noch vom griechischen Gedanken. Ein scheinbar unbedeutendes Zeichen für den Einfluss des griechischen Geistes auf das Bildungsziel ist die Tatsache, dass in den höheren Schulen immer noch die griechische Geschichte den eigentlichen Anfang der Beschäftigung mit der Geschichte bildet, während die Geschichte Vorderasiens und Israels in den Hintergrund tritt. Die letztere erscheint kaum als Geschichtsfach und wird in der Hauptsache in den Religionsunterricht verwiesen, während sie tatsächlich das Rückgrat der ganzen Menschheit bildet.

Was ist das Besondere des Griechentums? Da hat der Mensch sich selbst erfasst, und freut sich an sich selbst und schmückt sich selbst. "Vieles Gewaltige lebt; doch nichts ist gewaltiger als der Mensch" - dieses stolze Wort ist in Griechenland gedacht und ausgesprochen worden. Und es ist kein zufälliges Wort, sondern ein Ausdruck griechischen Wesens. Ein gewaltiges Selbstvertrauen erfüllte die griechische Art. In eigener Kraft traute sich der griechische Geist zu, denkend bis in die letzten Tiefen der Wirklichkeit vorzudringen. Ebenso traute sich der griechische Wille zu, die Welt zu gestalten und schön zu machen. Das Griechentum ist erfüllt von der Überzeugung, dass der Mensch im Grunde gut sei. Sünde im strengen Sinn des Wortes kennt der Grieche nicht. Humanität, Bildung, Kultur, Kunst, Optimismus sind griechische Gedanken, griechische Ideale.

Es soll nicht bestritten werden, dass das Griechentum vieles Liebenswerte an sich hatte und an sich hat. Es hat auch in der Kirche, wie vorher schon in Israel, eine große Wirkung ausgeübt, im Altertum, im Mittelalter, in der Neuzeit. Es hat sich auch kräftig geregt in der Reformationszeit, und hat um Einfluss gerungen auf die Reformatoren. Aber soviel ist klar, dass das griechische Wesen etwas ganz anderes ist als die Art, die dem Volk Israel durch seine Berufung, durch das Gesetz und durch die Propheten eingepflanzt worden ist. Für den Griechen steht der Mensch im Vordergrund, für das rechte Israel, Gott. Das Israel nach dem Geist nimmt seinen Standort bei Gott; der Grieche beim Menschen. Dort heißt es: Gott ist groß und heilig, sein Wille muss gelten, sein Reich soll kommen - der Mensch ist klein, denn er ist nur Geschöpf, und zudem hat er ob seiner Sünde allen Grund zur Beugung, zur Buße. Hier formt der Mensch seine Götter nach Menschenbild, und ist von seiner eigenen Größe und Herrlichkeit, von seinem eigenen Gutsein überzeugt. Was soll bei solchen Gedanken Sünde heißen? Der Vergleich zwischen Israel und dem Griechentum wäre aber noch nicht vollständig, wenn dabei nur ein Unterschied wahrgenommen würde. Es handelt sich vielmehr um einen Gegensatz, der nicht mehr ausgeglichen werden kann.

Eine Verschmelzung von Altem Testament und Griechentum ist nicht möglich; auch Christsein und Griechesein sind nicht miteinander möglich. Eins ist des anderen Gegner. Feuer und Wasser vertragen sich nicht. Wird versucht, Christentum und Griechentum zu verschmelzen, so leidet das Christentum Not. Es sei auf einige geschichtliche Tatsachen hingewiesen: der Weg des Apostels Paulus wurde nicht bloss durch das Judentum, sondern auch durch das Griechentum erschwert. Beide widersetzten sich der Botschaft vom Gekreuzigten. Für das eine war der jüdische Stolz, der sich nicht schuldig geben wollte, das Hindernis, für das andere die griechische Weisheit (1Kor 1:18-25). Eine Erinnerung aus der Reformationszeit: es ist kein Wunder, dass Erasmus sich von Luther löste. Es war nicht nur Menschenfurcht; sondern sein Wesen war tief im Griechentum verankert. Es ist kein Wunder, dass der gebildeten Welt des 18. und 19. Jahrhunderts das Verständnis des Evangeliums nahezu verloren ging - denn damals feierte griechisches Wesen eine Auferstehung im Abendland, wie schon vorher in der Zeit der sog. Renaissance.

Was hier griechisches Wesen genannt wird, ist allerdings nicht nur das geistige Merkmal des Griechen, sondern es ist tief verankert im menschlichen Wesen, sofern es sich nämlich von Gott löst und auf sich selbst zurückzieht. Solches Wesen wurde bereits den ersten Menschen im Paradies eingeflüstert, beigebracht, suggeriert, eingeimpft. "Ihr braucht die gehorsame Bindung an Gott zu eurem Wohlergehen nicht; wenn ihr euch selbst vom Gehorsam gegen Gott entbindet, kommt ihr weiter - dann müsst ihr nicht mehr unter Gott stehen, sondern kommt neben ihn; ihr werdet sein wie Gott" (1Mo 3:5). Das Besondere des Griechentums ist es aber, dass es ein derartiges menschliches Wesen, das im Grunde Gottesferne, ja Gott-losigkeit ist, in schönem Gewande zeigt und anpreist, und unter der gefälligen Außenseite das Sündige solchen Wesens verbirgt. Insofern hat das griechische Wesen etwas Verführerisches an sich; es schmeichelt dem natürlichen Menschen. Dieses Einschmeichelnde ist dem Griechentum auf allen Gebieten des Geistes eigen: sei es auf dem Gebiet des Denkens als Weltweisheit oder Philosophie; oder auf dem Gebiet des Wollens als Idealismus, bald in ernsterem, bald in leichterem Gewand; auf dem des Gefühls als feines Empfinden oder Ästhetik. In der Lebenshaltung äußert sich das Griechentum als maßvoller Lebensgenuss; es braucht keine Leichtfertigkeit damit verbunden zu sein, aber auch beim feinen Lebensgenuss handelt es sich um ein Genießen des Lebens. Sogar der Gottesdienst wird in den Lebensgenuss mit einbezogen: der Gottesdienst, der Kultus, dient zur Weihe des Lebens; er wird zum Schmuck des menschlichen Lebens, der das Leben schön macht, zur Dekoration.

Rein menschlich gesprochen sind die alten Griechen die feinsinnigsten Vertreter der Japhetiten, gewissermaßen Japhets geistige Blüte. Aber gleichzeitig wird an diesem Punkt Japhets Armut neben Sems Reichtum offenbar. Sem hatte Gott; Japhet hatte den Menschen. Sem hatte die Wahrheit mit seiner Herbheit, mit dem Ernst des heiligen, gebietenden, richtenden Gotteswillens; Japhet hatte den bezaubernden Schein. Der Schein hat eine Schwester: die Lüge. Ein Menschenwesen, das sich schmücken will, und schmücken zu können meint ohne Gott, hat sich auf das Gebiet der Lüge begeben. Aber die Lüge kommt nicht von Gott; ihr Vater ist der Teufel. So hat die schöne Menschlichkeit einen unheimlichen Hintergrund. Der letztere kommt dem sich selbst schön machenden Menschenwesen, der Humanität, nicht oder lange nicht zum Bewusstsein. Aber wenn solche Humanität in ernste Berührung kommt mit dem göttlichen Wesen, dann wird ihr Widerwille gegen das Göttliche wach, und derselbe kann sich steigern bis zum Angriff auf das letztere. Deshalb musste es zum Zusammenstoß zwischen dem Reich Gottes und dem griechischen Wesen kommen. Der Zusammenstoß erfolgte nicht erst, als das Evangelium der griechisch empfindenden Welt angeboten wurde (Paulus sagt dafür kurzerhand: die Griechen), sondern bereits, als eine nähere Berührung des Griechentums mit Israel stattfand.

Der Griff nach dem alten Gottesvolk

Dass unter diesen Umständen das griechische Wesen sich der Finsternis, als geeigneteres Werkzeug zur Verfolgung ihrer widergöttlichen Pläne, darbot als das Perserreich, liegt auf der Hand. Darum ließ es das Perserreich fallen und benutzte das Griechentum zur Förderung seiner Absichten. Ohne Gottes Zulassung geschah das freilich nicht. Letzten Endes kann ja auch der Satan Gottes Werk nicht hindern, sondern muss es fördern; so musste auch das Griechentum, trotzdem es unbewusst zum satanischen Werkzeug wurde, Gottes Reich fördern. Gott hat die schmiegsame und ausdrucksfähige griechische Sprache zum Gefäß des Evangeliums gemacht; und das Griechentum musste die Wiege der heidnischen Kirche werden.

Griechenland hat tiefe Wirkungen auf Israel ausgeübt. Durch die griechische Herrschaft kam griechisches Wesen überall hin, auch in das Heilige Land. Israel lernte griechische Art kennen. Und nicht wenige fühlten sich von der freien Art des Denkens, Wollens und Lebens angezogen, namentlich die oberen Schichten des Volkes; die freiere Art drang bis in das Priestertum ein. Auf diese geistigen Eroberungen des Griechentums weist Dan 11:32 hin, wo klar ausgesprochen wird, dass Übernahme griechischen Wesens nur möglich war, durch Lösung von Gott und durch Übertretung des Bundes. Auch 1Makk 1:12-16 [1] bezeugt die innere Spaltung, welche die Berührung mit dem Griechentum in Israel hervorrief. Die freie griechische Art wirkte noch zur Zeit Jesu und der Apostel nach bei den Sadduzäern, also in der Priesterschaft, wiewohl sie da nicht mehr so offen an den Tag trat; noch mehr bürgerte sie sich ein in weiten Kreisen, der im griechischen Einflussgebiet zerstreut wohnenden Juden, ein. Tiefernst für Israel wurde das Griechentum, als es zum Angriff auf Israels göttlich geordnete Sonderstellung überging, ermutigt durch die oben genannten geistigen Eroberungen.

Die Hörner des Ziegenbocks

Seinen Vorkämpfer fand es in einem syrischen König, in Antiochus Epiphanes. Es ist das kleine Horn, das Daniel von einem der vier Hörner des Ziegenbocks - gemeint sind die ursprünglichen 4 Teile des auseinander gefallenen Reichs Alexanders - hervorwachsen sah (Dan 8:9). Dieses kleine Horn ist zu unterscheiden von dem kleinen Horn, das zwischen den 10 Hörnern des 4. Tieres hervorschoss, und deren drei verdrängte (Dan 7:7.8.20). Der rasche Ziegenbock ist das griechische Reich. Das zuerst vorhandene eine Stoßhorn ist Alexander der Große; die an seiner Stelle gewachsenen 4 Hörner sind die Nachfolgereiche, von denen zwei sich behaupteten, das "Nordreich", nämlich Syrien, und das "Südreich", nämlich Ägypten - beide Benennungen müssen vom Standort des heiligen Landes aus verstanden werden. Das kleine Horn am Ziegenbock verdrängt keines der schon vorhandenen, sondern ist eher als eine Ausgeburt von einem derselben zu bezeichnen. Anders dagegen steht es mit dem kleinen Horn des 4. Tieres, das Daniel als ein nicht beschreibbares Ungetüm erschien, mit 10 Häuptern. Dieses kleine Horn erscheint gewissermaßen als elftes Horn zwischen den 10, und verdrängt drei schon vorhandene. Diese Unterscheidung der kleinen Hörner ist, wie schon gesagt, wichtig für das Verständnis des prophetischen Wortes und des Geschichtsganges.

Antiochus ist der vorchristliche Antichrist. Er war bestimmt, das neu erstandene Israel, das dem Kommen seines Königs entgegenging, innerlich und äußerlich zugrunde zu richten. Die Gefahr war so groß, ja noch größer als in der Richter- und Königszeit Israels. Zwar hat das Heidentum auch damals verführerische Wirkung auf das Gottesvolk ausgeübt; aber hinter dem gefährlichen Reiz stand kein Zwang, demselben nachzugeben. Unter Antiochus handelte es sich darum, dem Gottesvolk, von dem ein Teil schon innerlich überwunden war, das Weltwesen aufzuzwingen. Nun handelte es sich nicht mehr nur darum, sich innerlich gegen die Versuchung zu wappnen, sondern auch um die Bereitschaft zum Opfer des Lebens, zum Märtyrertum.

Antiochus hat nicht gesiegt. Aber der Kampf war hart. Das "Tier" hatte seine Krallen gezeigt. Und zwar gerade in seiner geschmeidigen griechischen Gestalt. Die persischen Könige waren im Verglich zu diesem griechischen Machthaber rauh, aber ehrlich; des Antiochus Art war nur Schein. In Antiochus kam der unheimliche Hintergrund des griechischen Wesens zutage. Bezeichnend ist, dass ihm seine Zeitgenossen neben dem Beinamen "Epiphanes" - "der Erlauchte, der Glänzende" - den anderen gaben "Epimanes" - "der Rasende". Ob sie ahnten, was diesen König trieb, dass er nämlich von der Hölle entzündet war? Es ist gut, die Gestalt des Antiochus im Auge zu behalten. Er ist eine Vorausdarstellung des Mannes, der als Werkzeug der Finsternis den Versuch machen wird, mit List und Gewalt alles zu beseitigen, was an Christi Namen erinnert.

Die Entstehung des Judentums

Der Blick auf den Gang der Weltreiche muss an dieser Stelle unterbrochen werden durch einen Blick auf die folgenschweren Veränderungen, die in der griechischen Zeit im Volk Israel vor sich gingen. Das heilige Ergebnis der babylonischen Gerichtszeit war gewesen, dass in Israel die Buße wach wurde. Der Mangel an Buße war seinerzeit der Grund, weshalb Israel den Assyrern und Babyloniern unterlag. Nun war durch Gottes Gerichtsschläge und durch die prophetische Zusprache Buße entstanden. Die Bereitschaft zur Buße war in der Gemeinde zu Jerusalem auch in den kümmerlichen Zeiten unter der persischen Herrschaft vorhanden, wie an der Volksbuße zur Zeit Esras zu sehen ist. Aber in der Zeit, da die israelitische Gemeinde der griechischen Herrschaft unterstand, bildeten sich ernste Wandlungen in der seelischen Haltung des Volkes und seiner Führer heraus, welche der Anlass wurden zu Israels neuem Fall, der sich in der Ausstoßung Jesu, und in der Ablehnung des Evangeliums auswirkte. Die Bereitschaft zur Buße ließ in der griechischen Zeit wieder nach. Buße setzt Erkenntnis der eigenen Sünde voraus. Dass solche in denjenigen Kreisen abhanden kam, die sich vom griechischen Wesen beeinflussen ließen, ist begreifbar.

Aber von tiefernsten Folgen war es, dass Mangel an Sündenerkenntnis, und darum an Bußfertigkeit auch da aufkam, wo Gesetzestreue zum Lebensziel gemacht wurde, nämlich bei den Schriftgelehrten und Pharisäern. Sie wurden über ihrer Gesetzestreue hart gegen Gott und Menschen, und verloren die Fähigkeit zur Buße. Das machte auch ihre von den Propheten übernommene Hoffnung selbstsüchtig. Gott und die Völkerwelt sollten nach ihrer Meinung Israels Diener sein, während umgekehrt Israel zum Dienst Gottes an der Völkerwelt berufen war. Sadduzäer und Pharisäer fanden sich zusammen in der Ablehnung, der von Johannes dem Täufer gepredigten Buße, die doch nur die Tür zum Reich Gottes für die schuldig Gewordenen öffnen sollte. Und mit der Ablehnung des Täufers war auch die Jesu gegeben. Sie war bereits im Anfang des Auftretens Jesu vorhanden. Der Anlass, bei dem die Entscheidung fiel, war die Tempelreinigung an Jesu erstem Passah, nach seiner Taufe. Sie waren zur Beugung, zur Buße nicht mehr fähig. Die Kreuzigung Jesu war nicht etwa eine übereilte Tat, sondern das Ergebnis des Widerwillens und Hasses gegen Jesus. Und es gelang den Führern, das Volk in ihre Tat mit zu verstricken.

Woran ist Israel gefallen? Nicht an seiner Gesetzestreue und an seiner Hoffnung. Beide hätten Israel Jesus, und schon seinem Vorläufer in die Arme treiben müssen, und nachher seinen Boten. Sondern daran fiel es, dass es am Gesetz und an den Propheten nicht klein geworden war. Es hatte Gesetz und Propheten benutzt, um sich selbst zu erhöhen. So entstand das Judentum. Der Jude ist der an seiner Berufung stolz gewordene Israelit. Israel und Israelit sind Ehrennamen. Jesus ehrte den Nathanael, als er in einen Israeliten ohne Falsch nannte. In der Benennung "Juden" schwingt dagegen bereits im Neuen Testament ein weher, ernster Klang mit. Und die Nebentöne werden stärker, wenn die ganze Entwicklung, die Israel seit der Ablehnung Jesu und der Apostel genommen hat, in der Bezeichnung "Judentum" zusammengefasst wird. Wenn einst das Judentum, oder wenigstens ein kleiner Rest Israels, durchgreifende Buße tut, dann kommt der Ehrennamen "Israel" wieder auf.

Es ist nicht schwer, sich am Judentum und am Pharisäertum zu stoßen. Doch wird es damit nicht überwunden. Und was den Israeliten zum Juden gemacht, und was die Pharisäer verdorben hat, das findet sich in der Christenheit ebenfalls, und hat der Kirche geschadet, sowohl in ihren eigenen Reihen als auch in ihrer Bewertung von außen. Mit großem Ernst hat Paulus gegen diese inwendige Verderbnis des Heiligsten gestritten. Er hat das Gericht Gottes bezeugt, nicht nur über die auch äußerlich in die Erscheinung tretenden Versündigungen (Röm 1:18-32), sondern er hat auch der frommen Unbußfertigkeit, die sich gegenüber offenbarten Gesetzes-Übertretern des Gesetzes rühmt, die Beklemmung und den Ausbruch des Zorngerichts angekündigt (Röm 2). So mahnt schon die Gleichheit der Gefahr die Christenheit, vor einem raschen Urteil über Judentum und Pharisäertums. Die Gerechtigkeit gebietet aber auch die Anerkennung, dass sich die Pharisäer durch die Peinlichkeit ihrer Gesetzes-Auffassung, und Gesetzes-Erfüllung das Leben nicht leicht machen. Sie haben sich um Gottes willen Lasten auferlegt, die kaum tragbar waren. Auch das muss zugegeben werden, dass sie ihre ganze Haltung als Dienst an ihrem Volk auffassten. Sie wollten ihm durch eigenes Vorbild und durch Belehrung zu einem Gott wohlgefälligen Stand verhelfen.

Und Jesus hat die Pharisäer ebenso gesucht, wie die anderen Glieder des Volkes, er hat nicht bloß seine ernsten Worte zu ihnen und über sie gesagt, sondern er hat mit Wort und Tat um sie gerungen. Ebenso ist es um der Gerechtigkeit willen nötig, über das Judentum der Vergangenheit und der Gegenwart nicht herabsehend oder bitter zu urteilen, sondern zu bedenken, was dieses Volk schon für seinen Glauben gelitten, und wieviel es schon für ihn geopfert hat; auch nicht zu vergessen wieviel Schweres es im Lauf der Jahrhunderte schon im Schoß der Christenheit hat ertragen müssen. Siehe das ergreifende Buch von Heman und Harling über die Geschichte des jüdischen Volkes seit 70 n. Chr.. Manches von dem, was am heutigen Judentum schwer empfunden wird, ist ein Ergebnis seiner verkehrten Behandlung durch die Christenheit.

Christentum und Judentum als satanische Helfer

Wie kam der zweite Fehlgang Israels nach dem im ganzen richtigen Neuanfang? Es könnten allerlei geschichtliche Vermittlungen genannt werden. An dem Umstand, dass die Fehlentwicklung in die Zeit fällt, da das griechische Wesen das ganze Morgenland durchdrang, und auch an Israel schmeichelnd und bedrohlich herantrat, könnte die Vermutung entstehen, dass gerade die Berührung mit dem Griechentum die Entwicklung Israels ungünstig beeinflussst habe. Die Wurzeln des Sadduzäertums liegen tatsächlich in einer gewissen Aufgeschlossenheit für griechisches Wesen. Aber das Pharisäertum hat sich gerade im Gegensatz, zu der vom griechischen Wesen drohenden Gefahr entwickelt. Immerhin ist es möglich, dass seine Entwicklung sich nicht zu solchem Gegensatz gegen Jesus und das Evangelium ausgewachsen hätte, wenn sie nicht unter dem Druck der griechischen Gefahr vor sich gegangen wäre. Um zum Vergleich eine Erscheinung der Gegenwart einzubeziehen: schon vor dem Krieg wurde geklagt über ein merkliches Nachlassen der Zucht. Ob aber die Fäulniserscheinungen so rasch weitergewirkt hätten ohne den schweren Druck der Kriegs- und Nachkriegszeit, steht doch in Frage.

Vielleicht ist aber der Wirklichkeit näher zu kommen, wenn man Israels zweiten Fall nicht in erster Linie aus einzelnen geschichtlichen Ereignissen oder Zuständen zu erklären sucht, sondern auf die unsichtbaren Hintergründe alles Geschehens achtet. Dem Widersacher Gottes musste ein Israel nach Gottes Sinn zuwider sein, weil es seine Pläne mit der Menschheit störte. Denn um die Menschheit auf Gottes Weg zurückzubringen, dazu wurde Israel geschaffen und geleitet. Und der satanische Wille geht ja gerade auf das Gegenteil aus, nämlich darauf, die Kluft zwischen der Völkerwelt und Gott abgrundtief zu machen. Darum ringt er auch mit Israel, um es seinem Völkerberuf zu entfremden, und es dazu untauglich zu machen. Verschiedene Wege standen dazu offen. Den einen Weg ist Israel vor der babylonischen Gefangenschaft mehrmals gegangen, in der Zeit der Wüstenwanderung, der Richter und der Könige: es wurde seiner Sonderstellung satt ,und begehrte zu sein wie die anderen Völker auch waren: deshalb nahm es auch ihren Götzendienst an. Hätte Gott das Volk diesen Weg bis zum Ende gehen lassen, dann hätte es seinen göttlichen Beruf an der Völkerwelt nicht ausüben können; es hätte die satanischen Pläne mit der Menschheit nicht gestört.

Aber Gott riss das Volk von diesem bösen Weg zurück. Als Israel nach der babylonischen Gefangenschaft neu anfangen durfte, war es geläutert. Es nahm seine Sonderstellung innerhalb der Völkerwelt mit großem Ernst wahr. Und als die Macht der Finsternis unter Antiochus, es mit Gewalt seiner göttlichen Besonderheit entkleiden wollte, da ließen seine Besten lieber Leib und Leben, auf dass sie hätten werden mögen wie die Heiden. Da schritt die Finsternis einen anderen Weg: Israel sollte seine Sonderstellung behalten, sollte sich aber durch stolze und selbstsüchtige Isolation von der Völkerwelt zum Dienst an derselben unlustig und untüchtig machen. Das Mittel dazu war die Hineinleitung Israels in das Judentum auf dem Weg über das Schriftgelehrtentum und über das Pharisäertum. Ein wirklich teuflischer Plan: an seinem ihm von Gott verliehenen Besitz, am Gesetz und an seiner Hoffnung, sollte es sich verderben, indem es sich daran die Buße sparte. Der Versuch gelang. Israel ließ sich verführen zur Ausstoßung seines Königs und zum Mord an ihm. Und als Gott seinen Frevel zum Segen wandte, nur mit der einen Bedingung der Buße, da brachte die Finsternis auch das weitere Kunststück fertig, Israel zur Ausstoßung der Boten Jesu zu bewegen. Nun blieb nur noch ein Kunststück übrig, nachdem die Finsternis Israel aus seinem Segensberuf an der Völkerwelt hinausgedrängt hatte: nämlich Israel zum Verderber der Völkerwelt zu machen, zum Fluch für sie. Diese Arbeit ist schwer. Aber in Angriff genommen ist sie bereits, und es steht zu befürchten, dass es dem satanischen Willen gelingen werde, seinen Zweck bei dem fleischlich gewordenen Teil des Volkes zu erreichen. Welch furchtbare Kämpfe mag es das Israel im Geist kosten, bis es sich innerlich und äußerlich von der Verstrickung mit dem satanischen Wesen löst! Dass diese Beurteilung des Judentums, so ernst sie ist, in biblischem Rahmen bleibt, zeigt das Wort Jesu Joh 8:44. Auch das Wort des Paulus 1Thes 2:14-16 weist in ähnliche Richtung. Sehr ernst ist auch die Beurteilung einer einzelnen jüdischen Gemeinde in Offb 2:9.

Von diesen allgemeinen Erwägungen aus führt eine Brücke hinüber zur Erkenntnis, warum wohl die Entwicklung Israels zum Judentum in der griechischen Zeit erfolgt ist. Es wurde versucht, den unheimlichen Hintergrund des griechischen und des jüdischen Wesens aufzuzeigen: beide haben den gleichen Vater, auch wenn sie sich ihres eigentlichen Ursprungs nicht bewusst sind. Bei beiden hat die Finsternis das gleiche Verfahren angewandt, nämlich den Menschen zu erhöhen und zu schmücken, und ihm das Bewusstsein seiner eigenen Größe beizubringen. Im einen Fall hat sie den natürlichen Menschen erhoben; im andern den frommen Menschen. Das Gesetz war Israel gegeben worden, damit es am heiligen Willen Gottes sich seiner fleischlichen Art bewusst werde, und sich innerlich bußfertig von ihr löse (Röm 3:20; Röm 7:7-24). Nun gelang es der Finsternis, mittels des gleichen Gesetzes Israel auf sich selbst stolz zu machen, und es so in den Gegensatz zum demütigen Empfang der Gnade, und gegen die Erfüllung der Liebespflicht an den Völkern zu bringen.

Der Sieg, den die Finsternis bei Israel errang, war wichtiger als die Hochzüchtung des menschlichen Wesens, die ihr in der geistigen Verfassung des Griechentums gelang. Was sie unter Antiochus mit Gewalt nicht erreichte, das gelang ihr später mit List. Menschlich gesprochen, war Israel mit dem Herr-Werden des pharisäischen Geistes hoffnungslos verdorben. Aber die Gnade hatte bereits einen Weg bereit zur Hilfe, nämlich den des Kreuzes, das alle menschliche Hoheit, sowohl die natürliche, wie die fromme in den Staub beugt. Es ist kein Wunder, dass sich Judentum und Griechentum gegen das Wort vom Kreuz wehrten (1Kor 1:23). Bei beiden wurde der Widerwille unwillkürlich, instinktiv wach. Denn das Wort vom Kreuz trifft Judentum und Griechentum am Lebensnerv, und nimmt ihnen alle eigene Vortrefflichkeit und Größe. Unter dem Kreuz muss das jüdische und das griechische Wesen sterben. Am Kreuz wurde auch der satanische Wille gerichtet, der bei beiden Pate gestanden war. Darum wird auch einst die Rettung des rechten Israel aus den Banden des Judentums nur erfolgen durch den Anschluss an den Gekreuzigten.

So ging mit Israel eine folgenschwere Veränderung vor, als es den Weg der Selbsterhöhung beschritt, den Weg der eigenen Größe, der eigenen Gerechtigkeit, und der selbstsüchtigen Hoffnung: da wurde es aus einem Anwärter des Gottesreichs zu dessen Gegner und Verfolger. Jesu Kreuz und die Ausstoßung von Männern wie Stephanus und Paulus, sind angesichts dieser Entwicklung Israels keine zufälligen Geschichtstatsachen, sondern Ereignisse, die sich folgerichtig aus der Verkehrung des Israel nach dem Geist, in das Israel nach dem Fleisch ergaben. Ein Bild im Kleinen, das aber die Lage klarmacht: als Pharisäer war Paulus dem Judentum hoch willkommen; als er aber in den Betsälen von Damaskus den Gekreuzigten verkündete, entstand seitens der dortigen Juden gegen ihn der tödliche Hass. Das Israel, das auf seine eigene Erhöhung bedacht war, ging über in das Lager des Feindes. Damit ist mehr gesagt als dies, dass Israel dem teuflischen Betrug erlag, der immer darauf ausgeht, den Menschen dadurch zu verderben, dass er ihn groß macht. Vielmehr wurde Israel dem Feind sogar dienstbar, indem es sich, ohne es zu wissen, vom Feind Gottes benutzen ließ für seine Zwecke, also zur Bekämpfung des Reiches Gottes. Was Jesus im Garten Gethsemane und am Kreuze litt, erhält auch von hier aus eine Beleuchtung.

Rom

So hatte nun der alte böse Feind zweierlei Hilfstruppen aus zwei entgegengesetzten Lagern: die Völkerwelt, die schon lange auf dem Weg von Gott weg begriffen war und das Gottesvolk, das doch bestimmt war, der Völkerwelt zu Gott zurück zu helfen! Er hatte den von Gott abgewandten, und den Gott zugewandten Teil der Menschheit an sich gekettet. Und nun schickte er sich an zum Hauptschlag, zur Zusammenfassung seiner Macht in einem kraftvollen Gebilde, das ihm als Werkzeug zur Förderung und Vollendung seiner Menschheitspläne dienen sollte. Das Werkzeug war bereits vorhanden; es musste nur hervorgeholt werden und vollends diensttauglich gemacht werden: Rom. Rom ist das 4. Reich Daniel mit seiner eisenharten Art, die trotz Mischung mit weichem Material noch hart bleibt; und mit seiner zerschmetternden Wirkung (Dan 2:33.40.41). Es hat sein Bild in dem schrecklichen unbeschreiblichen Tier mit den eisernen Füßen und Krallen, und mit den alles zertretenden Füßen (Dan 7:19). Es ist der 6. Kopf des Tieres in der Offenbarung, der zur Zeit des Empfangs der Offenbarung da war, und dessen Dauer währen soll bis kurz vor der Endgestalt des Tieres (Offb 17:10). Dieses 6. Reich ist ein Gebilde besonderer Art, dessen Anfang und Grundlage wohl das alte römische Reich ist, das aber mit dem römischen Kaiserreich nicht erschöpft ist.

Sowohl Daniel wie Johannes deuten auf Entwicklungsstufen dieses Reiches hin, indem bei Daniel von den Schenkeln, Füßen und Zehen die Rede ist, von verschiedenem Material, von Einheit und Vielfalt, von Zusammenhalt und Auseinandergehen; indem er ferner vom ersten von 10 Reichen aus dem einen spricht, und von gewaltsamen Vorgängen zwischen den Reichen, ohne dass damit die Einheit des eigentlichen Reiches aufgehoben wird. ([Dan 2:33]].40-43; Dan 7:24). Auch in Offb 17:12 ist von 10 Königen die Rede, deren Nebeneinander aber die Einheit des Reiches nicht gefährdet; nur ist nicht ausdrücklich gesagt, welchen Kopf des Tieres sie zerstören - es ist offen gelassen, ob sie mit einer lange dauernden 6. Reichsgestalt zusammen gehören, oder mit der endgültigen 8., die aber nur eine Wiederholung und Ausgestaltung einer früheren Reichsstufe bedeutet; oder ob sie von der 6. über die kurzdauernde 7. Reichsgestalt zum antichristlichen Reich hinüberreichen. Wir nennen dieses 6. Reich der Schrift Rom, weil es die Hauptstadt der Erstlingsgestalt war. Das Wort "Rom" ist ein Sammelname: es bedeutet nicht nur Stadt, sondern auch das Reich; ferner das Reich nicht bloß im Sinn des alten Kaiserreichs, sondern auch in seinen späteren Gestaltungen; nicht bloß als weltliche Macht, sondern auch als geistige Größe.

Roms Vorgeschichte

Rom hatte eine lange Vorgeschichte, bis es in seine Herrscherstellung eintrat. Von den kleinsten Anfängen stieg das römische Reich empor zu einer weltbeherrschenden Höhe. Ob nun die römische Sage reiht hat oder nicht: Rom oder die nächste Landschaft um Rom, war der Anfang des kleinen Gemeinwesens, das sich zum Reich ausgestaltet hat. Wenn die römische Zeitrechnung richtig ist, dann geht der Beginn Roms zurück bis in die Zeit, da Assyrien seine Hand nach dem Reich Israel ausstreckt. Zwar reicht die griechische Geschichte noch weiter zurück. Aber ihre Entwicklung war lange nicht so folgerichtig wie die Roms. Rom war Herrscher von Anfang an, und hat sein Herrschaftsgebiet mit einer beispiellosen Beharrlichkeit und Folgerichtigkeit erweitert. Italien wurde der Mittelpunkt; aber der römische Herrscherwille kam nicht zur Ruhe, bis der Ring um das ganze Mittelländische Meer geschlossen war, und dann drängte es weiter gegen die Grenzen der damals bekannten Welt. Das Tier fraß mit eisernen Zähnen. Und wie die eisernen Krallen des Tieres nach den Ländern griffen, noch ehe es ihm gelang, sie sich einzuverleiben, so hielt es die eroberten Länder mit diesen Krallen fest und gab sie nicht mehr los. Nun war es ganz anders als beim griechischen Reich, das sein gewaltiges Gebiet nicht hatte zusammenhalten können. Und wieviel haben die Füße dieses Tieres zermalmt und zertreten! Rom hat sich tatsächlich von allen anderen Reichen unterschieden (Dan 7:19), und zwar schon in der Zeit seiner Entwicklung.

Es ist merkwürdig, das Tier, das Johannes sah, hatte 7 Köpfe. Man sollte meinen, die Köpfe seien gleichzeitig da gewesen. Trotzdem wurde Johannes gesagt, dass sie nacheinander kommen (Offb 17:9.10). Die Geschichte hat, wie bereits ausgeführt, das Rätsel gelöst, wie es möglich sei, dass die Köpfe gleichzeitig vorhanden seien, und doch einander ablösen. Rom, der wichtigste Kopf im Verlauf der ungöttlichen Menschheitsgeschichte, war gleichzeitig mit den anderen Köpfen da, und hat sie doch abgelöst. Zwar war es nicht gleichzeitig mit dem 1. Kopf vorhanden, d. h. mit dem ältesten Babel; denn mit diesem 1. Kopf hat es eine besondere Bewandtnis - er ist die Anfangsgestalt des Tieres selber, und wird als 8. Kopf eine Wiedererstehung erleben, und das Tier in seiner Vollendung darstellen. Aber es war gleichzeitig da mit allen Neubelebungsversuchen des seinerzeit tödlich verwundeten Tieres: mit dem assyrischen, babylonischen, persischen und griechischen Reich. Diese Reiche ahnten das Vorhandensein des gefährlichen Nebenbuhlers nicht. Seine Stunde war noch nicht gekommen. Die Glieder des Tieres mussten sich erst recken, und das Tier musste erst in seine Vollkraft hineinwachsen. Es wurde von der Finsternis bereitgestellt zum Kampf mit dem Reich Gottes, dessen Kommen der Finsternis wohl bekannt war. -

Der Gedanke der Gleichzeitigkeit des 6. Reiches mit den Köpfen, trotz ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge, bedarf noch einer Ergänzung in Richtung auf die Zukunft: obwohl das 6. Reich noch vom 7. abgelöst werden, und obwohl erst das neue Babel die widergöttliche Menschheits-Zusammenfassung vollenden soll, so ist doch keimartig das 7. und 8. Reich bereits im 6. enthalten. So ist es kein Wunder, dass Daniel als letztes Weltreich vor dem Gottesreich das römische erblickte, obwohl Johannes noch eine kurze Fortsetzung, und dann erst das antichristliche Reich wahrnahm. Denn Rom stellt diejenige Stufe der Weltentwicklung dar, welche die Anfänge zusammenfasst und alles zum Schlusspunkt hinüber leitet.

Der Eintritt Roms in seine Weltmachtstellung

Wann trat Rom in seine Herrscherstellung ein? Als es nach den furchtbaren Wirren am Ausgang der republikanischen Zeit zum Kaiserreich wurde. Da erst erhielt es seine einheitliche Zusammenfassung mit dem Kaiser an der Spitze. Der Titel rührt her vom Namen des größten römischen Feldherrn, Cäsar, dem die Vollendung seiner, auf die Alleinherrschaft gerichteten, Pläne durch seine Ermordung aus der Hand genommen worden war. Was ihm misslungen war, führte ein junger Verwandter Cäsars, den der letztere an Sohnes statt angenommenen hatte, Oktavian, aus. Er bekam später den Ehrennamen Augustus, "der Erhabene", mit dem er als Kaiser genannt wird. Unter seinem Nachfolger Tiberius war "Kaiser" bereits zum Titel der römischen Herrscher geworden (s. Lk 3:1; Mt 22:21; Lk 23:2; Joh 19:15).

Doch ist das Aufkommen des Kaisertums nicht das einzige Merkmal an dem Roms Eintritt in die Weltmachtstellung erkannt wird. Ebenso bedeutsam ist das Aufhören der griechischen Vormachtstellung. Vom griechischen Reich war nur noch ein Rest vorhanden, Ägypten. Dessen Unabhängigkeit war bereits gegen das Ende des republikanischen Roms erschüttert. Aber dem Römerreich einverleibt wurde es erst, als Oktavian seinen letzten Gegner, Antonius, geschlagen hatte. Im Jahr darauf, nämlich 30 v. Chr., d. h. vor Beginn unserer Zeitrechnung, etwa 25 Jahre vor Christi Geburt, wurde Ägypten römisch. Nun hatte Rom die griechische Erbschaft angetreten. Mit Ägypten fand das Gebiet des neuen Reichs eine wichtige Abgrenzung. Das Mittelländische Meer war zum römischen Binnenmeer geworden. Der ganze griechische Osten gehörte ihm. Nur das persische Gebiet war noch nicht einverleibt. Von den Randländern des Mittelländischen Meeres fehlte nur noch das heutige Marokko. Doch war dessen Besitz für das Reich kein Lebensbedürfnis.

Jede6s der beiden Ereignisse, sowohl das Aufkommen des Kaisertums, als auch die Zertrümmerung der politischen Macht des Griechentums würde genügen, um den Zeitpunkt des Eintritts Roms in die Weltherrschaft zu bestimmen. Nun fallen aber die beiden Ereignisse zusammen. Als der Rest des griechischen Reiches fiel, war Oktavians Alleinherrschaft gesichert, und der römische Senat, der dem Namen nach als Rest der republikanischen Staatsform übrig gelassen wurde, erkannte sie auch an. Und gleichzeitig hatte, wie oben bemerkt, das große Reichsgebiet die letzte Abrundung erhalten, die ihm bisher noch gefehlt hatte. Das Heilige Land bestand damals bereits ein Menschenalter, seit 63 v. Chr. unter römischer Herrschaft, denn das edomitische Königtum des Herodes verdankte seine Errichtung und seinen Bestand römischer Gunst. Das 4. Tier Daniels war aus dem Völkermeer heraufgestiegen und stand fertig da vor den staunenden Völkern, und die Völker beugten sich. Auch Israel.

Israel stand nun schon unter der 4. Weltmacht und empfand den Druck schwer, ob er nun von dem römischen Günstling Herodes ausging, oder unmittelbar ausgeübt wurde durch den römischen Statthalter, als dem Beamten des Kaisers. Rom wehrte seinem Gottesdienst nicht; aber die politische Bindung war straffer geworden, selbst die von Rom eingesetzten und geduldeten Könige mussten sich fügen. Israel empfand das an der standesamtlichen Eintragung, an der Registrierung der Bevölkerung mit dem daraus folgenden Steuerzwang, an der Beaufsichtigung des Handels zum Zweck der Verzollung der Waren, an der militärischen Überwachung von mehreren Garnisonen aus und an der Einschränkung des Gerichtswesens. Von einzelnen misslungenen Versuchen, sich des Drucks zu erwehren, ist Apg 5:36.37 die Rede. Aber das Volk und seine Führer erkannten, dass sie sich unter die römische Hand beugen mussten. Der Befreiungsversuch des Jahres 66 n. Chr. endete nach 4-jährigem Kampf mit dem Fall Jerusalems und des Tempels.

Je mehr die Führer des Volks auf Israels Stellung als Gottesvolk pochten, um so größer wurde der Hass gegen Rom und den Kaiser. Dieser Hass wurde nur noch vom Hass gegen Jesus übertroffen. Um seine Verurteilung durch den römischen Statthalter zu erreichen, stellten sie sich dar als besorgt um die Steuereinnahmen des Kaisers (Lk 23:2); um die Hinrichtung zu erzwingen, verleugneten sie Israels Hoffnung, und gaben sich kaisertreuer als der kaiserliche Beamte. (Joh 19:15); um sich noch dem Toten gegenüber zu sichern, ehrten sie den Statthalter mit dem gleichem Namen, der Israels König gebührte (Mt 27:63). Und im Jahr 70 n. Chr. und danach hat Israel tatsächlich für den Messias, und den Kaiser als Herrn eingetauscht - ein fürchterlicher Wechsel.

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