Judas Iskariot und die Liebe Gottes

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Von Arthur Muhl


Wenn wir je irgend Gelegenheit haben, die Größe der Liebe Gottes zu bezeugen und die Weite seiner Gedanken darzustellen, so wird nicht selten die Frage laut; "Aber wie ist es denn mit Judas?" Unter den vielen schwer zu beantwortenden Fragen der Bibel ist dies eine der heikelsten. Wenn sie aber im Einklang mit der Heiligkeit und der Liebe Gottes befriedigend gelöst werden kann, so ist damit ein Hauptschlüssel gefunden, mit dem sich viele ähnliche Dinge erschließen lassen.

Der Geist, der uns von Gott gegeben ist, leitet uns in alle Wahrheit (Joh 16:13) und offenbart uns auch die Tiefen der Gottheit (1Kor 2:10). Deshalb dürfen wir guten Mutes, gepaart mit heiliger Schau, ins Allerheiligste dieser Dinge hineintreten. "Judas" ist die griechische Form für die hebräische Schreibweise des Namens "Juda" (Mt 1:3). Sowohl der Stammvater Juda im alten Bund als auch dieser Jünger Jesu, als ein Sohn seines Ahnen, tragen, neutestamentlich gesehen, den Namen "Judas" und machten ihrem wunderbaren Namen Schande statt Ehre. Denn ihr gemeinsamer Name bedeutet: "Lobpreis": Und doch werden wir sehen, dass die Untreue dieser beiden die Treue Gottes nicht aufhebt.

Gott, der dem ganzen Stamm Juda die Verheißung gegeben hat: "Wie ihr ein Fluch wart, also werdet ihr ein Segen sein", vermag auch bei diesen beiden Fluch beladenen, typischen Stammesvertretern für Seinen Namen einen wunderbaren Lobpreis zu gestalten, und zwar auf Grund der Tatsache, dass der Gesalbte Gottes sich nicht schämte, dem Fleische nach ein Jude oder Judas zu werden. Das Wort des Herrn Jesus: "Das Heil kommt aus den Juden" (Joh.4.22b; 1Mo.49.10) und andere ähnliche Zeugnisse der Schrift, wie z.B.: "Nicht weichen wird das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab zwischen seinen Füssen hinweg, bis Schilo kommt (der Ruhebringende, der Friedenschaffende), und ihm werden die Völker gehorchen", bezeugen uns, wie wunderbar die Rettungsgedanken Gottes mit dem Namen Juda und Judas verknüpft sind. Wir denken noch an das Wort aus Offenbarung 5,5: "Es hat überwunden der Löwe, der aus dem Stamme Juda ist, die Wurzel Davids, das Buch zu öffnen und seine sieben Siegel".

Vorerst wollen wir nur von fern her andeuten, dass hinter der äusseren Übereinstimmung des Namens Juda mit Judas eine wunderbare innere, verborgene Übereinstimmung im Erleben dieser beiden Männer vorliegt, die uns später auch im einzelnen beschäftigen wird. Die Schrift setzt zum Namen Judas noch den Namen Iskariot. Dieser sonderbare Zuname kann als aus dem Hebräischen stammend erkannt werden:

Is = Isch = Mann
k = wie
Arioth = Löwen oder Löwinnen

Also: "Judas, ein Mann wie die Löwen oder Löwinnen". Diese Deutung wird durch die biblischen Gegebenheiten bestätigt, denn wir lesen, dass der ganze Stamm Juda mit einer Löwenfamilie verglichen wird:
Juda ist wie ein Löwe (1Mo 49:9). Juda ist wie eine Löwin (Hes 19:2).
Demnach wird an allem, was Judas tut – oder was mit ihm geschieht – dargestellt, wie die Juden in ihrer Gesamtheit Christus gegenüber Stellung beziehen und was mit ihnen geschieht. Wir sahen oben, dass der neutestamentliche Name ihres Stammvaters auch "Judas" ist, eine Tatsache von tragischer Bedeutung. Zum Glück aber kennt das Neue Testament eine Reihe begnadigter Träger dieses Namens; unter anderem den Schreiber des Judas-Briefes, einen Knecht Jesu Christi. Nun achten wir auf die Stellung Judas' zu den übrigen Aposteln. Wir werden entdecken, dass er in allem von seinem Herrn gleich liebevoll behandelt worden ist, wie irgendeiner der Zwölfe. Sei es in der Berufung durch den Herrn Jesus, sei es in der Ausrüstung mit Gaben und dem Empfang göttlicher Vollmacht über Dämonen oder in der liebenden Zuneigung zum Herrn.

Nur in einem Punkt unterscheidet sich Judas von Anfang an von den anderen: Er ist immer der Letzte. Wir lesen in Matthäus 10 vorerst die Verse 2-4, in welchem die Namen der Zwölf genannt sind. Dabei heißt es ausdrücklich: "der Erste Simon, der Petrus genannt wird" usw. Wenn es nun einen Ersten gibt, gibt es auch einen Letzten. Und dieser Letzte unter den Zwölfen ist und bleibt in jeder Aufzählung der Apostel Judas. Aus Kapitel 10 greifen wir zudem noch einige Worte heraus, die uns zeigen, wie Judas vom Herrn Jesus den anderen Jüngern gleichgestellt worden ist:

Vers 1: Auch Judas erhielt Gewalt über unreine Geister, sie auszutreiben und Vollmacht über jede Krankheit und alle Gebrechen zu heilen.
Vers 5: Auch Judas wird vom Herrn ausgesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
V. 14-15: Auch wer Judas nicht aufnahm in sein Haus, dem wird es schlimmer ergehen im Gericht als es Sodom und Gomorra widerfuhr.
V. 19-20: Auch dem Judas wird es gegeben werden, in schwerer Stunde zu reden, wie er soll; denn auch in ihm redet der Geist des Vaters.
Vers 22: Auch er wird gehasst werden um des Namens Jesu willen.
Vers 30: Auch die Haare auf dem Haupte des Judas sind alle gezählt.
Vers 31: Auch er ist vorzüglicher als viele Sperlinge.
Vers 40: Auch wer Judas aufnimmt, nimmt den Herrn auf.

Im 1. Vers von Matthäus 11 heißt es zusammenfassend: "Als Jesus seine Befehle an seine zwölf Jünger vollendet hatte". Damit bestätigt er nochmals die Gleichstellung des Judas mit den Zwölfen auf der ganzen Linie. Auch Judas hat Jesus die Füße gewaschen (Joh 13:5 Joh 13:11-12) und auch Judas gehört zu den Seinen, die Er liebte bis ans Ende und zwar trotzdem der Satan es dem Judas schon ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten. Wie muss es mit feurigen Kohlen in Judas gebrannt haben, während Jesus ihm die Füße wusch und er den Verrat schon im Herzen trug. Diese ihm erwiesene Güte des Herrn macht natürlich seine üble Handlungsweise noch verwerflicher.

Wir beachten jetzt jenes Wort des Herrn Jesus an seine Jünger, welches die Frage des Petrus beantwortet: "Siehe wir haben alles verlassen und sind Dir nachgefolgt, was wird uns nun werden?" "Wahrlich, ich sage euch," erwidert der Herr, "ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auch ihr werdet in der Wiedergeburt, wenn der Sohn des Menschen sitzen wird auf seinem Throne der Herrlichkeit, auf zwölf Thronen sitzen und richten die zwölf Stämme Israels" (Mt 19:27-28 / Lk 22:28-30).
Hier dürfen wir uns fragen, ob der Herr Jesus wohl übersehen habe, dass einer dieser zwölf Judas sei und ein anderer an seine Stelle treten werde. Den gleichen Hinweis finden wir auch bei Lukas, wo Jesus anlässlich des Passah zu seinen Jüngern spricht: "ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen, und ich verordne euch, gleich wie mein Vater mir verordnet hat, ein Reich, auf dass ihr esst und trinkt an meinem Tische in meinem Reiche und auf Thronen sitzest, richtend die zwölf Stämme Israels". Möchten wir nie ausser acht lassen, dass Judas immer und immer wieder als "einer der Zwölfe" bezeichnet wird. Die Frage in Bezug auf die Person des Matthias als Ersatzmann für Judas werden wir später noch betrachten (Apg 1:26).

Jesus macht hier aber auch gar keine Ausnahme. Im Gegenteil, er fährt fort "ein jeder, der irgend verlassen hat, Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen, wird hundertfältig empfangen und ewiges Leben erben". Gilt nicht auch hier: "Kann etwa ihre Untreue Gottes Treue aufheben?" (Mt 19: 29). Besonders wichtig ist uns aber der Nachsatz in Vers 30: "aber viele Letzte werden Erste sein". Hierbei beachten wir noch einmal, dass gerade Petrus, der Sprecher im Kreise der Jünger, immer der Erste, Judas immer der Letzte ist.
Um die Wichtigkeit dieses Wortes und diese Wahrheit zu unterstreichen, fährt nun Jesus im nächsten Kapitel mit dem Gleichnis der Arbeiter im Weinberg fort. Dabei bekommen diejenigen Arbeiter, die erst abends 5 Uhr die Arbeit aufgenommen haben, nicht nur gleichviel Lohn, wie diejenigen, die schon morgens um 6 Uhr mit der Arbeit begonnen und die Hitze des Tages getragen haben, sondern die Letzten erhielten den gleichen Lohn zuerst.
Da Judas im Kreise der Jünger vorerst immer der Letzte ist, besteht nach obigen Regeln der Gedanken und der Güte Gottes Grund zu einer jedes Bitten und Verstehen weit überragenden Hoffnung auch für ihn. Und wem dieses nicht passt, der muss gerade in diesem Zusammenhang darauf gefasst sein, vom Herrn hören zu müssen: "Sieht dein Auge böse, weil ich gütig bin?" Und dann fährt der Herr noch einmal abschließend fort: "Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein" (Mt 20:15). "Ich, Jehova bin der Erste, und bei den Letzten bin ich derselbe" (Jes 41:4).

Wir haben zudem die eigenartige Tatsache vor uns, dass der erste der Jünger, Petrus, den Herrn mit Schwur und Verwünschung verleugnet und der letzte ihn überliefert. Bis jetzt haben wir die Berufungszusammenhänge nach dem Evangelium Matthäus betrachte. Bei Markus finden wir eine besondere Seite der Berufung der Zwölf, indem es dort heißt: * Mk 3:13-19 - "Und Jesus steigt auf den Berg und ruft herzu, welche er selbst wollte. Und sie kamen zu ihm; und er bestellte zwölf, auf dass sie bei ihm seien, und auf dass er sie aussende zu predigen und Gewalt zu haben, die Krankheiten zu heilen und die Dämonen auszutreiben". Hier dürfen wir sehen, dass Jesus den Judas nicht aus einem gewissen Zwang mit in Kauf genommen hatte, sondern dass Er selbst ihn bei sich haben wollte. Und bei Lukas dürfen wir noch den kostbaren Einblick gewinnen, dass der Herr Jesus vor der Erwählung dieser Zwölf die ganze Nacht im Gebet zu Gott verharrte (Lk 6:12). Hier achten wir besonders auf das Wort: "Er erwählte aus ihnen zwölf, die er auch Apostel nannte" (Lk 6:13), und in Vers 16 wird sofort Judas als der zukünftige Verräter bezeichnet. Doch dessen ungeachtet, hat der Herr Jesus ihn als einen der zwölf Apostel ausgewählt, als Frucht des Gebetes einer ganzen Nacht. Noch schärfer bezeugt dies Johannes indem Jesus zu ihm sagt: "Habe nicht ich euch, die Zwölfe, auserwählt? Und von euch ist einer ein Teufel (Joh 6:70). Er sprach aber von Judas, Simons Sohn, dem Iskariot; denn dieser sollte ihn überliefern, er, der einer von den Zwölfen war" (Joh 6:71).

In diesem Zusammenhang denken wir an das Wort von Paulus in Röm 11:28-33:

  • "Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen. Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Denn gleichwie auch ihr einst Gott nicht geglaubt, auf dass auch sie unter die Begnadigung gekommen seid durch den Unglauben dieser, also haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf dass auch sie unter die Begnadigung kommen. Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf dass er alle begnadige. O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes: Wie unausforschlich sind Seine Gerichte und unausspürbar Seine Wege". Überwältigt ist Paulus von der Herrlichkeit der Gerichtswege Gottes."

Die eben angeführten Worte der Treue und Barmherzigkeit Gottes sind im Blick auf die Juden und Israel geschrieben und schließen deshalb auch Judas ein; ebenso dürfen wir nicht vergessen, dass von der Gnadenfülle jenes ergreifenden Ausrufs Jesu vom Kreuz herab: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" mindestens "einige Brosamen auch unter den Tisch" für Judas fallen werden. Dies besonders dann, wenn wir im folgenden erkennen dürfen, wie nahe dem Herzen Jesu die Person des Judas gewesen ist. Damit wir aber diesen letzteren Gedanken sogleich richtig erfassen können, brauchen wir nur an die Herzensstellung des Vaters zum verlorenen Sohn zu denken.

Vielleicht die gewaltigste Darstellung der so schwer verständlichen Zusammenhänge in der Berufung und in dem Lose des Judas wird uns durch den Mund des Petrus in Apg 1:16 vor Augen geführt: "Brüder, es musste die Schrift erfüllt werden, welche der Heilige Geist durch den Mund Davids vorhergesagt hat über Judas, der denen, die Jesum griffen, ein Wegweiser geworden ist. Denn er war unter uns gezählt und hatte das Los dieses Dienstes empfangen".
Bedenken wir dabei, dass dieser Petrus nicht lange vorher Seinen Herrn mit Verfluchen und Schwören dreimal verleugnet hatte: "Ich kenne diesen Menschen nicht", wodurch er nach dem Wort Seines Meisters selbst: "Wer mich verleugnet vor den Menschen, den werde auch ich verleugnen vor meinem himmlischen Vater" sein Heil und sein Leben völlig verwirkt hatte, er aber erleben durfte, was es heißt:

  • "Die Barmherzigkeit rühmt sich wider das Gericht" (Jak 2:13).

Dieser Petrus spricht nun:

  1. Es musste die Schrift erfüllt werden,
  2. welche der Heilige Geist
  3. durch den Mund Davids
  4. vorhergesagt hat über Judas,
  5. der denen, die Jesus griffen, ein Wegweiser geworden ist.
  6. Er war unter uns gezählt
  7. und hatte das Los dieses Dienstes empfangen (des Apostelamtes, vgl. Apg 1:25).

Die ernsten Worte des Petrus werden wir bei der Beurteilung des tragischen Endes des Judas näher betrachten. Das erste Zeugnis: "Es musste die Schrift erfüllt werden" lässt uns verstummen und wehrt uns, auch nur einen Stein gegen Judas aufzuheben. Wie seltsam zart geht Gott mit diesen Dingen um. Denn niemand geringerer als der Heilige Geist ist es, der den Weg des Judas vorhergesagt hat. Dazu geschah es durch den Mund Davids, d.h. durch den Mund "des Mannes nach dem Herzen Gottes", des Geliebten – (denn David heißt der Geliebte). Müssen wir nicht staunen, wie die Heilige Schrift die ganze Judasfrage schon in ihren Anfängen wirklich heilig und zart berührt? Noch mehr aber wird uns diese Tatsache ergreifen, wenn wir im folgenden die göttliche Herzensstellung des Herrn Jesus zu den Taten des Judas und zu ihm selbst erschauen dürfen.

Bei jenem für den Herrn Jesus so bedeutsamen Erlebnis, als Maria die kostbare Narde über seinen Leib goss und das ganze Haus von deren Duft erfüllt ward, wurde offenbar, dass Judas vom Herrn Jesus mit der Verwaltung der Kasse betraut worden war, obwohl Jesus wusste, dass Judas ein Dieb sei. Und trotz des heuchlerischen Vorwandes des Judas, das Ausgießen dieser Narde sei eine Verschwendung, weil der Gegenwert für die Armen hätte Verwendung finden können, antwortete der Herr: "Erlaube ihr, diese Salbe auf den Tag meines Begräbnisses aufbewahrt zu haben". Welch eine überaus sanftmütige und liebliche Antwort: Wie können wir hier von unserem Herrn Jesus lernen, was es heißt: "Lasst eure Lindigkeit kundwerden allen Menschen..." auch einem Judas, er hat es vielleicht am nötigsten. Und: "Segnet die euch verfolgen! Tut wohl denen, die euch hassen!" "Alle eure Dinge lasst in Liebe geschehen". Die Liebe lässt sich nicht erbittern, sondern trägt alles, glaubt alles, hofft alles, rechnet das Böse nicht zu ... auch nicht in Bezug auf Judas. (1Kor 16:14 - 1Kor 13).

Weiter lauschen wir hinein in Jesu Herzensstellung zu Judas, die im Wort Gottes zart und sorgsam niedergelegt ist und in weiser Zurückhaltung zur Darstellung gebracht wird. "Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse wider mich aufgehoben" (Joh 13:18) lesen wir bei Johannes und zwar mit dem Vermerk: "Auf dass die Schrift erfüllt würde". Sobald wir uns die Mühe nehmen, die betreffende Schriftstelle des alten Testaments aufzuschlagen, tritt das erste, unglaublich anmutende Zeugnis einer unauflösbaren Jesusliebe zu Judas und noch viel mehr der daraus erwachsende tiefe und unsagbare Schmerz Jesu vor unser geistiges Auge. Denn wir entdecken, dass das von Jesu angeführte Wort nur den zweiten Teil des Wortes in Ps 41:9 darstellt. Der erste, grundlegende Teil lautet: "Selbst der Mann meines Friedens, auf den ich vertraute, der mein Brot aß, hat die Ferse wider mich erhoben". Wenn wir wissen wollen, was es für Jesus heißt: "der Mann meines Friedens", dann brauchen wir uns nur zu fragen: Wer ist der Mann unseres Friedens, d.h. wer ist der, ohne dessen Liebe wir nie zur Stillung unseres tiefsten Sehnens gelangen können? Für uns ist es Jesus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und dessen Herzensfrieden ist dem nach abhängig von der Gegenliebe und Einstellung des Judas, des "Sohnes des Verlorenseins". Gerade weil Jesus von dessen abgrundtiefer Verlorenheit weiß, brennt die noch tiefere Retterliebe Jesu aufs wundersamste für seinen Freund. Für Jesus ist gerade Judas der Mann seines Friedens, auf den Er vertraute, der sein Brot aß, Tischgemeinschaft mit ihm pflog. Für den Herrn ist dies die brennendste Wunde, dass "selbst der Mann seines Friedens" es ist, der die Ferse wider ihn aufhebt.
Was für ein Gewicht liegt doch in diesem Zusammenhang in dem Wörtchen "Selbst"! Das bedeutet doch, dass der Herr diese verwerfliche Handlungsweise von Judas zuletzt hätte erwarten müssen. Auch die übrigen Jünger waren dieser Meinung. Denn selbst als Jesus deutlich bezeugt hatte: "Jener ist es, welchem ich den Bissen, wenn ich ihn eingetaucht habe, geben werde" (Joh 13:26), ließen sie es sich nicht in den Sinn kommen, dass Judas dies tun könnte. Jesus gibt den Bissen dem Judas. Aber keiner verstand, dass Judas ihn verraten sollte. Sie meinten, Jesus rede mit ihm über die Besorgung geringfügiger Dinge in Geldsachen (Joh 13:29). Denn gerade in dieser Handlung des Eintauchens und Darreichens des Bissens bekundete Jesus vor allen Anwesenden, dass der Empfänger seinem Herzen am nächsten stehe und sein vertrautester Freund sei. Mit dieser Art der schonenden Bezeichnung seines Verräters bekundet Jesus gleichzeitig seine unveränderliche Herzensgüte zu seinem gefährdetsten Freunde.

Wenn Judas zum Zeichen des Verrates die Zärtlichkeit des Küssens wählte, so dürfte einleuchten, dass er nicht ein auffallendes, aussergewöhnliches Gebaren aussuchte, sondern einen unauffällige Gepflogenheit. Dies dürfte einen ungeahnten Duft über das verborgenste Band der Jesusliebe zu Judas breiten. Sowohl Matthäus als auch Markus berichten, dass Judas den Herrn zärtlich küsste. Er ist wirklich der Mann des Friedens unseres Herrn. Welch einen tiefen Schmerz es für diesen liebenden Herrn bedeutet, dass gerade dieser Mann zum "Sohn des Verlorenseins" werden musste, können wir nur ahnen, wenn uns selbst ein vielgeliebter Mensch geschmäht und Herzeleid bereitet hat.
In tiefer Erschütterung des Geistes und des Herzens beantwortet der Herr dieses Küssen des Judas mit dem Ausspruch: "Freund, wozu bist Du hergekommen?" Während Jesus in Lk 12:4 auch den Judas mit zu seinen "geliebten Freunden" zählt, gebraucht Er hier einen anderen Ausdruck für das Wort "Freund", durch welchen eine heilige Distanz zwischen Ihm und seinem Verräter bekundet wird – wohl deshalb, weil Judas das Zeichen zärtlicher Freundschaft, den Kuss, in diesem Moment aufs gröbste missbraucht. Dieses hier gebrauchte Wort für "Freund" müsste mit Geselle, Gefährte oder wohl am besten mit "Kamerad" übersetzt werden. Im ganzen Neuen Testament begegnet uns dieser Ausdruck nur dreimal, und jedes Mal distanziert sich der sprechende Herr auf edle Weise von seinem Partner:

  1. Mt 20:13: Der gütige Weinbergbesitzer von seinem besten Arbeiter.
  2. Mt 22:12: Der König vom Gast ohne Hochzeitskleid.
  3. Mt 26:50: Jesus von seinem geliebten Freund, der Ihn verrät.

Aber auch mit der Antwort "Kamerad" bezeugt Jesus deutlich, dass Er in besonderer Weise mit ihm verbunden ist. Bemerkenswerterweise sagt Er zum "wohlmeinenden" Petrus: "Satan, gehe hinter mich", zu Judas aber, in welchen Satan gefahren war, "Kamerad". Dabei gilt das Psalmwort gewiss zuerst von Christus:

  • Ps 17:3 - "Mein Gedanke geht nicht weiter als mein Mund"!

Wenn Jesus hier den Judas Kamerad nennt, so tut Er es von ganzem Herzen. Nach der Verheißung in 1Mo 3:15 stünde es Christus als dem "Weibessamen" zu, seine Ferse zu erheben, um der Schlange den Kopf zu zermalmen. Wenn nun aber der Mann Seines Friedens, in den nun sogar der Satan gefahren war, Ihm hierin zuvorkommen und diese Rolle vertauschen will, so lässt es der Herr diesem einen zu, "kann" er es nicht verwehren. Wunderbar in unseren Augen ist es, wenn im Alten Testament solche Perlen verborgen liegen, wie wir eine in Ps 41 gefunden haben, und zwar auf einen direkten Hinweis des NT hin: Die Weisheit Gottes hat es demnach so geordnet, dass im "Gesetz", für erleuchtete Augen, Gottes Liebe und Langmut noch kostbarer erstrahlen als im Evangelium. Denn Gott hat seine Weisheit in die Schatten des AT verborgen. (Joh 13:18 / Pred 7:12 / Anm. Elberf. vgl. mit Kol 2:17).

Noch ergreifendere Zeugnisse von Jesu Herzensstellung zu Judas enthüllt uns der Geist Gottes in Ps 55, in dessen ersten Versen die Seelenkämpfe Jesu in Gethsemane eindrücklich geschildert werden. Dann – von Vers 12 an – richtet sich die Klage wieder auf die eine Person (von der es schon hieß: "Und wenn einer kommt, um mich zu sehen, so redet er Falschheit, sein Herz sammelt sich Unheil ..." (Ps 41:6) auf Judas nämlich: "Denn nicht ein Feind ist es, der mich höhnt, sonst würde ich es ertragen". Von Jesus aus gesehen ist Judas auch an dieser Stelle nicht sein Feind, sondern sein Freund, sein Kamerad, sein Vertrauter. Dass gerade dieser gegen Ihn auftritt und Ihn höhnt, ist dermaßen grausam für Jesus, dass dies sogar unerträglich für Ihn ist. Solange Seine Gegner ihn höhnten, ertrug Er es. "Der Hohn hat mein Herz gebrochen" lesen wir in Ps. 69:20 und erhalten gleichzeitig Einblick in die Seelennot Jesu als Er zu Gott schrie: "Du, Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande ... ich bin ganz elend, und ich habe auf Mitleiden gewartet und da war keines, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden". Statt dessen durchbohrte der Mann Seines Friedens Sein Herz mit tödlichem Hohn.

Und nochmals legt der Geist Gottes den Nachdruck auf die Schwere dieses bitteren Erlebens: "Nicht mein Hasser ist es, der wider mich gross getan hat, sonst würde ich mich vor ihm verbergen" (Ps 55:12). Welch grelles Licht fällt hier auf beide, auf Jesus, dessen Treue unverbrüchlich bleibt, und auf Judas, der in Silberliebe verblendet seinen wunderbarsten Freund verrät. Die Worte "Sonst würde ich mich vor ihm verbergen" entsprechen den zuerst geklagten "Sonst würde ich es ertragen".
Tritt da nicht ganz deutlich das sonderbare Verhalten Jesu vor unsere Augen: Soundso oft lesen wir von ihm, dass er sich denen, die Ihn greifen wollten, entzog und sich vor ihnen verbarg ... warum? Es waren wirklich Seine Hasser. Zu der Stunde aber, in welcher dieser eine zum Anführer und Wegweiser derer geworden war, die ihn greifen wollten, entzog und verbarg Er sich zum ersten Male nicht vor seinen Häschern. Jesus tat jetzt sogar genau das Gegenteil von dem, was Er sonst allen anderen gegenüber tat – Er fragte sie: "Wen sucht ihr?" Und als sie geantwortet hatten: "Jesus von Nazareth" sprach Er: "Ich bin's und lasst diese gehen". So wurde die Schrift aufs wunderbarste erfüllt: Da Judas weder Sein Feind noch Sein Hasser war, sondern der Mann Seines Friedens, ließ Jesus das Bitterste über sich ergehen. Ihm wollte und konnte er nicht "nein" sagen. Jesus lässt sich von ihm zärtlich und zu wiederholten Malen küssen, obwohl er Ihn damit verrät, und sagt ihm mit brechendem Herzen: "Kamerad, wozu bist du hergekommen? Küssend verrätst du des Menschen Sohn?" Auch ein Wort aus Salomos Sprüchen wird hier auf die erschütterndste Weise erfüllt: "Treu sind die Wunden dessen, der liebt, aber überreichlich des Hassers Küsse". In sich selbst ist Judas, wie wir alle es waren: "Verhasst und einander hassend". Von Jesu Herzen aus aber war und blieb er der innigste geliebte Freund, zu dessen Gunsten gerade und in erster Linie dies wunderbare Wort gilt: "Treu sind die Wunden dessen, der liebt". Jesu Wunden wurden durch Judas am tiefsten geschlagen, aber o Wunder der Barmherzigkeit: Für das Heil dieses Mannes bluten sie ebenso tief und treu, weil der Verwundete den Schlagenden liebt.

Zwei kostbare Vorbilder für diese große Wahrheit haben wir in Samuel und David gegenüber dem dahingegebenen Saul: Samuel trauert um Saul, obwohl er für ihn bis zum Tage seines Todes nie mehr sah (1Sam 15:35) und David gedachte liebend und in tiefer Wehmut des gefallenen Saul in seinem Klagelied: "Deine Zierde, Israel, ist erschlagen auf deinen Höhen; wie sind die Helden gefallen – Saul und Jonathan, die Geliebten und Holdseligen in ihrem Leben, sind auch in ihrem Tode nicht getrennt" (2Sam 1:19).

Dass das soeben Gesagte nicht einem bloßen Beschönigungsversuch gleichkommt, darüber belehren uns die nun folgenden, zur Anbetung zwingenden Worte aus dem angeführten Ps 55 (denn nicht ein Feind ist es, sonst würde ich es ertragen; nicht mein Hasser, sonst würde ich mich vor ihm verbergen): "Sondern du, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter, die wir trauten Umgang miteinander pflogen, ins Haus Gottes wandelten mit der Menge".

"Sondern du!" Wie eindringlich geben diese beiden Wörter wiederum Zeugnis vom großen Schmerze Jesu, weil gerade diese Person grosstut wider ihn. Die Masse der Feinde und Hasser Jesu, die ja unzählbar ist, fällt kaum mehr ins Gewicht gegenüber diesem großen, für den Herrn so tragischen "Sondern du". Welch eigenartiges Licht fällt hieraus auf jene Worte Gottes, wo der Herr auf diese Dinge prophetisch hinweist: "Er (der Weibessame, Christus) wird dir (der Schlange, dem Satan) den Kopf zermalmen und Du, Du wirst ihm die Ferse zermalmen ...". (1Mo 3:15).

"Ein Mensch meinesgleichen". Im Bilde Gottes wurde der Mensch geschaffen; in dieses nun verzerrte Bild stieg der Sohn Gottes hinab als Weibessame, in die Gleichgestalt des Fleisches der Sünde (Röm 8:3). Nicht nur wurde Er dadurch, noch mehr als Paulus, "den Juden ein Jude, den Griechen ein Grieche, den Sündern zur Sünde und allen alles" (1Kor 920–22), sondern auch dem Judas ein Judas, ein ans Holz Gehängter (Gal 2:13). Waren nicht beide dem Fleische nach Söhne Abrahams, Söhne Judas? Waren nicht beide die Verachtetsten und Letzten um der Sünde willen, wenn auch jeder auf seine Art? Musste nicht an beiden auf besonders tragische Weise die Schrift erfüllt werden?

"Mein Freund und Vertrauter". Diese Bezeichnung würden wir vielleicht für den Jünger Johannes passend finden. Die Schrift aber bezieht sie auf den, der von uns aus beurteilt, überhaupt nicht dafür in Frage käme, auf Judas. Die Überlassung der Kasse, die Darreichung des Bissens an Judas und das zärtliche Küssen waren ja nur äussere Zeichen des Vertrautseins, wie es zwischen Jesus und Judas zutiefst bestand. Bedenken wir, dass es der Heilige Geist und der Geist Christi ist, die hier Zeugnis geben von dieser unfassbaren Herzensstellung Jesu zu Judas. Aber dies geht noch weiter: "Die wir trauten Umgang miteinander pflogen". Die französische Übersetzung beleuchtet diese Stelle in noch zarterem Lichte: "Ensemble nous vivions dans une douce intimité". Wie gut ist es, dass diese Dinge im Wort Gottes so verborgen und intim gehalten werden, denn sie sind wirklich Perlen der Schrift, vorläufig noch ruhend auf dem Meeresgrund der Tiefe der Liebe Gottes,. Sie gehören zu jenen Dingen, von denen Paulus schreibt: "Was kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und in keines Menschen Herz gekommen ist, das hat Gott bereitet denen, die Ihn lieben, uns aber hat er es geoffenbart durch den Geist". Im NT gibt es zwei Stellen, die davon reden, dass Jesus im Geist erschüttert worden ist. Das erste Mal ist dies der Fall, als er von den weinenden Freunden umgeben an der Gruft des geliebten Lazarus steht. Zum zweiten Mal wird Jesus im Geist erschüttert, als er nach der Fußwaschung seinen Jüngern bezeugen muss: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von euch wird mich überliefern". Wir verstehen nun, dass auch diese Erschütterung im Geiste einem tiefen Herzensbeben der Liebe gleichkommt, denn es ist ja der gleiche Geist, der mit der ganzen Schöpfung seufzt und dies mit unaussprechlichen Seufzern für die Geliebten tut. Wenn wir im Zusammenhang von Ps 35 die Verse 8 und 14 besonders betrachten und auf Judas beziehen, so finden wir in letzterem: "Als wäre er mir ein Freund, ein Bruder gewesen, so bin ich einhergegangen; wie leidtragend um die Mutter habe ich mich trauernd nieder gebeugt". – So ergreifend litt Jesus um Judas. Dazu beachten wir noch Spr 17: 17: "Der Freund liebt zu aller Zeit, und als Bruder für die Drangsal wird er geboren". So wunderbar ist es um die Herzensstellung Jesu zu Judas bestellt.

"Die wir zum Hause Gottes wandelten mit der Menge". Wiederum sehen wir den Herrn mit Judas besonders verbunden, denn alle anderen gehören zur Menge. Gemeinsam ziehen sie dem einen Ziel zu: Zum Hause Gottes, gewiss in froher, erhobener Stimmung. Was dies für Jesus bedeutet: Zum Hause seines Vaters ziehen zu dürfen, ersehen wir aus folgender Tatsache: Schon als Zwölfjähriger ist er dort mehr zu Hause als bei Joseph und Maria. "Der Eifer um Dein Haus hat mich verzehrt", wird im AT von Ihm bezeugt. Sogar im Tode wird Seine Verwobenheit mit dem Tempel offenbar, indem der Vorhang im Tempel zerriss, als Er verschied. Wie oft wollte Jesus mit Seinen Jüngern zum Hause Gottes, zum Berg Zion: Judas war Sein vertrauter, besonderer Begleiter, mit dem Er diese Herzensfreude teilte. Auch hier trauert der Heilige Geist beim Fall eines Bedrängers, indem Er sich an die lieblichen, kostbaren Stunden früheren Erlebens mit dem Betreffenden zurück erinnert, anstatt sich durch die schweren Tatsachen der Gegenwart verbittern zu lassen.

Wir kehren zurück zu den sich Schlag auf Schlag folgenden Ereignissen in der Geschichte des Verrates: Nachdem die Hohenpriester versammelt waren, um zu beraten, wie sie Jesus mit List ergreifen könnten, da sie es aus Frucht vor dem Volke nicht öffentlich zu tun wagten, kommt Judas mit dem Vorschlag zu ihnen, Ihn gegen Bezahlung in ihre Hände zu überliefern. Dann kommt das Abendmahl mit den Zwölfen: "Einer von euch wird mich überliefern – der mit mir die Hand in die Schüssel taucht, dieser ist es – wehe dem Menschen, durch welchen der Sohn des Menschen überliefert wird; es wäre Ihm (dem Sohn des Menschen) leichter, wenn er (Judas) nicht geboren wäre" – sind hier die ersten Worte Jesu, dann geht Er unbeirrt dazu über, das Brot zu segnen, es ihnen zu geben mit dem Wort: "Nehmet, esset, dies ist mein Leib"; und nachdem Er für den Kelch gedankt hatte, gab Er ihnen denselben und sprach "Trinket alle daraus" (Mt 26:27 / Mk 14:23). Warum betonte Er dies? Wohl gerade um anzudeuten, dass das Blut der Versöhnung auch für Judas gegeben sei. Dass Judas bis zum Ende des Abendmahles dabei war, geht aus Lk 22:14-22 deutlich hervor.

Nachdem Judas hinausgegangen war, sagt Jesus nicht etwa noch Erklärendes oder gar Nachteiliges über Judas (Joh 13), sondern in wunderbarer Erhabenheit erklärt Er: "Jetzt ist des Menschen Sohn verherrlicht, und Gott ist verherrlicht in Ihm, so wird auch Gott ihn verherrlichen in Sich selbst, und alsbald wird Er ihn verherrlichen". Nicht nur dieses fünfmalige Verherrlichtwerden verkündet Jesus im Anschluss an die ersten Schritte des Verrates durch Judas, sondern es folgen weiter die wunderbaren Worte Jesu durch die Kapitel 13–17 und schließen dort mit der Herrlichkeit, die Er beim Vater hatte vor Grundlegung der Welt. Wie erhaben steht Jesus über Seinem Leid!

Erst in Joh 18 erscheint Judas wieder und zwar mit der Schar zum Verrat. Und hier im Evangelium Johannes wird auf besondere Weise offenbar, dass Sich Jesus, entgegen Seiner Gepflogenheit, nicht nur einer Gefangennahme entzieht oder sich verbirgt, sonder Sich selbst ihnen auf solche majestätische Art zur Verfügung stellt, dass die Schar zurückweicht und zu Boden fällt. Ausdrücklich aber heißt es gerade während dieses Geschehens: "Aber auch Judas, der Ihn überlieferte, stand bei ihnen", um auf den verborgenen Zusammenhang mit Ps. 55:12 hinzuweisen.

Bevor wir die weitere Entwicklung der Ereignisse verfolgen wollen, bleiben wir bei einigen Aussprüchen Jesu stehen, in denen Er schwerwiegende Gerichtsworte über Judas kundwerden lässt. Da fällt gerade an der ersten dieser Stellen auf, (Joh 6:70-71), dass mit der Bezeichnung des Judas als einen Teufel (Diabolos, Dazwischenwerfer) der Herr Jesus mit besonderem Nachdruck betont: "Habe nicht Ich euch, die Zwölfe, auserwählt?" Will Jesus uns damit nicht sagen, dass trotz der verwerflichen Einstellung des Judas die Auserwählung durch Ihn besteht und mehr als nur einen Hoffnungsschimmer für eine zukünftige Zurechtbringung dieses Zwölften in sich birgt? Denn ein Berufener sein zu dürfen, ist schon viel; zu den Auserwählten zu gehören, aber ist weit mehr; denn: Viele sind berufen, wenige aber auserwählt. Oder sollte Judas der einzige Israelit sein, von dem das Wort in Röm 11:28 nicht gelten dürfte: „Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde, um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte, um der Väter willen“? Und wenn die Gnadengaben und die Berufung Gottes unbereubar sind, wie viel mehr muss es die Auswahl sein!

Im Anschluss an die Fußwaschung betont Jesus, dass seine Jünger ganz rein seien; aber nicht alle, nämlich der nicht, der Ihn überlieferte (Joh 13). Auch als Er sie (einige Verse später) glückselig nennt, sofern sie Seinem Beispiel folgend einander die Füße waschen, macht der Herr wieder die Beschränkung: „Ich rede nicht von euch allen“, fährt aber gleich wieder fort: „Ich weiß, welche ich auserwählt habe“, nämlich die Zwölf. Auch bei diesen Abstrichen an Judas erinnert uns Jesus immer wieder an dessen Auserwählung. Zudem folgt gerade hier der wunderbare Hinweise auf die vorn zur Darstellung gebrachten verborgenen Zusammenhänge. (Ps 41:9 / Ps 55).

Vielleicht die härteste Rede in Bezug auf Judas lesen wir in Joh 17:12: „Und keiner von ihnen ist verloren, als nur der Sohn des Verlorenseins“, Warum? „Auf dass die Schrift erfüllt würde“ lesen wir immer wieder betreffend des Geschehens mit Judas. Nicht weil Jesus den Judas nicht auch hätte vor dem Schlimmsten bewahren und behüten können. Jesus betete: „Als ich bei ihnen war, behütete ich sie“. Was wäre aus Petrus geworden, wenn ihm der Herr nicht noch vor der Überlieferung ans Kreuz Sein freundliches Angesicht zugewandt hätte? Was ist zu sagen von diesem Sohn des Verlorenseins? Mancherlei von der Güte dessen, vor dem kein Ding unmöglich ist, gerade dann, wenn es gilt, Verlorenes zu suchen bis Er es findet und bereit ist, das größte Fest zu feiern, wenn der verlorene Sohn wieder gefunden und der Tote wieder lebendig gemacht wurde.

Nach Joh 13:1 gehörte auch Judas zu den „Seinigen“, die in der Welt waren und die Er liebte bis ans Ende. Dies dürfte zu denken geben. Wie ist die Einstellung des Heiligen Geistes dazu, wenn ein Feind ins Verderben gestürzt wird? „Freue dich nicht über den Fall deines Feindes, und dein Herz frohlocke nicht über seinen Sturz; damit nicht Jehova es sehe und es böse sei in Seinen Augen“ (Spr 24:17-18), sondern vielmehr: „Menschensohn, stimme ein Klagelied an“, (Hes 28:11 / 2Sam 1:17+23), denn auch alle Feinde sind Geliebte. Und: „Wenn dein Hasser hungert, so speise ihn mit Brot, und wenn ihn dürstet, so tränke ihn mit Wasser; denn glühende Kohlen (als Entsündigungsmittel) wirst du auf sein Haupt häufen, und Jehova wird dir vergelten“ (Spr 25:21+22 / Röm 12: 20).
Wir kommen uns sehr fromm vor, wenn wir beten: „Herr, segne, was sich segnen lässt“ und vergessen dabei, dass Jesus sagt: „ Segnet, die euch fluchen“. Und wenn wir dieses wissen und tun, so vergessen wir, dass, wenn wir die Flucher segnen, diese auch wirklich gesegnet sind auf göttliche Art. Darüber hinaus wird uns vom Herrn selbst noch vergolten, und nicht zuletzt dadurch, dass Er unsere Hasser mit uns in Frieden sein lässt (Spr. 16, 7).

Eine nicht geringe Bestätigung für die Hoffnung, die sogar für diesen einen, der verloren ist, besteht, findet sich in der Tatsache, dass Jesus in den drei Gleichnissen von einem verlorenen Schaf, von einem verlorenen Groschen und von einem verlorenen Sohn genau das gleiche Wort für „verloren“ gebraucht wie hier, wo bezeugt wird, dass nur der einen verloren sei: Judas! Auch er wird gesucht werden, bis er gefunden ist; auch auf ihn wartet der Vater und sieht ihn mit erhobenen Augen von fern wieder nach Hause kommen. Hoffentlich muss der Herr dann nicht auch zu uns sagen: „Es geziemte sich aber, fröhlich zu sein und sich zu freuen ...!“ An unserer Einstellung zu Judas und an unserer Beurteilung seiner Person haben wir Gelegenheit, unsere eigene Herzensstellung in Bezug auf das Maß göttlicher Barmherzigkeit und wahrhaftiger Liebe aufs trefflichste kennen zu lernen. Denn Gott hat Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfern. Und nur insofern ein Opfer ein Ausfluss von Liebe und Barmherzigkeit ist, kann es von Gott als solches anerkannt und gebraucht werden. Auch wenn wir unsere Leiber als heilige, lebendige, Gott wohlgefällige Schlachtopfer darbringen, so ist dies nur möglich „durch Barmherzigkeit Gottes“ (Röm 12:1). War nicht gerade der bittere Vorwurf des älteren Sohnes gegen den gütigen Vater: „Siehe so viele Jahre diene ich Dir“ gleichzeitig ein Armutszeugnis und eine Anklage gegen sich selbst? Denn mit seinen eigenen Worten muss man ihn fragen: So viele Jahre warst du beim Vater und hast das tiefste Wesen Seines Herzens nicht erkannt?
An seiner Einstellung zum verlorenen Bruder konnte der bis jetzt tadellose Sohn seine verborgene Verkehrtheit und Verwerflichkeit erkennen und musste vor der unbegreiflichen Barmherzigkeit und Güte seines Vaters verstummen. Es ist gut, wenn wir uns grundsätzlich merken, dass alles, was in der Schrift als „verloren“ bezeichnet wird, die suchende und wartende Liebe Gottes über sich hat und zwar so sehr, dass für die Geretteten große Gefahr zu einer Eifersucht besteht, die nicht das Wohlgefallen Gottes findet.

Wir kehren zurück zur Beobachtung der Ereignisse, wie sie sich vom Verrat in Gethsemane an weiter abwickelten. Wir lesen deshalb: Als Judas, der Ihn überliefert hatte, sah, dass Er verurteilt wurde, gereute es ihn, und er brachte die 30 Silberlinge den Hohenpriestern und Ältesten zurück und sagte: „Ich habe gesündigt, indem ich schuldloses Blut überliefert habe“. Sie aber sagten: „Was geht es uns an? Siehe du zu“. Und er warf die Silberlinge in den Tempel und machte sich davon und ging hin und erhängte sich (Mt 27:3).

Hier tritt nun im Leben des Judas eine meist unbeachtete, aber tiefgehende erste Wendung zum Guten in Sicht und dies in drei- oder vierfacher Weise:

  1. Da gereute es ihn.
  2. Er brachte zurück.
  3. Er bekannte. „Ich habe gesündigt, indem ich unschuldig Blut überliefert habe“.
  4. Er erhängte sich.

Da gereute es ihn! Weil er sah, dass Jesus verurteilt wurde! Das hat er demnach nicht gedacht und nicht gewollt. Seine Schlussfolgerung scheint eher die gewesen zu sein: Wenn ich die 30 Silberlinge bekomme, so habe ich was ich will; die Hohenpriester sollen dann selbst sehen, wie sie ihn greifen – es wird ihnen, wie bisher immer, unmöglich sein. Hätte er gewusst, dass er es ist, von dem geschrieben steht: „Nicht mein Feind ist es, der grosstut wider mich, sonst würde ich mich vor ihm verbergen, sondern du, mein Freund und mein Vertrauter“, so hätte er nicht so handeln können. „Wenn du es bist, der meine Häscher anführt, dann lasse ich mich greifen und überliefern“, war Jesu Einstellung. Gleichzeitig war ja auch seine Stunde gekommen.
Und gerade solche Überlegungen mussten sich ihm aufdrängen, denn warum ließ sich Jesu gerade jetzt greifen, wo er, Judas, die Ursache war? Und nun tritt das Wunderbare ein: Reue aus tiefster Erschütterung des Herzens, wie die sofort in Erscheinung tretenden Handlungen und Worte beweisen. Wer will bezweifeln, dass solche Reue zu jenen gehört, „die niemand gereut“. Die Betrübnis Gottes gemäß bewirkt eine nie zu bereuende Buße zur Rettung“ (2Kor 7:10). Sind nicht sämtliche Auswirkungen dieser von Gott gewirkten Betrübnis, wie Paulus weiter schreibt, bei Judas vorhanden? (Und zwar auch mit viel Fleiß oder Rührigkeit). 2Kor 7:11:

„Sogar Verantwortung“ - Judas will alles wieder gutmachen.
„Sogar Unwillen “- den Judas gegen sich empfand.
„Sogar Furcht“ - die Judas zum Sündenbekenntnis trieb.
„Sogar Eifer“ - der ihn dies alles gründlich tun hieß.
„Sogar Vergeltung“ - die Judas an sich selbst vollzog.

Liegt nicht in der Reue des Judas ein Muster göttlicher Betrübnis vor? Ich habe gesündigt, indem ich unschuldig Blut überliefert:

Ein klares Sündenbekenntnis gegen sich selbst;
Ein klares Bekenntnis für Jesu Unschuld!

Ob hier nicht auch Gottes Wort gelten muss: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Gott treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ Und ist es nicht sonderbar, oder besser wunderbar, dass der erste Zeuge im NT für Jesu unschuldig Blut gerade Judas ist? Und als zweiten Zeugen hierfür hat Gott den Heiden Pilatus gewählt, welcher spricht: „Ich bin unschuldig am Blute dieses Gerechten; ich finde keine Schuld an ihm“.
Von diesen beiden eigenartigen Zeugen ist Judas der größere Sünder (Joh 19:11), darf aber als erster die Unschuld Jesu beteuern und zwar vor denen, die ihm die 30 Silberlinge ausgehändigt hatten und Jesu erbittertste Feinde waren. In dieser wichtigen Beziehung hat Gott den Letzten, Judas, zum Ersten werden lassen. Er brachte die 30 Silberlinge zurück. Judas bekennt und bereut nicht nur seine Sünde, sonder er lässt sie auch, macht wieder gut, soviel er kann. Und ging hin und erhängte sich.

„Jetzt fügt er zu den anderen Übeltaten noch Selbstmord hinzu“, denken oder sagen wir beim Lesen dieses Berichtes und vergessen dabei, dass Gott das Herz ansieht und nicht das Sichtbare. Hat nicht Judas von den Zwölfen den schwersten Weg gehen müssen, nämlich den Weg des verlorenen Sohnes? Warum hat Jesus nicht auch für ihn Fürbitte getan wie für Petrus? Die Antwort haben wir schon weiter oben geben und verstehen dürfen: Weil Judas dem Herzen Jesu am nächsten stand. Den schwersten Weg ist ohne Zweifel der gegangen, der dem Herzen Gottes am nächsten stand: Der Sohn Jesus Christus im Gehorsam; den zweit schwersten Weg musst wohl der nächste in dieser Reihenfolge gehen, wenn auch weitgehend aus eigener Schuld.

Nicht unbeachtet dürfen wir die Tatsache lassen, dass die unter Eid und Verwünschung erfolgte Verleugnung des Petrus bald nach der Überlieferung durch Judas erfolgte und ferner, dass die Schrift – kaum von der Reue des Petrus geredet (Mt 26:75), – schon im drittfolgenden Vers über Judas aussagt: „Da gereute es ihn“. Für beide, den Ersten und den Letzten unter den Jüngern, war dies nur der Anfang ihrer Zurechtbringung durch Gottes Gnade. Den Petrus hat Jesus auch erst nach seiner Auferstehung bei Kohlenfeuer und Fisch am See Genezareth zurecht gebracht und wiedereingesetzt. Mir fällt es nicht schwer, für Judas ein noch glühenderes Kohlenfeuer mit zubereitetem Fisch an einem noch besseren See Genezareth zu sehen, wo die gleiche Liebe vielleicht siebenmal fragt: Hast du mich lieb?
Was wollen wir antworten, die wir den Selbstmord des Judas als solchen noch dick zu unterstreichen bemüht sind? Wenn die göttliche Beurteilung z.B. lauten würde: Er hat sich gehängt, ja, es war die letzte Konsequenz vom Unwillen und Ekel gegen sich selbst, von einer völligen Selbstaufgabe; mit einem Wort: Er hat sich selbst gerichtet! Nicht nur in seinen Gedanken, sondern auch buchstäblich. Wer sich aber selbst verurteilt und richtet, kommt nicht ins Gericht.

Und nun tritt vor unser inneres Auge ein Schauspiel, das uns zur Anbetung zwingt, um so mehr, als dessen Tatsachen kaum je beachtet wurden. Jesus wusste gewiss um das Ende seines verlorenen Sohnes, den er aber auch unvermindert liebte bis ans Ende. Im Geiste sieht er den Verlorenen hilflos an einem Fluchholz hängen – und was geschieht? Jesus lässt sich selbst auch ans Fluchholz hängen und wird so selbst dem Verfluchten und Gehängten ein Verfluchter und Gehängter. Zur gleichen Zeit hängen nun diese beiden Freunde aus dem Stamm Juda, von allen geschmäht, jeder am Fluchholz. Wahrhaft eine überwältigende Schau der Unerforschlichkeit des Gerichtes Gottes – der eine um einer eigenen Schuld, der andere um der seiner Freunde willen. Die örtliche Trennung macht diese Hochspannung der Liebe bis in den Tod noch tragischer. Aber das Werk zur Errettung, ja Rechtfertigung des Verlorenen ist aufs anbetungswürdigste vollbracht. Hier gilt auch jenes Wort für diesen Einzelfall: „Niemand hat größere Liebe als der, der sein Leben lässt für seine Freunde“. In seinem Rückblick auf „das Los des Dienstes“ des Judas beschreibt Petrus in Apg 1 das furchtbare Ende seines einstigen Mitjüngers mit den Worten:

  • „... und ist, kopfüber gestürzt, mitten entzwei geborsten und alle seine Eingeweide sind ausgeschüttet worden“.

Ob nun bildlich oder wörtlich aufgefasst, so erscheint beides als grausames Gericht. Sobald wir aber näher hinsehen und hinein horchen dürfen, finden wir ausgerechnet hier im Verborgenen Geheimnisse der Barmherzigkeit. Denn fast alle Übersetzer, auch die sorgfältigsten, haben sich erlaubt, nur an dieser Stelle das griechische „Ta splangchna“ mit „Eingeweide“ zu übersetzen; während sie es an allen anderen Orten mit „Innerste Gefühle“, „Das Innerste“, mit „Herz“ oder „herzlich“ übersetzen. Nun sind nach dem Gesamtzeugnis der Schrift die Eingeweide tatsächlich das Bild für „die innersten Gefühle der Barmherzigkeit, für die zartesten Regungen des Mitgefühls“.

Der Heilige Geist schämt sich nicht, von „den Eingeweiden der Barmherzigkeit Gottes“ zu reden, vom „Erbarmen der Eingeweide“ und „Wie ich mich nach euch allen sehne mit den Eingeweiden Jesu Christi“ usw. (Lk 1:78 / Phil 2:16 / Phil 1:8) Wir nehmen es keinem Übersetzer übel, der es nicht wagte, diese bloßstellende Wahrheit zu sagen; in diesem Zusammenhang aber erweise sich die Wortwahl des Geistes Gottes als vollkommen. Denn wenn auch die Eingeweide des Judas buchstäblich ausgeschüttet wurden, so zeigt der Geist gleichzeitig das Verborgene wundersam an, dass nämlich die erwachenden und aufbrechenden innersten Mitgefühle des Erbarmens des Judas dermaßen in Wallung gerieten, dass sie das natürliche Fassungsvermögen durchbrachen und ausgeschüttet wurden. Vielleicht die beste Antwort auf die brennende Frage, warum Judas dieses unbarmherzige Gericht und scheußliche Ende nicht erspart werden konnten von Seiten der Liebe Gottes, gibt uns ausgerechnet ein anderes, vorerst unverständlich und unbarmherzig erscheinendes Gerichtswort, welches der Apostel Paulus zur Anwendung bringt, nämlich:

  • “Einen solchen dem Satan zu überliefern zum Verderben des Fleisches, auf dass sein Geist errettet werde am Tage Jesu Christi“ (1Kor 5:5).

Wir fragten uns wohl schon, wie sich ein solches Wort in der Praxis ausgewirkt haben mag. Das furchtbare Ende des Judas nach dem Fleische, in den ja der Satan gefahren war, der also auf diese Weise dem Satan überliefert war, vermag uns hier wohl zur Genüge Anschauung zu bieten. Wie viel mehr wird aber auch hier der Zweck des grauenhaften Verderbens des Fleisches der sein, dass auch sein Geist gerettet werde am Tage Jesu Christi. Bekanntlich finden wir in Ps 22 weitere Einzelheiten über die Notlage und die Herzenswehen Jesu am Kreuz. Kein Wunder, wenn auch hier die Eingeweide wieder Erwähnung finden: In Vers 14 (Luther Vers 15) lesen wir:

  • „Wie Wasser bin ich hingeschüttet und alle meine Gebeine haben sich zertrennt; wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide".

Es sind hochheilige Dinge, die wir hier berühren, und gerade in diesen Stücken sehen wir staunend, wie sich Jesus am Kreuz bis ins Kleinste und Innerste dem Judas ähnlich machen ließ. Wenn Sein Herz inmitten Seiner Eingeweide zerschmolz, so heißt dies: Das göttliche Leben in Jesu hat sich ganz in Barmherzigkeit und Mitgefühl aufgelöst, um sich auf diesem Wege denen mitteilen zu können, deren Eingeweide und Herz geborsten und zerbrochen sind.

Wie wunderbar und lebendig auch die Sachwerte im Wort Gottes ausgewählt und mit tiefer Bedeutung gefüllt werden, zeigen uns die 30 Silberlinge. Gewaltige Dinge sind hier aufs Unscheinbarste zur Darstellung gebracht. Bekanntlich hat „Silber“ im Worte Gottes allgemein die Bedeutung von Lösung, Erlösung, Loskauf, Lösegeld (2Mo 23:30-32 / 4Mo 18:16). In diesem besonderen und wichtigsten Zusammenhang mit Jesu Opfergang als Lamm Gottes für die ganze Welt stellen diese 30 Silberlinge nicht weniger dar, als den kostbaren Preis des Blutes Jesu selbst, das wahrhafte Lösegeld. Dies ersehen wir aus folgendem: Jesus redet „vom Tempel Seines Leibes“. Tempel und Menschenleib sind beide zu Wohnstätten des Heiligen Geistes bestimmt. Was mit dem Leibe Jesu geschieht, geschieht mit dem Tempel zu Jerusalem: Er wird abgebrochen und wieder erstehen.
Wichtig ist uns folgendes: Das „flüssige“ Zahlungsmittel des Tempels ist das Silber (Schekkel des Heiligtums) und das „flüssige“ Zahlungsmittel des Tempels des Leibes Jesu ist Sein Blut. Dies müssen die Hohenpriester selbst bezeugen, während sie beraten, was mit den von Judas in den Tempel zurückgeworfenen 30 Silberlingen geschehen soll. Sie beschließen nämlich: „In den Opferkasten dürfen wir sie nicht legen, dieweil es der Preis des Blutes ist“. Und während Judas die 30 Silberlinge zur Rückgabe vor die Augen der Hohenpriester hielt, sprach er: „Ich habe unschuldig Blut überliefert“. Beide weissagen, ohne es zu wissen. Die 30 Silberlinge sind das zuverlässige, von Gott gewählte Symbol für das kostbare Blut Jesu. Was im Sichtbaren mit diesen Silberlingen geschieht in kurzem Zeitraum, vollzieht sich im Unsichtbaren wesenhaft und über Äonen verteilt mit dem Blute Jesu Christi. Da wollen wir den Hauptzügen dieser gewiss zur „schweren Speise“ gehörenden Wahrheit sogleich ins Auge schauen: Es ist nicht etwa so, wie leider viele meinen: Gott, der Vater Jesu, habe vom Sohne das Blutvergießen gefordert, damit die Empörung des Vaters über die Sünde und die Sünder gestillt werde. O nein!
Nicht der rechtmäßige Eigentümer fordert ein Lösegeld, sondern der Pirat oder Gefangenenhalter. Nicht hat Gott gesagt zum Sohn: "Wenn Du Dein Blut fließen lässt für die Sünder, dann gebe ich sie frei"! Sondern wir lesen über Christus: „Du hast für Gott erkauft mit Deinem Blute“. Der Preis des Blutes Jesu wurde vom Fürsten dieser Welt, von dem Satan, als ausschließliches Lösegeld gefordert, wenn die in seiner Umklammerung liegende Welt „vor der Zeit“ oder „zuvor“ losgekauft werden sollte. Christus hat Sein Blut an den Feind ausgeliefert, damit die Welt durch diesen Kaufpreis sofort wieder in den rechtsgültigen Besitz des Vaters komme. Gott hat die Welt und die Erde diesem Fürsten der Welt übergeben zur Betreuung für bestimmte Äonen, sagen wir einmal für 50 Tausend Jahre. „Mir sind die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit übergeben, und ich verleihe sie an wen ich will“ kann Satan vor Christus behaupten, ohne dass Jesus ihm dies bestreitet. An dieser, von Gott selbst bestimmten Rechtsordnung ändert Er nichts ohne entsprechende Gegenleistung an den Begünstigten, selbst wenn der Betreffende abfällt, böse handelt und grausames Lösegeld fordert.

So wie die 30 Silberlinge aus dem Tempelgeld, nach denen er gierig verlangte, durch die Hohenpriester in die Hände des Judas überliefert wurden, so wurde der Preis des Blutes Jesu geistlicherweise von Fürstentümern und Gewalten dem Satan übergeben. Und gleichwie die Silberlinge, kaum in der Hand des Judas, sosehr zu brennen anfingen, dass er sie so rasch wie möglich wieder an den gebührenden Ort, den Tempel, zurückwarf – so hat auch Satan das Lösegeld des Blutes gierig an sich genommen, konnte es aber noch weniger als Judas die Silberlinge in seiner Gewalt behalten; denn dieser teure Preis des kostbaren, unschuldigen Blutes brannte sogar für ihn zu sehr und unauslöschlich. Er selbst musste es wieder an den Ursprungsort, ins geistliche Haus Gottes, zurückgeben, d.h. dem verklärten Leibe des Christus überlassen. Die Forderung zur Bezahlung dieses Lösegeldes war aber erfüllt und die gefangene und misshandelte Schöpfung rechtsgültig für Gott erlöst. Jetzt verstehen wir besser, wie es heißt: „Du hast mit Deinem Blut für Gott erkauft“, und jenes andere hierher gehörige Wort: „Die Versammlung Gottes, welche Gott sich erworben hat durch das Blut seines Eigenen“ (Apg 20:28). Also Gott selbst hat den Preis des Blutes Seines Sohnes als Lösegeld bezahlt und nicht etwa gefordert! Jetzt wissen wir auch an wen und dürfen ahnen, wie dies zuging. Diese schaurige Tatsache der Auslieferung des Blutes des Heiligen Gottes an den Gott und Fürsten dieser Welt bezeugt die Schrift aber noch auf andere Weise. Es ist gut, hierin mehr als nur einen Zeugen anzuhören. Zwei „anstößige“ Worte der Bibel, je eines aus dem AT und dem NT, bilden hierfür die Grundlage: „Wer nicht trinkt mein Blut, hat kein Teil an mir“ sagt Jesus in Joh 6 viermal, und in 3Mo 17:14 heißt es auf verschiedene Weise: „Sein Blut ist seine Seele“. Dazu gehört nun das Wort: „Er hat Seine Seele ausgeschüttet in den Tod“. Und: „Der die Gewalt des Todes hat, ist der Satan“. Demnach wurde das Blut Christi in die Gewalt Satans überliefert.
Aber weiter lesen wir in Ps 16:10: “Du wirst Meine Seele dem Tode nicht überlassen“, noch zugeben, dass Dein Heiliger die „Verwesung sehe“, und in Apg 2:24: "Es war unmöglich, dass er vom Tode gehalten werden konnte". Aus dieser Perlenkette von Weissagungen ergibt sich eindeutig und überwältigend das gleiche, was in der Aushändigung der 30 Silberlinge an Judas (in welchen ja der Satan fuhr) auf einfache Weise dargestellt wurde. Aus den gleichen Zusammenhängen geht die wundersame Größe und Gabe Gottes hervor, dass ER uns im Blute Seines Sohnes nichts weniger als dessen reine gottgefüllte Seele zu trinken gibt, nach der Satan so sehr gelüstet auf widernatürliche Weise. Entsprechend bedeutet das Fleisch Jesu Christi nichts weniger als die Herrlichkeit der Gleichgestalt Gottes, die wir als wahrhaftiges Brot vom Himmel essen dürfen und können, weil Er sie nicht als einen Raub festhielt, wie Satan die Welt, sondern dahingab für uns und sich selbst entleerte (was wiederum die Ausschüttung Seiner Seele andeutet) (Phil 2:6-8).

Ähnlich war es bei Esau (d.h. der Haarige, Tiermäßige), der für die Stillung seiner Hungergier von Jakob (d.h. Ferse, der zur Erde Erniedrigte) die Speise fordert mit den Worten: „Lass mich verschlingen das Rote da, das Rote da“. (Hebräisch: den Adam da, den Adam da). Und mit einem Schwur ging er die Gegenbedingung des Jakob ein, bevor er das Geforderte verschlang, dass Jakob unbestritten der rechtmäßige Erbe der Erstgeburt sei, sobald Esau die Speise verschlungen habe. Glücklicherweise hat Christus „die Schlange“ beschworen, bevor sie den 1. und 2. Adam „biss und verschlang“, so dass, sobald dies geschehen war, Er, Christus, in den Vollbesitz des Erstgeburtrechts der ganzen Schöpfung gekommen war. Und wie damals Esau diese neue zugeschworene und vollzogene Rechtslage missachten wollte und sich vor den Vater stellte, wie wenn er immer noch im Besitz des Erst-Anspruches auf alles sei, so gebärdet sich heute Satan, wie wenn sein „Kopf noch nicht zertreten“ wäre und er immer noch den Rechtsanspruch auf die Reiche der Welt und die Menschen hätte.

Aus den eben geschilderten, ungeheuren Vorgängen des göttlichen Ratschlusses, wie sie in wunderbaren Schatten irdischer Geschehnisse für uns festgehalten sind, können wir auch ahnen, was in jenem sonderbaren Wort enthalten ist, in welchem wir lesen: „Wenn die Schlange (Satan) beißt, bevor die Beschwörung (die Beschränkung seiner Wirksamkeit und die Zuvorbestimmung der sich nach dem „Beißen“ ergebenden Rechtlage) da ist, so hat der Beschwörende (Christus) keinen Nutzen“ (Pred 10:11). Nun hat aber Christus (nach der Weise Jakobs) den Satan eidmäßig für alle Rechtsfolgen festgelegt, bevor er sein „Verschlingen“ begann.
Damit ist gesagt, dass, wenn die Schlange erst nach der Beschwörung beißt, alles zum Nutzen Gottes ausschlagen wird. Ja, je mehr sie nachher beißt, umso grösser ist zuletzt Gottes Triumph. Nun gehen wir zurück zum eigentlichen Thema: Nach dem 11. Kapitel des Propheten Sacharia sind diese Silberlinge vorerst als „Minimallohn“ für den Hirtendienst des Knechtes Gottes, des Messias, vorgesehen gewesen. Demnach kommt Jesus nicht nur zu seinem Minimallohn als guter Hirte Israels, sondern sein Lohnguthaben wird dem Judas als „Lohn der Ungerechtigkeit“ für den Verrat ausbezahlt (Apg 1:18). In Sach 11:12-13 lesen wir:

  • „Wenn es gut ist in euren Augen“, spricht der Hirte Israels, „so gebt mir meinen Lohn; wenn aber nicht, so lasst es. Und sie wogen meinen Lohn dar; dreissig Silberlinge“. Da sprach Jehova zu mir; „Wirf ihn dem Töpfer hin, den „herrlichen Preis“, dessen ich von ihnen wert geachtet bin“. Und ich nahm die 30 Silberlinge und warf sie in das Haus Jehovas, dem Töpfer hin.

Wir achten hier auf die eigenartigen Verschiebungen zwischen Befehl und Ausführung, zwischen Prophezeiung und Erfüllung: Der Befehl Jehovas in Sach 11 lautet: Wirf ihn dem Töpfer hin, den herrlichen Preis, dessen Ich von ihnen wert geachtet bin.
Die Ausführung dieses Befehls durch den Propheten erfolgt wohl an den Töpfer, sonderbarerweise aber geschieht dieser Wurf ins Haus Gottes. Warum dies? Das hebräische Wort für „Töpfer“ bedeutet gleichzeitig auch allgemein „Former“ und zwar in Bezug auf jedes Material: Ton, Eisen, Holz etc. Dies ist auch aus Röm 9:20-21 ersichtlich. Es ist nahe liegend, dass bei Sacharja im Hause Gottes im Vorhofe ein „Former“ von Silber tätig war, der die heiligen Gefäße ausbesserte oder erneuerte. Dies ist eine einfache, natürliche Erklärung für diese sonderbare Befehlsausführung durch Sacharja (Jes 44:10-13).
Weit bedeutungsvoller werden diese Dinge jedoch dann, wenn wir in ihnen das erkennen dürfen, „was Jesus betrifft“ (Lk 24:27 / Joh 5:39). Gott redet ja von dem Preis, den sie Ihn, den Herrn wert geachtet haben. Schon Sacharja weiß deshalb, dass Jehova mit dem Töpfer oder Former sich selbst meint (Jer 18:6). Was er aber dem wahrhaften Töpfer oder Schöpfer auf der Erde übergeben oder hinwerfen soll, kann er nicht anders, als es in dessen Haus, dem Tempel, vollziehen.
Das Ansuchen um Lohn richtet Sacharja als der gute Hirte „der Elenden der Herde“ kaum an diese seine Schafe (sonst würde ja der Hirte von der Herde den Lohn verlangen), sondern vielmehr an die in Vers 5 erwähnten eigennützigen Eigentümer und falschen Hirten, die in der prophetischen Bedeutung dann auch mit den Hohenpriestern und Ältesten übereinstimmen, die diesen „Lohn“ Jesu dem Judas angeboten haben.

Nach der in Mt 27:9+10 erwähnten Prophetie vollziehen eigenartigerweise sie, die anderen, die Gegner Jesu, das, was Gott Ihm, dem guten Hirten, befohlen hatte zu tun. In der Genauigkeit dieser Prophetie liegt ein Schlüssel zum Verständnis dieser für uns vorerst verworren erscheinenden Beziehungen zwischen Befehl und Prophetie. Eine erste Ausführung dessen, was der Sohn Gottes als guter Hirte im Auftrage und nach der Verheißung des Vaters einmal auf vollkommene und geheiligte Art tun wird, überlässt er vorerst Seinen Feinden, und zwar indem sie sich dabei auf unerhörte Weise an Ihm versündigen. So geht es, wenn sie tun, was der Vater Ihm geboten hat. Nach der geradlinigen Erfüllung der Christusdarstellung durch Sacharja hätte Christus die Silberlinge selbst empfangen und dann ins Haus Gottes werfen sollen. Vorerst übernimmt jedoch Judas diese Rolle. Dadurch wird dieser Hirtenlohn Jesu zum „Lohn der Ungerechtigkeit“. Hätte Judas gewartet, so hätten die Hohenpriester in unbewusster Schrifterfüllung eines Tages dem Herrn Jesus die 30 Silberlinge ausbezahlen müssen; und da Judas die Kasse führte, wären sie auf diesem Wege ohnehin in Seine Hände gekommen, jedoch ohne dass sich Judas dabei versündigte. Aber es musste anders sein.
Wir wenden uns zurück zum Weitergang der Handlungen mit den 30 Silberlingen in Mt 27: Was tun jetzt die Hohenpriester in ihrer Verlegenheit mit den von Judas zurückgeworfenen Silberlingen? Wie wir bereits sahen, bezeichnen sie diese Silberstücke als „einen Preis für Blut“ oder „den Preis des Blutes“. Weil dieses Geld deshalb nicht im Heiligtum bleiben kann, „kauften sie dafür den 'Acker des Töpfers' zum Begräbnis für die Fremdlinge“.

Wenn wir auch hier wieder beachten, dass andere das tun, was Gott seinem Sohn geboten hatte, und wir die biblisch bezeugten Bedeutungen dazu berücksichtigen, so stehen diese wenigen Worte in Vers 7 in monumentaler Größe und staunenswerter Schönheit vor uns. Wir beachten deshalb: In Seiner Auslegung vom Gleichnis vom Unkraut im Acker erklärt Jesus: „Der Acker aber ist die Welt“ (der Kosmos).
Aus den früher erwähnten Stellen geht ferner ganz klar hervor, dass unter dem Töpfer Gott, der Schöpfer, zu verstehen ist. „Fremdlinge“ im buchstäblichen Sinn sind das Anschauungsobjekt für die von Gott erkauften Fremdlinge auf Erden. Demnach bezeugt Vers 7 nicht weniger als die Tatsache der Erlösung und Erkaufung der Schöpfung durch das Blut Christi, nämlich: Für den Preis des Blutes wird die Welt des Schöpfers erkauft – vorerst zum Begräbnis für die Fremdlinge Gottes – und wird deshalb Blutacker oder Welt des Blutes genannt, wie dies kaum besser bezeichnet werden könnte.
Denn ist nicht die gegenwärtige Welt ein grosses Begräbnis oft mit einer Riesenversammlung von Toten, die letzten Endes alle zur Auferstehung in eine bleibende Heimat bestimmt sind? Dabei sind im Symbol unter den in Verlegenheit beratenden und unbewusst handelnden Hohenpriestern jene geistigen Gewalten und Engelfürsten zu verstehen, die im Unsichtbaren das tun, was nach dem Ratschluss Gottes in den Himmeln vollzogen werden muss, auch wenn diese hohen Wesen selbst nicht wissen, was sie tun.

Durch diese gewaltigen göttlichen Rechtshandlungen geistlicher Art kommt der wunderbare Endertrag zustande, dass nämlich „der Acker“, die Welt, in den Besitz des Hauses Gottes kommt und der „Preis des Blutes“, die Seele des Sohnes Gottes, wieder in die Hand und ans Herz „des Töpfers“, nämlich Gottes des Schöpfers und Vaters. Vorerst aber hat Gott die Welt im Zustande eines „Friedhofes“, eines Begräbnisplatzes voller Totengebeine, erkauft. Jedoch aus einem der Gleichnisse Jesu wissen wir, dass sich Gott im Acker dieser Welt einen Schatz ersehen hat, um dessentwillen Er gleich die ganze Welt – wenn auch sehr teuer – erkaufte. Aber durch diese verborgenen Gotteskräfte, die durch den Todesgang Christi ins Innere der Erde gelegt worden sind, werden alle schlummernden Geschöpfe und Kräfte der Schöpfung in herrliches Auferstehungsleben verwandelt werden, sei es durch das Feuer des Gerichtes oder durch den Geist der Gnade oder durch beides.

Wir wenden nun unsere Aufmerksamkeit dem Nachfolger des Judas, dem Matthias, zu. Petrus begründet dessen Einsatz mit einem Wort aus Ps 109:8: „Sein Aufseheramt empfange ein anderer“. Die Zwölfzahl der Apostel muss vorhanden sein. Diese Ergänzung auf 12 Aufseher vollzieht sich zudem in der Gegenwart von 120 Brüdern. Die zahlenmäßige Ordnung muss auch im Christus gläubigen Israel aufrecht erhalten werden, ja, wird sogar erst recht in geheiligter Gottesordnung auf den Leuchter gestellt. Jesus wählte 12 Apostel aus für die zukünftige richterliche Herrschaft über die 12 Stämme Israels. In nicht ferner Zukunft wird Gott aus jedem Stamm je 12 000 Christus gläubige Israeliten versiegeln lassen. Für die 70 Nationen der Erde hatte Jesus 70 andere Jünger ausgewählt. In kostbarem Vorbild für die kommende Harmonie zwischen den 12 Stämmen Israels und den 70 Nationen wird in 2. Mo 15:27 die Oase Elim vor unser inneres Auge gestellt mit ihren 12 Wasserquellen und 70 Palmbäumen, wo sich’s wonnevoll ruhen ließ an den Wassern, worüber aber an dieser Stelle nichts weiter gesagt werden soll. Erst nachdem die Zwölferzahl der Apostel wiederhergestellt war, konnte die Ausgießung des Heiligen Geistes erfolgen und konnten sich alle übrigen Aposteltaten vollziehen.
Uns interessiert in unserem Zusammenhang nun nicht die Frage, ob etwa Paulus der bessere Judas Nachfolger gewesen wäre, sondern uns bewegt das Problem, ob Matthias „für immer und ewiglich“ an die Stelle des Judas versetzt worden sei. Denn wäre dies der Fall, so würde die Auserwählung und Berufung des Judas durch Jesus eine bereubare geworden sein. Das würde leider viele nicht groß stören. Aber ob wir bei dieser letztgenannten Stellungnahme von Gott gelobt werden könnten, ist eine andere Frage. Da scheint doch die bemerkenswerte Tatsache, dass außer der erwähnten Stelle in Apg 1:15ff weder der Name noch eine Tat des Matthias im ganzen NT auch nur ein einziges Mal erscheint oder Erwähnung dient, eine deutliche Sprache zu reden Aber weit wichtiger ist uns, dass die Liebe Gottes sich nie, auch nicht mit dem besten Ersatzmann, auf die Dauer zufrieden geben kann. Besonders hier nicht, wo der Verlorene „der Mann seines Friedens“ ist, wie wir sehen durften. Der wunderbarste Ersatzmann für Gott im Blick auf die verlorene Schöpfung wäre Christus, Sein Sohn. Dieser tritt wohl an die Stelle der Verlorenen, aber nicht um deren Fall endgültig zu besiegeln, sondern um sie in die von Gott gewollte Rettung und Stellung zurückzuführen. Matthias wird auf den Vorschlag und die Bitte der Apostel aus zwei Anwärtern durch das Los als Ersatzmann für Judas bestellt.
Das andere Psalmwort, das Petrus in Apg 1 auf Judas bezieht: „Seine Wohnung werde öde und es sei niemand, der darin wohne“, bezieht sich auf Ps 69:25, woselbst die Worte lauten: „Verwüstet sei ihre Wohnung, in ihren Zelten sei kein Bewohner“. Damit wird Judas wieder in seiner Bedeutung als Is-k-ariot, als Einzeldarsteller für die vielen geschaut, die auf gleicher Linie wie er, jedoch auf ihre besondere Weise den Herrn verraten oder überliefern. Dazu gehört die Masse der Juden, das Haus Juda, als Volksganzes in erster Linie. So wie aber ihr Fall zur Versöhnung der Welt gereichte und ihre Annahme des Lebens aus den Toten bedeuten wird, so war es auch mit Judas und so wird es auch mit Judas sein, der ihren Gesamtweg als Einzelperson zur Schau stellen musste. Zusammen werden sie auf ihre Weise Den schauen, den sie durchstochen haben, und um Ihn weinen, wie man weint um den Erstgeborenen. Auch in Ps 109 beginnt die Klage gegenüber den vielen, geht in Vers 6 über gegen Einen, Judas, um in Vers 20 wieder auf die vielen zurückzukehren. Wunderbarerweise aber bezeugt der zweitletzte Vers im gleichen Ps 69 die lebendige Hoffnung, dass Jehova die verwüsteten Wohnungen Judas wieder bauen wird, und diese bleibend ihre Bewohner haben werden. Diese Verflochtenheit des Judas mit dem ganzen Hause Juda tritt noch gewaltiger vor unsere inneren Augen, wenn wir hier gegen das Ende unserer Betrachtungen auf den am Anfang gemachten Hinweis zurückkommen, dass schon der Stammvertreter Judas das vorschattete, was sich an seinem ganzen Stamm auswirken und an Judas besonders erfüllen sollte. Judas, der Stammvater, und Judas, der Jünger, sind gleichsam wie Wurzel und Wipfel an dem Baum des Volksganzen gesetzt, der zum Gefällt-werden bestimmt ist, um dann als zu- und hergerichtetes Holz und als wieder eingepflanzter Stock für Gott und andere zur Wohnstatt und zum Segen sein zu können, wie sie vorerst ein Fluch waren.
Wir denken hier an das Ergehen des Feigenbaums (und zwar gerade als Darstellung für das Haus Juda nach den Worten Jesu):

1. Mt 21:19 - a) Jesus findet am Feigenbaum nur Blätter.
2. Mk 11:21 - b) Der Feigenbaum wird daher verflucht.
3. Mt 21:20 - c) Der Feigenbaum verdorrt deshalb:DieBlätter fallen ab.
4. Lk 17:6 - d) Der Schwarzmaulbeerfeigenbaum wird entwurzelt und ins Meer (der Nationen) geworfen.
5. Mt 24:32 - c) Der Zweig des Feigenbaums wird wieder weich
	(gewinnt Blätter).

6. Hohel.2,13 b) Der Feigenbaum gedeiht wieder, kommt unter den

	Segen

7. Joel 2,22 a) Der Feigenbaum bringt seine Frucht. Ferner lesen wir in Hiob 14,7: „Denn für den Baum gibt es Hoffnung: 1. wird er abgehauen, so schlägt er wieder aus und seine Schösslinge hören nicht auf“. 2. „Wenn seine Wurzel in der Erde altert und sein Stumpf im Boden erstirbt: Vom Dufte des Wassers sprosst er wieder auf und treibt Zweige wie ein Pflänzling“ (eine Hoffnung erweckendes Bild für „zweimal erstorbene Bäume“ und für Opfer des ersten und zweiten Todes). Hier spricht Hiob, der von Gott das Zeugnis hatte, dass er geziemend von Ihm geredet hat. Wenn dann Hiob klagt, dass der Mensch erst wieder auferstehen werden, wenn die Himmel nicht mehr sind, so kann ihn der Herr trösten wie die Martha – die auch nichts anderes wusste, als dass Lazarus am Jüngsten Tage, am großen weißen Thron, wenn die ersten Himmel vergangen sind, auferstehen werden – indem Er ihr sagen konnte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ – ich bin darin an keine Zeit gebunden. Zudem bekennt der Blindgeborene, bei dem Jesus im Begriff ist, die Augen zu öffnen:

„Ich  sehe  Menschen als wären es  Bäume“ Schreiben wir uns dieses Wort zur erwähnten Stelle aus Hiob 14, dann muss unsere Freude groß sein. Gleicherweise tut Gott mit Juda, Judas und dem ganzen Stamme Juda als Feigenbaum.

Der Stammvater Judas und der Jünger Judas zeigen auffallend verwandte Wesenszüge. An beiden tritt besonders ihre Silber- oder Geldliebe in Erscheinung, und diese wird als eine Wurzel allen Übels bezeichnet – das ganze Volk Juda ist auf besondere Weise mit den Trieben dieser schlimmen Wurzel behaftet. Umso überwältigender ist im Entschluss Gottes die Tatsache, dass Er Seinen Sohn dem Fleische nach gerade aus diesem Volkstamm kommen und den schmählichen Verrat (für ein paar Silberlinge) mit dem Opfer Seines kostbaren Blutes zur Vergebung ihrer Sünden und zur Versöhnung der Welt beantworten ließ. Schon Juda, der Stammvater, nahm Silber für die Seele seines Bruders Joseph: „Was für ein Gewinn ist es, wenn wir unseren Bruder erschlagen? Lasst uns ihn an die Ismaeliter verkaufen!“

Ein kleiner Vergleich möge diese gemeinsamen Wesenszüge darstellen:

Juda: Judas: Ist einer der 12 Söhne Jakobs Ist einer der 12 Jünger Jesu

Gewinn süchtig, Geld liebend „Welchen Gewinn haben wir?“

Verkauft Joseph für 20 Silberlinge Gewinn süchtig, Geld liebend Was wollt ihr mir geben, wenn ich ihn euch überliefere? Verrät Jesus für 30 Silberlinge

Durch Gottes weise Führung wird das böse Herz Judas – und zwar gerade auf Grund von dessen Versündigung an Joseph – weich und bußfertig gemacht, so dass er nach langen Jahren und vielerlei Not mit seinen Brüdern spricht: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht“. Und zu Joseph sagt Juda nach dem Auffinden des silbernen Kelches im Sack Benjamins „Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden“. Aber nicht nur das, sondern dieser Juda wird freiwillig Bürge und zum Sünder – für Benjamins Leben. Die Worte Rubens vermochten nicht, den schwergeprüften Vater Jakob dazu zu bewegen, Benjamin mit ihnen nach Ägypten ziehen zu lassen. Erst als Juda mit inbrünstigem Zuspruch und persönlichem Einsatz zum Herzen Jakobs geredet hatte, konnte der alte Vater sich entschließen, Benjamin mit ziehen zu lassen. Und keiner der Brüder konnte vor Joseph ein Wort hervorbringen in der hoffnungslosen Situation nach der Auffindung des Bechers bei Benjamin; Juda allein vermochte aus seiner großen Herzensnot und Zerschlagenheit seines Geistes dem Joseph so ergreifend zu antworten, dass Joseph sich wegen dieser Worte Judas nicht mehr bezwingen konnte und sich ihnen zu erkennen geben musste. Mit diesen Worten durfte Juda die alten Herzenswunden Josephs verbinden und heilen, so dass beide Brüder sich weinend in die Arme schlossen. Und gleichwie Juda für Judas anfänglich in widergöttlichem Sinne eine Vordarstellung war, so wird sich auch die von Gott aufs ergreifendste bewirkte Sinnesänderung des Stammvaters Juda bei Judas, dem verlorenen Sohn, aufs Wunderbarste einfinden und auswirken, wenn Gottes Stunde da sein wird. Ansätze dazu fanden wir in der Reuestellung und dem Sündenbekenntnis des Judas. Wider alles Erwarten erwählte Gott das Haus des Juda zum Herrscher und Christusbringer in Israel.

Die Gerichtswege und Flüche, die Gott vorerst auf das Haupt des Judas beschließen ließ, sind allein schon gemäß Ps. 109 so furchtbar und unbarmherzig, dass hier vorerst nur jenes Triumphwort noch Trost zu geben vermag, in welchem es heißt, da sich die Barmherzigkeit rühmt wider das Gericht, selbst wenn es unbarmherziger Weise geübt wird (Jak. 2,13).

Gemäß dem Hinweis des Apostels Petrus, dass sich die Aussage in Ps. 109, 8, auf Judas bezieht, müssen wir im gleichen Psalm noch weitere und schwere Gerichtsworte über Judas zur Kenntnis nehmen. Wir greifen die schärfsten Urteile aus diesem Psalm heraus: Vers 7: Wenn er gerichtet wird, gehe er schuldig aus, und sein Gebet werde zur Sünde. Vers 12: Er habe niemand, der ihm Güte bewahre, und es sei niemand, der seinen Waisen gnädig sei. Vers 14: Gedacht werde vor Jehova der Ungerechtigkeit seiner Väter, und nicht werde ausgelöscht die Sünde seiner Mutter. Vers 18: Er zog den Fluch an wie sein Kleid, so dringe er wie Wasser in sein Inneres und wie Öl in seine Gebeine. Nun aber fährt der Text in Vers 20 fort: „Das sei der Lohn meiner Widersacher von seiten Jehovas, und derer, die Böses reden wider meine Seele“. Damit ist gesagt, dass Judas das Gerichtsmuster ist für die vielen, welche Widersacher des Messias sind und Böses wider ihn reden. Was sollen wir sagen, die wir einst Feinde Gottes waren wie die übrigen, nun aber begnadigt wurden.

Es geziemt uns zu fragen: Gibt es denn nicht auch Gnade für Judas, den Verfluchtesten unter allen Menschen? Gott sei innig Dank! Es gibt auch für den Barmherzigkeit, dem ein mehrfach unbarmherziges Gericht zuteil wurde. Denn Gott hat alle unter den Ungehorsam eingeschlossen, auf dass Er sich aller erbarme, auch des Judas.


Und zwar haben die Juden dem Messias nicht geglaubt, auf dass die Barmherzigkeit den verfluchten Heiden zuteil werden könne, und an die nun erfolgte Begnadigung der Heiden glauben sie nicht, auf dass auch sie selbst, die Juden, unter die Begnadigung kommen. (Röm. 11,30-31) Die einfache und wunderbare Lösung dieses Problems und die Beantwortung der vorhin gestellten Frage liegt in der göttlichen Tatsache, dass Christus allen Fluch, der gegen Seine Geschöpfe ausgesprochen wurde, auf Sich nahm und so für uns und sie zum Fluch und zur Sünde geworden ist. Damit hat Jesus auch allen Fluch von Ps. 109 auf sich genommen (Gal. 3,13) in anbetungswür-digster Weise. Aber auch in Ps. 109 selbst gab uns der Heilige Geist ein kostbares Schlüsselwort in die Hände. Es sind die Verse 27 und besonders 28: „Damit sie wissen, dass dies Deine Hand ist, dass Du, Jehova, es getan hast.“ Lassen wir uns hier an das gewaltige Wort des Petrus und Johannes in Apg. 4, ebenfalls die Verse 27 und besonders 28 erinnern: „Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit wider Deinen Heiligen Knecht Jesus, den Du gesalbt hast, sowohl Herodes als Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, alles zu tun, was Deine Hand und Dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte“. So verstehen wir, dass wohl Gott die Gerichte über Judas Ratschluss mäßig bewilligte und festlegen ließ; dass aber der Antrag zu diesen Gerichten ebenso wenig aus dem Herzen Gottes kam, wie der Neid, der hass und die Mordgier der am Tode Christi Beteiligten. Auch hier gilt: „Nicht von Herzen plagt Er die Menschenkinder“. Den Ps. 109, 28 enthüllt uns die göttliche Stellung zu dem allem:„Mögen s i e fluchen, D u aber segne! Das bittet der Sohn den Vater und das gilt auch für uns. Hier tritt die Gesinnung Christi und des Vaters zutage, die auch dann nur segnet, wenn alle anderen fluchen. Die Ausübung aller von Gott über Judas bewilligten Flüche und Gerichte überlässt Er denen, die in Unkenntnis ihrer eigenen Verdorbenheit meinen, Gott einen Dienst zu tun, wenn sie aufs grausamste über Judas herfahren, es seien Engel oder Menschen. Aus alldem geht hervor, dass Christus gerade den Mann Seines Friedens als Zielscheibe für alle hingestellt hat, die Er trotz all ihrer Frömmigkeit als „Schalksknechte“ und „harten Herzens“ überführen muss. Denn jeder Mensch, der da richtet, ist nicht zu entschuldigen, sondern verdammt sich selbst, da er dasselbe tut (Römer 2,1). Mit diesem wunderbaren Wort in Ps. 109, 28, distanzieren sich der Sohn und der Vater von denen, die dem Judas fluchen und ihn erbarmungslos verdammen. Ja, vielmehr nahm Er die Sünde Seines Freundes und dessen ganzen Fluch mit allen damit verbundenen Schmähungen von Seiten der Geschöpfe auf sich, indem Er auch diesem Gehängten ein Gehängter wurde. Dadurch hat Gott in Christo dessen Fluch sogar in den Segen der Welterlösung verwandelt, und so geziemt es uns, auch hier anbetend dem zu vertrauen, der den Gesetzlosen rechtfertigt und nach dem letzten Vers von Ps. 109 zur Rechten auch dieses Armen stehen wird, um ihn zu retten von denen, die seine Seele richten. So wird das Ende den Anfang rechtfertigen, denn schon bei Judas Geburt sprach seine Mutter Lea: „Diesmal will ich Jehova preisen“, und der sterbende Vater Jakob prophezeit auf das Ende der Tage hin: „Dich, Juda, dich werden deine Brüder preisen!“

So sorgt „der Löwe aus dem Stamme Juda“ durch Gericht und Gnade dafür, dass bei diesen großen Sündern die Bedeutung ihres Namens strahlende Wahrheit wird:

Juda, ein Lobpreis Gottes! (Sach. 12,7).