Die siebzig Jahrwochen

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Version vom 23. Mai 2020, 19:02 Uhr von MI (Diskussion | Beiträge) (I. Zusammenhang und Gedankengang der Weissagung)

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'Abschrift des Buches: Der Prophet Daniel und die Offenbarung Johannis
in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert.

Verfasser: Karl August Auberlen (1854)
Verlag: Bachmaier's Buchhandlung, Basel

Inhaltsverzeichnis des Buches
Kapitel vorher:
Charakteristik der Buches Daniels


In Bearbeitung

ZWEITER ABSCHNITT:

Die siebzig Jahrwochen

Dan 9

Wir wenden uns nun zur Einzelbetrachtung derjenigen Kapitel unseres Propheten, an deren Erklärung, wie oben am Schluss der Einleitung gezeigt wurde, die ganze kritische Frage über das Buch Daniels hängt. Gelingt es, die Unhaltbarkeit der modernen Auffassungen dieser Kapitel nachzuweisen, so ist das Buch selber ein so gewaltiges Zeugnis für seine Echtheit, dass die übrigen dagegen vorgebrachten Gründe ihr Gewicht verlieren.

Und zwar beginnen wir mit Dan 9., weil diese Weissagung eine für uns schon längst vergangene Zeit zum Gegenstand hat, während die des 2. und 7. Kapitels in eine auch für uns noch zukünftige Epoche hinausblickt und sich daher eng mit der neutestamentlichen, johanneischen Apokalypse zusammenschliesst. Es soll nun zunächst eine Entwicklung des Inhalts jener Engelsoffenbarung gegeben werden, sowie derselbe zwar mit mancherlei Modifikationen im Einzelnen, aber dem Wesen nach zu allen Zeiten gleichmäßig von der Kirche ist aufgefasst worden. Denn einen Überblick über die Geschichte der Auslegung unserer Stelle bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts kann H a v e r n i c k (Kommentar S. 393, 395) mit der Bemerkung schließen: "Dass im L e b e n C h r i s t i der Zielpunkt der 70 Wochen zu suchen sei, war bei aller Verschiedenheit im Einzelnen doch allgemeines Zugeständnis; und die Verschiedenheit entstand nur teils aus der Verschiedenartigkeit der angenommenen Anfangspunkte, teils aus der Verschiedenartigkeit in der Berechnung des Lebens Jesu, teils aus der auf die manigfaltigste Weise zugrunde gelegten Zählmethode." An die positive Darlegung unserer Absicht wird sich dann eine Kritik der modernen Auffassungen rehen. Da eine sprachliche Detailerklärung außerhalb unserer Aufgabe liegt, so verweisen wir in dieser Hinsicht im Allgemeinen auf H e n g s t e n b e r g s Christologie des A. T., II, S. 401-581, sowie auf H ä v e n i c k s Kommentar.

Erstes Kapitel

Die kirchlich-messianische Auffassung

I. Zusammenhang und Gedankengang der Weissagung

Unser Kapitel versetzt uns in das erste Jahr Darius des Meders. Haben wir unter diesem, wie noch immer das Wahrscheinlichste, Epaxares II. zu verstehen, in dessen Namen sein Neffe, Schwiegersohn und Nachfolger Kyrus als Oberbefehlshaber der gesamten medopersischen Heeresmacht 538 v. Chr. Babylon eroberte: so fällt also das Ereignis unseres Kapitels ins Jahr 537, mithin ein Jahr vor der von Kyrus den Juden gegebenen Erlaubnis zur Rückkehr aus dem Exil und 69 Jahre nach der 606 erfolgten Wegführung Daniels und also auch nach dem Beginn des Exils

Wir begreifen, dass der fromme Israelit, der mit so lauterer Liebe an Jehova und seinem Volke hing, gerade um diese Zeit sich angetrieben fand, die Weissagung Jeremias von den siebzig Jahren, welche über den Trümmern von Jerusalem hingehen sollten, zum Gegenstand seines Forschens und Nachsinnens zu machen. Er forschte aber in der Schrift mit Gebet. In heißem Flehen schüttet er sein Herz vor dem Bundesgott aus und ruft ihn an um Gnade für sein Volk, über welches sein Name genannt ist, um Wiederherstellung des Heiligtums und der Stadt. Es ist +das eines jener biblischen Gebete, wo einem das Erklären vergeht, wo man fühlt, die Worte müssen sich selbst erklären in unseren Herzen, wenn man Sinn und Bedeutung derselben fassen will. Daniel, der treue und gerechte Knecht Gottes, geht so ganz ein auf die Schuld und Sünde seines Volkes, sein priesterlicher Dienst identifiziert sich so völlig damit, tut so innig im Namen von ganz Israel Buße, dass wir hier etwas ahnen von dem inneren Hergang der büßenden Stellvertretung und über Daniel hinaus in die Gebetsopfer von Gethsemane und Golgatha hineinschauen. Wie wir also oben im allgemeinen gesehen haben, dass des Propheten eigenes Leben die typische Grundlage zu seiner Prophetie bildet, so geht auch in diesem speziellen Fall der Weissagung von der vollkommenen Buße der Sünde ein Vorbild von ihr voraus. Daniel stellt uns in seinem Bußgebet jenen höchsten Priester typisch dar, welcher, indem er hingerafft wurde (Dan 9.26), die Schlachtopfer und Speiseopfer des alten Bundes aufhören machte (Dan 9:27), weil er selbst die Schuld gesühnt und ewige Gerechtigkeit wiedergebracht hat (Dan 9:24). Für diese Offenbarung des neutestamentlichen Hohenpriestertums musste Daniel eben jetzt, da er selbst Priesteramtes gepflegt hatte, besonders empfänglich sein. Und nun, ist wohl dieses Gebet, das man nicht lesen kann, ohne dass es Mark und Bein durchdringt, in trügerischer Weise fingiert? Es zeugt von dem Mangel unserer Kritik an tieferem ernsterem Sinn für religiöse Wahrheit und Wahrhaftigkeit, dass sie über selche Fragen so leicht hinwegkommt.

Indem wir nun an die Offenbarung heranzutreten wagen, welche dem Propheten auf sein Gebet hin zuteil wird (Dan 9:24-27), müssen wir vor allem daran erinnern, dass es Engelssprache ist, die in diesen vier kurzen Versen geredet wird, der Lapidarstil des oberen Heiligtums. Daher ist das Verständnis für uns unreine Menschen (Jes 6:5) so schwer, und es gibt keine Auslegung, welche alle Dunkelheiten und Schwierigkeiten dieser Engelsworte vollkommen überwunden und ins Klare gesetzt hätte. Indessen wenn die göttliche Antwort auch immer viel weiter greift als die menschliche Frage, wenn Gott über unser Bitten und Verstehen tut: so schließt sich doch begreiflicherweise die Antwort an die Frage und die Erhörung an die Bitte an. Und so müssen wir uns, um die Worte des Engels möglichst zu verstehen, Daniels Gedanken und Gefühle, wie sie seinem Gebet zugrunde liegen, uns lebendig zu vergegenwärtigen suchen.

Er betet um die Befreiung Israels aus dem Exil und um den Wiederaufbau der Stadt und des Heiligtums. Das tut er offenbar, weil ihm die großen Verheißungen vorschweben, welche an dieses Ereignis geknüpft sind. Es war ja mit demselben überall in den Propheten und noch eben in dem Jeremia, den er gerade vor sich hatte (Jer 31), die Erfüllung der messianischen Hoffnung aufs Engste verbunden (vgl. J. Chr. K. H o f m a n n, die 70 Jahre des Jeremia und die 70 Jahrwochen des Daniel, Nürnberg 1836, S. 60; H e i m und W. H o f f m a n n , die großen Propheten, erbaulich ausgelegt aus den Schriften der Reformatoren S 864 und J. J. H e ß , Gesch. der Regenten Juda nach dem Exilio, Bd. 1, Tübingen 1792; S. 194f.) Die Offenbarungen, welche Daniel selbst im 2. und 7. Kapitel empfangen hatte, konnten ihm freilich zeigen, dass wenigstens das messianische Herrlichkeitsreich noch nicht so nahe sei, da ja von den vier Weltmonarchien erst eine hinter ihm lag; aber nur umso mehr bedurfte er jetzt eines Aufschlusses hinsichtlich der Weissagungen der früheren Propheten, in denen er die Errettung aus dem Exil und das messianische Heil verbunden fand. Die Offenbarung, die er jetzt erhält, hat nun die Bedeutung, das auseinander zu legen, was die Propheten bisher nach dem Gesetz der prophetischen Perspektive zusammengeschaut hatten, die Erlösung aus dem Exil und die volle, messianische Erlösung. Das war ja überhaupt im A. T. mehr als einmal der Fall, dass relative Erfüllungen der früheren Verheißungen eintraten, bei denen nun aber die Erkenntnis galt, das sei noch nicht die höchste und eigentliche Erfüllung.

Die Frommen des A.T., welche auf den Trost Israels warteten, und welche gleich Noahs Vater (1Mo 5:29) manchmal hoffen mochten, jetzt werde der Tröster in ihrer Trübsal kommen, mussten von einer Zeit zur anderen harren und die vorläufigen Erfüllungen nur als Angeld und Unterpfand nehmen dafür, dass einst der wirklich kommen werden, den sie so sehnsüchtig begehrten (Mt 13:17); ähnlich wie die Christen, ,welche die Zukunft ihres Herrn schon so oft nahe glaubten, stets wieder aufs Warten angewiesen wurden. So war schon mit David eine vorläufige Erfüllung der älteren Verheißungen gekommen; da musst aber der Prophet Nathan zu dem König treten und ihm verkündigen, nicht er solle Gott, sondern Gott wolle ihm ein Haus bauen, und erst dieser sein Same sei bestimmt, das volle Wohnen Jehovas unter seinem Volk zu vermitteln (2Sam 7). Ebenso wird dann auch in unserer Weissagung - und wir wissen, wie dies zur Aufgabe gerade der Apokalyptik wesentlich gehört, - dem Daniel anstatt der 70 Jahre, an deren nahe bevorstehendem Ende er das Heil erwartete, ein weiterer Termin von 70 Jahrwochen angegeben, die von der näheren Erfüllung bis zur entfernteren und vollen, vom Befehl zur Wiederherstellung und Erbauung Jerusalems bis auf die Zeit des Messias verstreichen sollen. Wie dort der Herr dem Petrus auf die frage, ob es genug sei, wenn er seinem Bruder siebenmal vergebe, antwortete, nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal (Mt 18:21f.), so antwortet hier der Engel dem Daniel: nicht siebzig Jahre, sondern siebenmal siebzig Jahre sind über dein Volk und deine heilige Stadt bestimmt. Seine Worte lauten so:

Dan 9:24: "Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, bis der Frevel vollendet und die Sünden versiegelt und die Schuld gesühnt und die ewige Gerechtigkeit hergestellt und Gesicht und Prophet versiegelt und das Allerheiligste gesalbt wird.

Dan 9:25: So wisse nun und merke: Vom Ausgang des Wortes (Befehls), Jerusalem wieder herzustellen und zu bauen, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen: es wird wieder hergestellt und gebaut werden, (doch bloß) mit Straßen und Graben, und im Druck der Zeiten.

Dan 9:26: Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden, und niemand hängt ihm an; und die Stadt und das Heiligtum wir zerstören das Volk des Fürsten, der da kommt, und sein (des Heiligtums) Ende ist in (Kriegs-) Flut, und bis zum Ende ist Krieg, (von Gott) beschlossene Verwüstungen.

Dan 9:27: Und es wird vielen den Bund stärken eine Woche, aber die Mitte der Woche wird abschaffen Schlacht- und Speiseopfer; und ob des verwüsteten Gipfels von Gräueln, und bis zur Vollendung, der beschlossen, wird (der Fluch) über das Verwüstete herabtriefen."

Dan 9:24 gehört zu den herrlichen und tiefsten Stellen des ganzen A. T., und wenn irgend eine messianisch zu deuten ist, so ist es diese. Der Engel will dem Propheten zunächst im Allgemeinen einen Eindruck davon geben, dass er einen noch viel längeren Zeitraum in Aussicht nehmen müsse für die Erfüllung seiner messianischen Hoffnungen und Bitten. Die 70 Jahre des Exils seien wohl, wie er n seinem Gebet bekannt habe, eine Strafe für die Sünden des Volks gewesen, aber nicht die vollkommene Buße derselben vor Gott; Gott werde jetzt allerdings seine vergebende Gnade über Israel walten lassen, aber die völlige Sühnung und Vergebung der Sünden, die ewig gültige Wiederherstellung des Wohlverhältnisses zwischen Gott und den Sünder ( צדקה, δικαιοσύνη, Gerechtigkeit) werde erst nach 70 Jahrwochen eintreten. Durch welches Opfer diese Süznung der Sünde geschehen soll, darauf deutet Vers 26 mit dem Ausdruck יִכָּרֵת ("der Messias wird ausgerottet werden"), welcher an das Schlachten der Opfertiere bei Bundesschlüssen erinnert (כָּרֵת בְּרִיתִ ). Und daran reiht sich dann weiter V. 27 der וְהִגְבִּיר בְּרִית ("und wird Vielen den Bund stärken") und die Weissagung, dass das alttestamentliche, blutige Opfer (Schlacht- und Speiseopfer) abgeschafft werden soll. So bietet der Engel dem Propheten eine ineinander greifende Kette von Ausdrücken dar, derer einer den anderen hält und trägt und erklärt, und welche zusammen den Messias als das vollendete Sühn- und bundesopfer darstellen; ein Aufschluss, welchen Daniel, der Schriftforscher, aus einem Vergleich dieser Offenbarung mit Jes 53. noch genauer verstehn konnte.

In dieser Zeit des Heils, fährt nun Gabriel fort, werde nicht bloß Jeremias Weissagung, sondern Gesichte und Propheten überhaupt ihre Erfüllung finden (s. Lk 16:16; 2Kor 1:20); und nicht bloß ein neues Heiligtum werde geweiht werden, wie Daniel gebeten, sonder ein Allerheiligstes, in welchem Gott auf eine neue Weise bei seinem Volke vwohnen wolle (s. Joh 2:19-22). Man braucht das קֹדֶשׁ קָֽדָשִׁים nicht maskulinisch zu nehmen, wie L u t h e r: der Allerheiligste, obwohl das Wort namentlich in Verbindung מָשִׁיחַ so deutlich auf den Messias hinweist, dass auch jüdische Ausleger, wie A b a r b a n e l u. a., diese Beziehung anerkennen. Der Gedanke ist zunächst der: wie und weil dann das vollendete Opfer zur Sühnung der Sünden dargebracht werden wird, so wird auch die heilige Gegenwart Gottes in vollendeter Weise vorhanden sein (vgl. 2Mo 40:9.34). Denn nur wo die Sünde ganz hinweggeschafft ist, da kann Gott ganz gegenwärtig sein. Darum war der Deckel der Bundeslade, auf welchem Jehova über den Cherubim im Allerheiligsten thronte, zugleich das Sühnegerät ( ἱλαστήριον Röm 3:25). Was hier typisch dargestellt ist, das soll in der messianischen Zeit seine Erfüllung finden.

Die siebzig Jahre des Exils sind also,dies ist der Grundgedanke unseres Verses, nur ein Vorbild weiterer siebzig Jahrwochen, und die Erlösung aus dem Exil am Ende der siebzig Jahre ist ebenso nur ein schwaches Vorbild der vollen messianischen Erlösung am Ende dieser siebzig Jahrwochen. Die folgenden drei Verse haben nun die Bestimmung, diese siebzig Jahrwochen in denjenigen Hauptmomenten ihres Inhalts, um die es sich hier handelt, genauer zu charakterisieren.

Es wird zunächst V. 25 die allgemeine Weissagung des vorhergehenden Verses näher dahin erläutert, dass die Erscheinung de Messias nicht, wie Daniel wohl gehofft, nach dem Exil eintreten und mit der Wiederherstellung des Volkes und Erbauung der Stadt zusammenfallen werde; vielmehr müssen 7 und 62, also 69 Jahrwochen dazwischen vergehen. In dieser Zeit werde Jerusalem allerdings wiederhergestellt und gebaut werden, aber nicht in jener messianischen, göttlichen Herrlichkeit, wie sie z. B. Jes 54:11f und Jes 60-62 verheißen ist, sondern nur in irdisch äußerlicher und dürftiger Weise, mit Straßen und Gräben: es werde ein kümmerliche Zeit sein, wohl besser als das Exil, aber noch lange nicht so voll Gnade und Heil, wie die messianische Zeit.*)

*) H o f m a n n (Schriftbeweis I, S. 44) drückt ganz den Gedanken unserer Stelle aus, wenn er sagt: "Das Volk Israel musste die Stätte sein, wo Jesus erschien und die Herstellung der vollkommenen Gottesgemeinschaft ihren Anfang nahm. Hierzu bedurfte es - nach dem Exil - einer, aber nur für diesen Zweck ausreichenden, Wiederherstellung der aufgelösten Volksgestaltung, die dann zum Vorbild der vollendeten Wiederherstellung wurde."

So war nun der Blick des Propheten vom Ende des Exils weg und ans Ende der 69-sten Woche hingelenkt, als an welchem der Messias erscheinen werde. Was vorhergeht, dabei soll er nicht stehenbleiben, daran soll er sein Herz nicht hängen. Denn das Schicksal von Volk und Stadt, um welches er besorgt ist, wird doch nur davon abhängig sein, wie sie zum Messias sich stellen. Darum tritt jetzt in den beiden folgenden Versen Schicksal und Tätigkeit des Messias in den Vordergrund, und nur in zweiter Linie, in Abhängigkeit davon erscheint je in der zweiten Vershälfte das Schicksal der Stadt und des Heiligtums. Es ist nun aber hier ein Doppeltes zu verkündigen. Die messianische Zukunft hat eine negative Seite neben der positiven, der Messias wird gesetzt zu einem Fall und Auferstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird (Lk 2:34). In dieser Doppelgestalt, Heil und Gericht zugleich verkündigend, tritt ja die messianische Weissagung bei allen Propheten auf, von Joel an (Joe 3:1-5) bis Maleachie (Mal 3:1-6.19-21), ja bis auf den greisen Simeon und Johannes den Täufer (Lk 2:29-35; Lk 3:7-18). Diese Doppelheit der Momente finden wir nun auch in unserer Weissagung, nur in der individuellen Bestimmtheit, wie sie durch die Fixierung des Blickes auf die Fleischestage des Messias und auf das hieran sich knüpfende Schicksal des Volkes und der Stadt, das in der römischen Zerstörung Jerusalems sich erfüllt, geboten wird. Dem negativen Moment ist V. 26, dem positiven V. 27 gewidmet.

Dan 9:26: Das negative Moment ist die Verwerfung des Messias von Seiten Israels: er wird getötet und sein Volk huldigt ihm nicht. Zur Strafe dafür wird Stadt und Heiligtum von einem auswärtigen Fürsten zerstört. Jesus selbst hat den ursächlichen Zusammenhang beider Ereignisse, seines Todes und der Zerstörung Jerusalems, bei seiner Hinausführung zum Kreuz "im Herzen gehabt" (R o o s) und schon vorher in der Passionswoche wiederholt ausgesprochen (Lk 23:28-32; Mt 21:37-41; Mt 23:37.38). Der letzte Teil unseres Verses schildert dann die Zerstörung und die ihr vorangehenden Wehen noch genauer: das Ende der Stadt und des Heiligtums ist in stürmischer, schrecklicher Kriegsflut; denn bis zu diesem Ende ist Krieg (vgl. Mt 24:6; Kriege und Geschrei von Kriegen), von Gott über das Land verhängte Verwüstungen. Wie sich das im jüdischen Krieg erfüllt hat, ist bekannt.

Diese beiden Ereignisse, die Tötung des Messias und infolge davon die Zerstörung von Stadt und Heiligtum, sind für das Volk im ganzen die Entscheidungspunkte in der mit dem Schluss der 69sten Woche beginnenden messianischen Zeit. Daher werden sie zuerst hervorgehoben und ohne nähere Zeitbestimmung als nach der 69sten eintretend bezeichnet (der Text sagt: nach den 62 Wochen; denn die 7 brauchen als den 62 vorangehend natürlich nicht wiederholt zu werden). Die nachdrückliche Hervorhebung dieser beiden Ereignisse und ihres Kausalzusammenhangs ist also der leitende Gedanke in V. 26. Daniel und die israelitischen Leser der Weissagung mussten nämlich erwarten, dass der Messias bei seinem Auftreten nach Ablauf der 62 Wochen (Vv. 25) das Reich der Herrlichkeit errichten werde, auf welches Israels Blicke vorherrschend gerichtet waren, und welches auch unser Prophet in Kap. 2 und 7 geschaut hatte. Um nun diese Erwartung, die nicht erfüllt werden sollte, gleich von vorne herein abzuschneiden, lässt Gabriel den chronologischen Faden einen Augenblick fallen, um ihn erst V. 27 wieder aufzunehmen, und reiht mit der allgemeinen Bestimmung "nach den 62 Wochen" diejenigen Hauptereignisse an, welche jene irrige Hoffnung vor allem zu berichtigen geeignet sind, den Tod des Messias und die Zerstörung Jerusalems. Dies ist also nicht so zu verstehen, als ob diese beiden Ereignisse unmittelbar mit dem Schluss der 62sten Woche zusammenfallen sollten. Vielmehr fällt ja nach V. 25 an den Schluss der 62sten Woche erst das Auftreten des Messias, welches doch nicht mit seinem Tode beginnen kann, der vielmehr, wie wir aus V. 27 sehen werden, erst eine halbe Woche nachher erfolgt, während die Zerstörung Jerusalem noch viel später eintritt. Diese wird aber noch mit zur messianischen Zeit gerechnet als die negative, gerichtliche Seite derselben, wie denn auch Christus selbst die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen darstellt (Mt 16:28). Der Engel will also sagen: Du musst nicht nur die Hoffnung aufgeben, dass der Messias gleich nach dem Exil auftreten werde, sondern auch noch die andere, dass er, wenn er einmal aufgetreten ist, sogleich sein Herrlichkeitsreich errichten werde.Vielmehr wird es den umgekehrten Weg gehen: er wird getötet werden von dem ungläubigen Volk, und daher wird auch dieses nicht zu Macht und Ehre gelangen, sondern mit Stadt und Heiligtum in die Hände der Heiden dahin gegeben werden. Das ist für Israel als Volk die Aussicht in die nächst bevorstehende messianische Zukunft.

Aus dem Bisherigen erklärt sich nun auch die Abwechslung in den für den Messias gewählten Bezeichnungen. Er wird eingeführt V. 2 5 als Maschiach Nagid ("der Gesalbte, der Fürst"); dagegen wird V. 26 dieser Doppelbegriff auseinander gelegt, und der Messias heißt nun noch einfach Maschiach, die Benennung Nagid dagegen wird auf den römischen Fürsten, der Jerusalem zerstört, auf Titus übertragen. Das alles ist charakteristisch und bedeutungsvoll. Wir erklären das Maschiach Nagid wohl am besten mit Hofmann (die siebzig Jahre usw. S. 67f.) so, dass wir den Messias in Maschiach als König Israels, als geistgesalbten, geistlichen Fürsten, in Nagid als König der Heiden, als Weltherrscher, bezeichnet finden. Für ersteres isst die Beweisstelle Ps 2:2, für letzteres Jes 55:4. Nach diesen beiden Seiten musste derselbe für Daniel charakterisiert werden; denn so hatte er im 7. Kapitel den Menschensohn geschaut, an der Spitze des heiligen Volkes die ganze Welt beherrschend. Bei dem Tod des Messias (V. 26) nun aber trat es hervor, dass er noch nicht wirklicher Weltherrscher sei; vielmehr war damals die Welt noch im Besitz der vierten Monarchie, und daher heißt ihr Vertreter hier Nagid. Was dagegen Christo den Tod brachte, war sein Bekenntnis, dass er Maschiach sei (Mt 26:63ff. vgl. Joh 18:33-37), weswegen auch an seinem Kreuze, in buchstäblicher Erfüllung unserer Weissagung, geschrieben stand: Jesus von Nazareth, der Juden König (Mt 27:37.42) (L u t h e r hatte die Worte יִכָּרֵת מָשִׁיחַ auf einem seiner Tischgeräte eingegraben.)- Noch mehr als dieses Auffassung empfiehlt sich in mancher Hinsicht die von E b r a r d, welcher auch das Nagid V. 26 auf Christus bezieht, wofür man anführen kann, dass er selbst, wie schon erinnert, die Zerstörung Jerusalems als sein messianisches Kommen bezeichnet. "Der Erlöser wird der Gesalbte genannt, wo von seinem Leiden und seiner Verkennung die Rede ist; er wird Fürst genannt, wo von dem Gericht die Rede ist, das er sendet; Maschiach bezeichnet seinen Beruf und seine Würde, Nagid seine Macht und Gewalt. Ein Volk, von diesem Fürsten gesandt, wird Stadt und Tempel verwüsten- Dies bildet den großartigen Kontrast zu אֵין לֹו. Er wird ausgerottet und hat gar nichts mehr; und er ist der Fürst, der kommen soll, und dem die Völker der Erde gehorchen" (Offb Joh S. 70f.).

Doch jene beiden traurigen Ereignisse, der gewaltsame Tod des Messias und die Zerstörung der Stadt und des Tempels, sind nicht das Einzige und Letzte, was der Engel dem Propheten mitzuteilen hat; er kann auch noch etwas Positives und Erfreuliches hinzufügen. Immerhin bringt der Messias noch eine Woche der Offenbarung und des Heiles, von welcher nun V. 27 die Rede isst. Dieselbe wird freilich nicht vom Volk im Ganzen - da gilt das וְאֵין לֹו V. 26 -, aber doch noch von Vielen benützt, denen befestigt und stärkt der Messias den Bund, während über den anderen das Verderben sich zusammenzieht; er bringt sie in ein noch engeres festeres Bundesverhältnis zu Gott, indem er eine neue Ökonomie gründet, wo nicht mehr das alte Opferwesen herrscht, ein Gedanke, der schon vorher positiv durch die Verheißungen des V. 24 und negativ durch die Verkündigung der Zerstörung des Heiligtums V.26 angedeutet war, dass es dem Daniel hierbei möglich gewesen sei, in dem V. 26 geweissagten Tod des Messias das Opfer des neuen Bundes zu ahnen, durch welches die alttestamentlichen Opfer aufgehoben wurden, haben wir schon bemerkt. Auf der verwüsteten Stadt aber, fährt der Engel fort, und auf dem zerstörten Tempel bleibt um der von dem unheiligen Volk an dem Heiligen verübten Gräuel willen der Fluch liegen bis zu der von Gott genau bestimmten Vollendungszeit. Dieses letzte Wort musste dem Daniel, zumal wenn er es mit den früher empfangenen Offenbarungen zusammenhielt, nun auch noch einen Hoffnungsstrahl für Stadt und Volk im Ganzen bieten. Und damit schließt die Weissagung, mit einer leisen Andeutung in das 7. Kapitel einmündend, wo der Prophet erfahren hatte, dass einst in der Vollendungszeit alle Weltmacht gerichtet werden und dann das Volk der Heiligen des Höchsten zur Herrschaft gelangen solle. (Vgl. E w a l d, die Propheten des Alten Bundes II, S. 571).

Wir fügen noch einige erläuternde Bemerkungen über diesen schwierigen Vers hinzu.