Die Wende zur Zeit Daniels

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Abschrift des Buches: Zeitenwende
Eine Bibelhilfe aus dem Danielbuch

Verfasser: Georg Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach)
Verlag: Wilhelm Fehrholz Baden-Baden (1947)

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Inhaltsverzeichnis
Einführung

I. Die Wende zur Zeit Daniels

Wendezeit I s r a e l s

Das Danielbuch gehört in die Zeit der babylonischen Gefangenschaft Israels. Diese war eine Wende von großem Ausmaß innerhalb der Geschichte des erstberufenen Gottesvolks. Deren erster Teil war mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch den König Nebukadnezar, und mit der Wegführung des Volks nach Babel abgeschlossen, und zwar unter dem Zeichen des Gerichts Gottes. Es war ein äußerer und innerer Zusammenbruch von einer Tiefe, die es von außen gesehen fraglich machte, ob die Geschichte Israel, als des Gottesvolks, überhaupt noch eine Fortsetzung finden werde. Daniel selber war von diesem Zusammenbruch mitbetroffen. Er war, noch vor der letzten Katastrophe, mit einer Anzahl anderer junger Leute aus den besten Häusern, nach Babel verschleppt worden, wie etwas später der Prophet Hesekiel. Die beiden, Hesekiel und Daniel, sind die Propheten der babylonischen Gefangenschaft; nur mit dem Unterschied, dass Hesekiel mitten unter den Weggeführten lebte und wirkte, und der Sprecher Gottes zu ihnen war, während Daniel eine Sonderstellung einnahm, weil er am fremden Hof lebte und Dienst zu tun hatte. Aber Propheten waren beide. Der Verschiedenheit ihrer äußeren Stellung entsprach auch der Unterschied der ihnen zuteil gewordenen göttlichen Einblicke: Hesekiel hatte den W e g g e f ü h r t e n Gottes Wort zu s a g e n, um sie für Gottes neues Wirken reif zu machen, während Daniel die B l i c k e bekam in den Fortgang der ganzen W e l t g e s c h i c h t e, aber in deren Verflechtung mit der Geschichte des Gottesvolks.*

Anmerkung 2:

Z w e i t e r Jesaja?
*Hesekiel und Daniel sind oben als die e i n z i g e n Propheten der babylonischen Gefangenschaft genannt. Man hat aber lange von einem anderen Propheten dieses Zeitraums gesprochen, nämlich von dem sogenannten z w e i t e n Jesaja, dem man die Kapitel Jes 40-66 des Jesajabuches zuschrieb. Nun soll kein einziges ungutes Wort gegen diejenigen gesagt werden, die zu dieser Annahme glauben genötigt zu sein und die einige Gründe für ihren Glauben geltend machen können, z. B. den Unterschied der Sprache zwischen dem 1. und 2. Teil des Buchs und den weiteren Umstand, dass man den Inhalt des 2. Teils am besten versteht vom Boden der babylonischen Gefangenschaft aus, genauer: von der Zeit kurz vor ihrem E n d e. Nur muss man sich darüber klar ein, dass das alles nur eine Annahme ist, die mit geschichtlichen Nachrichten nicht belegt werden kann. Es ist aber gut möglich, ja wahrscheinlich, dass der e i g e n t l i c h e Jesaja etwa 150 Jahre vor der babylonischen Gefangenschaft gelebt und gewirkt hat, und im voraus am Schluss seiner Wirksamkeit die spätere Zeit so deutlich hat sehen dürfen, dass es uns nun hintendrein vorkommt, als habe er erst in jener Zeit gelebt und vom Boden jener Zeit aus geschrieben.
Gerade wenn er im Geist in jene spätere Zeit entrückt worden ist, ist es verständlich, dass auch seine Sprechweise eine andere Art angenommen hat. In welchem Maaß Jesaja im Geist in späteren Zeiten gelebt hat, so dass er sie als g e g e n w ä r t i g, ja als bereits v e r g a n g e n empfand, das ist an einem Kapitel des 2. Teils ersichtlich, nämlich an Jes 53. Dieses Kapitel handelt von etwas, was zur Zeit Jesajas noch in ferner Zukunft lag, nämlich von dem Leiden des Gottesknechts, wie es in der Passion Jesu wirklich geworden ist. Und doch hat er davon gesprochen in der V e r g a n g e n h e i t s form: „Er t r u g unsere Krankheit.“ Ferner sei noch darauf hingewiesen, dass man auch Stücke im ersten Teil des Jesajabuches vom eigentlichen Buch abtrennen müsste, wenn man der Überzeugung ist, Jesaja habe nur von solchen Dingen der Zukunft gesprochen, die u n m i t t e l b a r auf seine damalige Gegenwart folgten. Denn schon im ersten Teil ist von Babel, und vom Sturz des babylonischen Königs die Rede, obwohl die babylonische Herrschaft zur Zeit Jesajas noch in weiter Ferne lag.

Der Grund, weshalb von dem allem gesprochen wurde, entspringt nicht dem Verlangen, die Kritik an der Bibel wieder zu kritisieren, vielmehr dem Bedürfnis, das Wort der Bibel so zu fassen und zu lassen, wie es sich gibt.

Wende im O r i e n t

Die Wende, die in Israels Geschichte durch die babylonische Gefangenschaft entstanden ist, muss aber noch in einem w e i t e r e n Zusammenhang gesehen werden, nämlich in ihrer Verflechtung mit der ganzen W e l t geschichte. Jene Zeit, und schon die ihr vorausgehende Zeit, ist gekennzeichnet durch einen gewaltigen Umbruch im ganzen Orient. Unter Orient verstehen wir das Mittelstück des großen Kontinentalblocks Europa-Asien-Afrika*

Anmerkung 3:

Geographie im biblischen Sinn
*Die Bibel berichtet, dass der O r i e n t die Wiege der Menschheit war, nicht etwa der Norden Europas, wie es schon behauptet worden ist; auch nicht etwa Afrika, wie es z. T. heute behauptet wird. Desgleichen erzählt die Bibel, dass die n e u e Menschheit nach der S i n t f l u t ebenfalls im Orient ihren Anfang nahm, und zwar im armenischen Hochland. Von dort aus drang sie, den beiden Strömen Euphrat und Tigres folgend, in das fruchtbare Zweistromland vor. Dieses Land ist der Boden, auf dem die großen, alten Weltstädte entstanden sind, unter ihnen hauptsächlich Ninive und Babel. Und von dort aus hat sich die Menschheit über die Erde verbreitet. Auf welchen Wegen die Besiedlung der Erde durch die neue Menschheit zustande gekommen ist, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Was die Besiedlung Amerikas anbetrifft, so ist sie möglicherweise über die schmale Meeresstraße zwischen dem nördlichen Asien und dem nördlichen Amerika erfolgt. Das hätte freilich andere klimatische Verhältnisse zur Voraussetzung als sie heute in jenen nördlichen Gegenden herrschen. Aber ob eine Änderung des Klimas in g e s c h i c h t l i c h e n Zeiten g a n z ausgeschlossen ist?

Drei Völkergruppen
Aber viel wichtiger als die Frage, w i e die Besiedlung der Erde durch die neue Menschheit sich vollzogen hat, ist der biblische Bericht darüber, dass die Völkerwelt aus d r e i G r u p p e n bestehe, die man nach den drei Söhnen Noahs die Semiten, Japhetiten und Hamiten nennen kann (s. die Völkertafel 1Mo 10). D i e s e Einteilung der Menschheit ist etwas anderes als die nach R a s s e n. Die letztere verwendet einen ganz anderen Gesichtspunkt, sofern sie den Menschen nur nach seiner N a t u r seite, nach rein k ö r p e r l i c h e n Merkmalen erfasst, und demgemäß die Menschheit einteilt. Auch in diesem Punkt wird die Bibel recht behalten. Welche ernste Folgen übrigens die Betonung des R a s s e mäßigen hat, das hat die Geschichte des letzten Jahrzehnts bewiesen. Das Blut ist nicht das einzige, was das Wesen des einzelnen und der Völker bestimmt. Vielmehr ist die Art eines jeden Menschen, und ebenso der Völker wesentlich durch das bestimmt, was sie an Besonderheiten von Gott her mitbekommen haben, und durch die Stellung, die ihnen Gott inmitten der anderen und an ihrem bestimmten geschichtlichen Standort zugewiesen hat.
Das Wort „Semiten“ ist allgemein im Gebrauch. Dem Umfang nach sind sie die kleinste Gruppe innerhalb der Völkerwelt. Aber biblisch betrachtet hatten, und haben sie für den Menschheitsgang eine größere Bedeutung, größer als z. B. die alten Griechen und Römer mit ihren, bis in die Gegenwart reichenden Nachwirkungen. Die hauptsächlichen d e r z e i t i g e n Vertreter der Semiten sind die Juden und Araber, beides Völker von weltgeschichtlicher Bedeutung. Seit Mohammeds Zeit haben die Araber die Weltgeschichte bis in ihre Tiefen aufgewühlt. Zu Beginn des Mittelalters hat nicht viel gefehlt, dass sie die ganze Welt um das Mittelmeer herum aus den Angeln gehoben hätten. Juden und Araber sind ihrer Abstammung nach Brüder und trotzdem, ja vielmehr gerade deshalb, grimmige gegenseitige Feinde. Ihre Feindschaft drückt der gegenwärtigen Geschichte des Heiligen Landes den Stempel auf. Sie sind die Nachkommen Ismaels und Isaaks, die b e i d e Abrahams Söhne waren: der eine dessen vorzeitiger Sohn von der Magd, der andere der Sohn der Verheißung von seiner Gattin. Die Familiengeschichte - wir könnten auch sagen: die Familientragödie - in Abrahams Haus, die sich um Ismael und Isaak abspielte, hat in der Feindschaft zwischen den Arabern und Juden, die bis jetzt noch nicht zum Austrag gekommen ist, ihre weltgeschichtliche Fortsetzung gefunden. - F r ü h e r war der Kreis der semitischen Völker umfangreicher. Wie später zu zeigen ist, gehörten ihren auch die Assyrer und Babylonier an.’'
Die Bezeichnung „Japhethiten“ wird selten verwendet. Der Umfang ihres Kreises deckt sich annähernd mit dem Völkerkreis, den wir die „Indogermanen heißen. Zu denen gehörten in der alten Zeit die Perser, Griechen und Römer, in der heutigen die europäischen Völker mit ihren Ablegern in Amerika. Auch die Oberschicht der Bevölkerung Indiens gehört hierher. Die Japhethiten und Semiten sind die Herren der Welt geworden und haben sich die Hamiten dienstbar gemacht. So im Beginn der neueren Geschichte die Ureinwohner Amerikas und später die Bevölkerung Afrikas auf dem Weg der Unterjochung (Kolonisation genannt); oder so, dass sie die hamitischen Völker ihrem Einfluss unterwarfen, wie beispielsweise die Chinesen. Nur e i n hamitisches Volk hat den Weg zur Abschüttlung des Joches, und zur Erringung eigener Weltherrschaft versucht, nämlich die Japaner. Gelungen ist es ihnen nicht.
Bereits im Vorstehenden ist ersichtlich geworden, dass man unter „Hamiten“, wenn man sie nämlich im biblischen Sinn versteht, einen weiteren Völkerkreis fassen muss als nach dem sonst üblichen Sinn des Worts. Im letzteren Fall denkt man nur an die schwarze Bevölkerung Afrikas. Es ist aber sowohl kulturgeschichtlich als abstammungsmäßig wahrscheinlich, dass die von Ham ausgehende Völkergruppe den größten Teil der Menschheit umfasst, nämlich außer der Negerwelt Afrikas auch die Urbevölkerung Amerikas, und zwar sowohl deren hochstehende alte Völker, die von den ersten Einwanderern in Amerika unterworfen worden sind, als auch die Reste der Indianer, die sich heute noch im amerikanischen Gebiet finden. Weiter gehört zu dieser Völkergruppe die Urbevölkerung Indiens, die später von den Indogermanen unterworfen wurde. Ebenso werden die Chinesen und Japaner, die alte Bevölkerung Australiens und die Bewohner des Pazifiks den Hamiten zuzurechnen sein. Kein Glied der hamitischen Völkergruppe hat sich auf die Dauer dem Zugriff der semitischen, und namentlich der japhethitischen Völkergruppe entziehen können. Was bei diesen Zugriffen an der Urbevölkerung Amerikas, und bis vor nicht allzu langer Zeit an der Negerwelt Afrikas gesündigt worden ist, ist damit nicht gutgeheißen. In welchem Maße ist das Fluchwort in Erfüllung gegangen, das einst der Stammvater der zweiten Menschheit, nämlich Noah nach der Sintflut über seinen Sohn Ham ausgesprochen hat wegen dessen unehrerbietiger Haltung gegen seinen Vater! Hams Nachkommen hatten den Fluch zu tragen. Zuerst wurde, bereits in alter Zeit, Hams jüngster Sohn Kanaan, genauer gesagt die Kanaaniter, davon betroffen (1Mo 9:25). In seinem Sohn Kanaan hat Noah dessen Vater Ham zum geringsten Knecht seiner Brüder degradiert.

Diese drei Erdteile gehören schon rein geographisch gesehen zusammen, im Unterschied von dem, was die Bibel die „Inseln“ nennt. Nach biblischem Sprachgebrauch gehören zu den letzteren sogar ganze Kontinente, wie Amerika und Australien. Diese sind erst verhältnismäßig spät in den Gesichtskreis der Menschheit getreten.

Was nun den großen Kontinentalblock Europa-Asien-Afrika anbelangt, so war in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt dessen ferner Osten noch unbekannt; Afrika schlief noch mit Ausnahme Ägyptens und der Südküste des Mittelmeers; der größte Teil Europas zeigte damals noch wenig geschichtliches Leben, die spätere europäische Geschichte bereitete sich mit der Geschichte Griechenlands und Roms erst vor. Aber der Orient war schon lange in geschichtlicher Bewegung, namentlich im Zweistromland und in Ägypten. Gerade in diesem Gebiet gab es etwa vom 8. bis zum 6. Jahrhundert vor Christi Geburt große Umbrüche.

Die unsichtbaren Hintergründe des Weltgeschehens

Wie müssen vom b i b l i s c h e n Standpunkt aus solche Umbrüche verstanden werden? Wer die Geschichte nur nach i n n e r weltlichen Gesichtspunkten zu verstehen sucht, dem werden solche Völkerbewegungen als mehr oder minder zufällig erscheinen, oder er wird sie aus rein natürlichen Gründen zu erklären versuchen. Aber die Völkergeschichte hat auch einen ü b e r weltlichen Hintergrund, und auf den lehrt die B i b e l zu achten. Besonders das Danielbuch zeigt auf d i e s e m Hintergrund hin, wenn es h i n t e r den menschlichen Herrschern und Gewalthabern, und hinter der ganzen Regierungspolitik der Weltreiche, das Eingreifen und die Wirksamkeit der G e i s t e r w e l t sehen lehrt. Zwar vom Satan s e l b e r ist im Danielbuch noch nichts gesagt.*

Anmerkung 4:

Fortschritt der Enthüllung vom Alten zum Neuen Testament
*Im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, wird über die u n s i c h t b a r e Seite im menschlichen Geschehen noch mehr gesagt. Dem letzteren geht ein Geschehen am Thron G o t t e s voraus und zur Seite. Die widergöttliche Seite am Menschheitsgang hat s a t a n i s c h e n Hintergrund. Diese Einblicke finden sich aber nicht erst im letzten Buch der Bibel, sondern sind bereits im Wort Jesu enthalten, so schon in der 7. Bitte des Vaterunsers, die wahrscheinlich den Sinn hat: erlöse uns von dem „Bösen“, nämlich vom Satan; ferner die Einblicke, die der Herr in der Nacht des Verrats seinen, in diesem Stück noch ahnungslosen, Jüngern gegeben hat; aber ebenso Worte der Apostel, wie Eph 6:12, wo davon die Rede ist, dass hinter Fleisch und Blut, d. h. hinter dem eigenen menschlichen Wesen, und hinter der menschlichen Umgebung Gewalten aus der unsichtbaren Welt stehen - d i e s e n gelte der Kampf, und d e n e n gegenüber bedürfe ein Christenmensch einer geschlossenen, gottgegebenen Waffenrüstung.’'
Diese eingehendere Enthüllung der satanischen Hintergründe des Menschenlebens und des Menschheitsganges hängt damit zusammen, dass erst der Ü b e r w i n d e r des teuflischen Wesens und Wirkens offenbar werden musste, nämlich Jesus Christus, der durch sein Sterben und Auferstehen, und durch seine Erhöhung auf den Thron Gottes, zum Herrn auch über diese unheimlichen Mächte geworden ist, und der allein imstande ist, Menschen vor ihm zu decken und aus ihrer Verstrickung zu lösen. Das ist der Grund, weshalb erst im N e u e n Testament die Hülle weggezogen ist, welche noch über die Abgründe des menschlichen Daseins und Geschehens gebreitet war. Übrigens ist diese Hülle im Neuen Testament noch nicht g a n z weggezogen, denn in die „Tiefen des Satans“ - siehe diesen Ausdruck in Offb 2:24 - können wir noch nicht hineinsehen. Diese letzten Einblicke sollen wir nicht einmal b e g e h r e n, sonst könnte die Hand aus der Tiefe, vor der wir täglich der Bewahrung und Deckung bedürfen, nach uns greifen in allerlei Arten und Formen. Der Einblick in diese unheimlichen Dinge darf also nicht der Gegenstand der Neugierde sein, und darf deshalb auch nicht zum Zweck der Befriedigung der Wissbegierde begehrt werden, sondern muss dem Ernst dienen, der nach Lösungen aus satanischen Bindungen und Verstrickungen begehrt.

Aber von der Geisterwelt ist ihm Kunde gegeben worden, und zwar nicht nur von d e m Teil der Geisterwelt, der im Dienst G o t t e s in der Welt steht, sondern auch von den überirdischen Werkzeugen der w i d e r g ö t t l i c h e n Macht (zum ersteren vergleiche Dan 8:13; Dan 9:21; Dan 10:5; Dan 12:1; zum letzteren Dan 10:13)*

Anmerkung 5:

Die unsichtbaren Lenker der Weltpolitik
* Menge hat in seiner trefflichen Übersetzung des Alten Testamens die überirdischen Mächte, die hinter der Machtentfaltung und Politik des persischen und griechischen Reiches standen, mit dem Wort „Schutzengel“ wiedergegeben. Vielleicht ist er dabei der Übersetzung von E. Kautzsch gefolgt, die noch wesentlich unter dem Einfluss der kritischen Stellungnahme zum alten Testament stand. Der in der hebräischen Bibel verwendete Ausdruck heißt „Fürst“. Die Übersetzung „Schutzengel“ ist bereits eine A u s l e g u n g, aber eine irreführende. Denn der Leser kann sich darunter nur g u t e Geister Gottes denken. Wären aber s o l c h e gemeint, dann müsste nicht von einem K a m p f der guten Geister mit den unsichtbaren Regenten der persischen und griechischen Weltmacht gesprochen werden. Der Ausdruck der „Fürst Persiens“ und „der Fürst Griechenlands“ liegt auf der gleichen Linie wie der neutestamentliche Ausdruck „der Fürst dieser Welt“. Der letztere leitet die g a n z e Weltgeschichte in Richtung auf ein widergöttliches Weltziel; und die „Fürsten“ der jeweiligen Weltmächte sind die unsichtbaren Beauftragten d e s „Fürsten der Welt“. D i e s e „Fürsten“ sind also von den m e n s c h l i c h e n Herrschern zu unterscheiden. Die letzteren üben ihre Herrschaft nur eine Zeitlang aus. Dann sterben sie, und andere treten an ihre Stelle. Dagegen die unsichtbaren Fürsten b l e i b e n und bestimmen die Politik der Weltmacht auf l a n g e Zeiträume, manchmal auf Jahrhunderte und noch länger.’'
Die vorstehend gezeichnete prophetische Geschichtsauffassung bildet eine Erklärung dafür, wie es kommt, dass die Politik einer Weltmacht bei allem Wechsel der Herrscher in sich gleich bleibt. Sie zeigt zugleich, dass die jeweils in der Geschichte aufkommenden und sich durchsetzenden Geistesströmungen und Weltanschauungen einen unsichtbaren Hintergrund haben, und letzten Endes aus der Geisterwelt stammen. Damit ist auch ihre jeweils die Gemüter ergreifende, und in Bann schlagende Macht erklärt.
Im Danielbuch ist aber nicht nur von der Wirklichkeit und Wirksamkeit solcher überidischen Mächte die Rede, sondern auch von K ä m p f e n, die in der unsichtbaren Welt stattfinden. Kämpfe gibt es also nicht nur auf dem i r d i s c h e n Schauplatz der Geschichte. Gottes Regierung lässt wohl den satanischen Mächten nach der Regel des heiligen Rechts einen gewissen S p i e l r a u m, aber sie tritt auch g e g e n sie auf. In der j e t z i g e n Weltzeit freilich nur zurückhaltend, hindernd und eindämmend. Die Finsternismächte möchten mit ihren Plänen r a s c h, und ohne Unterbrechung zum Ziel kommen. Aber durch den Dienst der guten Geister legt Gott im Kleinen und Großen auch in das abwegige Geschehen A t e m p a u s e n ein, die für das Nähertreten s e i n e s Reiches Raum schaffen. Diese unsichtbaren Schutzmächte werden aber zu ihrer Zeit zurückgezogen werden. Hierher wird wohl gehören, was 2Thes 2:6.7 gesagt ist vom Weggetanwerden dessen, d e r aufhält und w a s aufhält. „Der Schacht des Abgrunds wird einmal geöffnet werden“ (Offb 9:1-2), so dass die sprichwörtliche Redensart; „die Hölle ist los“ in buchstäblichem Sinn zu schrecklicher Wirklichkeit werden wird. Wird es einmal so weit sein, dann wird der Menschheitsgang r a s c h seinem schlimmen Ausgang entgegeneilen. Nach der Gerichtskatastrophe am Schluss des jetzigen Zeitlaufs soll der „Fürst dieser Welt“ auf lange Zeit unter Verschluss gelegt werden. Dadurch wird der Raum frei werden für die Aufrichtung des Reiches Gottes auf dieser Erde unter dem wiederkommenden Herrn. Das ist aber noch nicht des Reiches Gottes letzte, vollendete Gestalt. Erst die e n d g ü l t i g e Ausschaltung der satanischen Wirkungen, die Offb 20:10 verheißen ist, wird das eigentliche Ziel herbeiführen. V o l l e n d e t wird das Reich Gottes sein nach der Beseitigung a l l e r widergöttlichen, gottfeindlichen Mächte durch Christus, der nach seinem völligen Sieg sein Christusamt als ein restlos durchgeführtes in Gottes Hände zurücklegen wird (1Kor 15:28).

Praktische Bedeutung solcher Einblicke
Das sind Aufschlüsse, die bereits auf der Linie des Danielbuchs liegen, die aber durch das Zeugnis des Neuen Testaments bestätigt, und weiter ausgeführt worden sind. Welch p r a k t i s c h e Bedeutung solchen Aufschlüssen innewohnt, das möge noch an drei Punkten zu zeigen versucht werden.
Einmal: wieviel Not und Elend erwächst den Völkern und den Einzelnen durch das Aufkommen und die Tätigkeit von Gewaltmenschen! Daran entzündet sich dann wiederum der Hass gegen die letzteren, manchmal über deren Tod hinaus. Die Empfindung und das Urteil solchen Männern gegenüber wird zurückhaltender und stiller, wenn erfasst wird, dass sie, ihnen selbst nicht oder kaum bewusst, Werkzeuge in der Hand des „Fürsten dieser Welt“ waren, bzw. in der Hand der von ihm beauftragten unsichtbaren Fürsten aus der unheimlichen Geisterwelt. Das Schuldkonto solcher Männer wird damit nicht aufgehoben. Einesteils wird allerdings ihre Schuld etwas kleiner, sofern sie nicht aus eigenem Antrieb und in eigener Selbstständigkeit handelten. Auf der anderen Seite wird aber ihre Schuld noch größer, weil sie sich von den Finsternismächten bestimmen ließen. Der Grad solcher Schuld ist verschieden. Deren höchster wird einmal von dem „Menschen der Sünde“ (2Thes 2:3) erreicht werden, der einst wissentlich und vollständig sich zum satanischen Dienst hergeben wird, so dass der Fürst dieser Welt ihn zu seinem e i g e n t l i c h e n Beauftragen machen kann, und damit zum Gegenstück und Widersacher des Beauftragten G o t t e s, nämlich des Christus, also zum Anti-Christus. Denen, die das Unheil sehen, und die unter dem Unheil leiden, das von solchen Männern ausgeht, wird durch sölche Erkenntnis die persönliche Bitterkeit und der persönliche Hass erspart, ohne dass sie deshalb empfindungslos und nachlässig werden müssten.
Dazu kommt ein Zweites: es ist eine ernste Sache, sich den jeweiligen Zeitströmungen bedenkenlos aufzuschließen und hinzugeben, mögen sie nun mehr gedanklicher oder praktischer Art sein. Was wir e m p f a n g e n könnten, das ist nicht nur der H e i l i g e G e i s t, sondern auch den Geist der W e l t (1Kor 2:12). Beide, d. h. sowohl der Heilige Geist als der Geist der Welt, gehen da ein, wo sie offene Pforten finden. Es ist erschütternd zu sehen, wie die jeweiligen Zeitströmungen nach jedem greifen, der nicht gegen sie gefestigt ist. Es es ergreifend, die Gewalt wahrzunehmen, die solche Gedankenkreise und Willensrichtungen auf diejenigen ausüben, die sich ihnen hingeben. Um sich solchen Strömungen und Strebungen zu entziehen, ist die Hilfe dessen nötig, der der Durchbrecher aller Bande ist.
Daraus ergibt sich ein Drittes: wie nötig ist es, über sich selber zu wachen, sich unter die Zucht des Wortes und Geistes zu s t e l l e n, und sich unter der Zucht Gottes selbst in Zucht zu n e h m e n im glaubenden Anschluss an den Herrn, und im betendem Aufblick zu ihm, und in der Deckung durch ihn! Das gilt nicht nur gegenüber der jeweils herrschenden Zeitströmungen, sondern auch gegenüber dem, was zu a l l e n Zeiten in der Welt ist. Dessen ist viel und vielerlei und gleichzeitig nur wenig. Denn letzten Endes geht das, was die Welt füllt, nach einem bekannten Wort des Apostels Johannes (1Jo 2:16) auf drei Dinge zusammen: auf das Begehren dessen, was an uns Fleisch ist; auf das Verlangen, die Augen zu befriedigen durch das Sichtbare, und auf die stolze Ausstellung und Aufblähung des menschlichen Lebens, die selbst in den feinsten Formen der Kultur vor sich gehen kann. Johannes hat gesagt, diese drei Dinge seinen a l l e s, was die Welt fülle. Und die Welt s e l b e r liege im Bann dessen, der der Arge ist (1Jo 5:19), und sei deswegen mit all ihrem Begehren dem Vergehen unterworfen. Ewigen Bestand hat nur, wer den Willen Gottes tut.

Der satanische Weltplan und Gottes Gegenwirkung

So ist hinter dem, was Daniel von den Abgründigkeiten der Weltgeschichte sehen durfte, doch bereits etwas vom „Fürsten dieser Welt“ wahrzunehmen, wie Jesus den Satan genannt hat. Auf diese Hintergründe des Weltgeschehens soll nun bei der Beschreibung der Zeitwende der babylonischen Gefangenschaft besonders geachtet werden. Zu diesem Zweck ist aber ein kurzer Überblick zu geben über die biblische Geschichtsdarstellung überhaupt:

Die Menschheit ist für das Reich G o t t e s bestimmt, aber Gott hat einen W i d e r s a c h e r, der die menschliche Geschichte und die ganze Völkerwelt nach s e i n e n Plänen und zu s e i n e m Ziel zu leiten versucht. Von ihm war den letzten Anmerkungen die Rede. Er hat auch den Umfang der ersten menschlichen Gesamtgeschichte so unheimlich beeinflusst, dass die erste Menschheit bis auf wenige ihrer Glieder, die die Brücke zur zweiten Menschheit wurden, n der Sintflut durch das Gericht Gottes wieder ausgetilgt wurde. Gott stellte nun zwar die werdende neue Menschheit auf eine neue Bahn. Aber bereits deren Stammvater Noah ahnte etwas von einer kommenden Fehlentwicklung an den zuchtlosen Art seines jüngsten Sohnes, über dessen Geschlecht er deshalb den Fluch ausgesprochen hat. Tatsächlich hat der Widersacher Gottes auf den nun beginnenden neuen Menschheitsgang ebenfalls Einfluss gewonnen, indem er versuchte, die werdende neue Menschheit zu einem von i h m bestimmten Ganzen zusammenzufassen.

Die Sonderstellung Israels

Die Menschheit hatte damals zahlenmäßig noch einen kleinen Umfang. Sie meinte, als sie sich durch den Turmbau zu Babel vor der Zerstreuung zu sichern suchte, in ihrem stolzen Sinn aus e i g e n e m Antrieb zu handeln, und ahnte nicht, w e r hinter ihren stolzen, himmelstürmenden Beginnen stand. Da hat Gott dieses stolze Gebilde zerschlagen, und hat die Menschheit auseinander getrieben in die Weiten der Erde. Die Entstehung der V ö l k e r hat also nach dem biblischen Bericht nicht nur n a t ü r l i c h e Ursachen, sondern ist eine Folge von Gottes g e r i c h t l i c h e m Eingreifen. Das letztere war allerdings mit G n a d e verbunden. Wohl ließ er nun zunächst die einzelnen Völker ihre eigenen Wege gehen, und die führten hinein in die Nacht der Gottferne und des Heidentums. Aber Gott hat sich ihnen trotzdem nicht unbezeugt gelassen, sondern hat das große Suchen und Sehnen nach ihm in sie hineingelegt, wie es ergreifend sogar in den irrigen Religionen und Gedanken der Völker zum Ausdruck kommt. Paulus hat das deutlich empfunden und ausgesprochen, als er auf seiner 1. und 2. Missionsreise mit dem Götzendienst in den abgelegenen Teilen des römischen Reiches (Apg 14) und am Hauptsitz der hochstehenden griechischen Kulturwelt, in Athen (Apg 17), bekannt wurde.

Durch die Vereinzelung der Völker hat Gott ihre Zusammenfassung zu einem w i d e r göttlichen Ganzen unterbunden, und zugleich hat er mit der Zerschlagung des ersten s a t a n i s c h bestimmten Weltreichs s e i n Reich angebahnt. Das geschah durch die Berufung Abrahams, dem Stammvater des erstberufenen Volkes, das die Keimzelle des Gottesreichs und der Wurzelboden für den kommenden König des Reichs werden sollte. Aber nach diesem neuen Werk Gottes hat der „Fürst dieser Welt“ ebenfalls gegriffen. Das geschah schon zu der Väter Zeit, zur Zeit Abrahams, Isaaks und Jakobs. Das geschah weiter, als Israel zu einem Volk heranwuchs, und als die Geschichte Israels ihre beiden Höhepunkte erreichte, also nach der Gesetzgebung am Sinai und nach der Gewährung eines eigenstaatlichen Daseins im Heiligen Land unter den Königen. Gott hat das Murren und Widerstreben Israels zur Zeit der Wüstenwanderung und den tiefen Fall während der Richterzeit mit Geduld getragen, hat, auch in der Königszeit unermüdlich durch seine Propheten, das Volk von seinen irrigen Wegen zurückgerufen, und hat es in Gerichts- und Gnadenerweisungen immer wieder auf die rechte Bahn zurückzuleiten gesucht. Aber das Volk der Wahl Gottes hat einschließlich der meisten seiner Könige seine Berufung und Sonderstellung gering geachtet und wollte sein wie die anderen Völker auch. Da hat Gott nach einer langen Zeit der Geduld, als das Maß der Versündigung voll geworden war, den e r s t e n Teil der Geschichte Israels durch sein gerichtliches Eingreifen abgeschlossen. Als Werkzeug dazu hat er die neuentstandenen Weltmächte verwendet, den assyrischen König zur Wegführung des nördlichen Teils Israels, den babylonischen zur Zerstörung Jerusalems und des Tempels, und zur Wegführung des Volks in die babylonische Gefangenschaft.

Wie kam es nach der Zerschlagung des ersten falschen Weltreichsversuchs, zur Zeit des babylonischen Turmbaus von n e u e m, wieder zu Weltreichsversuchen? Gott hatte ja damals die Völker in die V e r e i n z e l u n g gedrängt und hatte sie und ihre Geschichte voneinander getrennt und isoliert! Die Entstehung einer neuen W e l t macht bedeutete ja dem gegenüber ein H e r a u s treten aus dieser Vereinzelung oder Isolierung, die doch von Gott verfügt und verhängt war! Nun: dieser n e u e Versuch zu einer u n g ö t t l i c h e n Völkerzusammenfassung hing gerade mit dem Irrweg des a u s e r w ä h l t e n Volkes zusammen. Nicht, als o b er u n m i t t e l b a r, etwa durch eine Berührung der Völker mit Israel herbeigeführt worden wäre. Gott hat ja Israel, indem er ihm sein Gebiet im Heiligen Lande anwies, wie durch Wall und Graben von den übrigen Völkern getrennt.

Warum die Weltreiche von n e u e m aufkamen

Anmerkung 6:

Warum gerade Palästina das „Heilige Land ist
Wie der Orient der große Mittelpunkt des großen Kontinentalblocks Europa-Asien-Afrika ist, so ist das Heilige Land, heutzutage Palästina genannt, der Mittelpunkt des Orients. Dermaßen zentral gelegen ist kein Land der ganzen Erde. Dass gerade Palästina Israels Heimatland geworden ist, ist kein Zufall. Deswegen wird 1Mo 12 ausdrücklich bezeugt, dass G o t t es war, der Abraham dorthin gewiesen hat.'’

Die geographische Lage Deutschlands
Der Wohnraum und Geltungsbereich der a n d e r e n Völker steht ebenfalls unter Gottes Regiment (Apg 17:26). Das gilt auch für unser d e u t s c h e s Volk, das geographisch der Mittelpunkt der indogermanischen Völkerwelt ist. Wenn wir das oben genannte Wort des Paulus im Glauben auf die räumliche Lage Deutschlands anwenden, so liegt hier vielleicht ein Schlüssel dafür, dass Deutschland das Land der großen religiösen Kämpfe geworden ist. Vielleicht liegt hier auch eine Erklärung dafür, dass es der Brennpunkt der beiden großen Weltkriege war. Die Frage nach der Schuld bleibt in d i e s e m Zusammenhang außer Betracht. Über s i e wird übrigens das l e t z t e Urteil dann gesprochen werden, wenn Gott den g a n z e n Kreis des Erdballs richten wird durch den Einen, den er schon jetzt zum Richter bestimmt hat, den Menschen- und Gottessohn, wie es Paulus ebenfalls in Athen bezeugt hat (Apg 17:31).
Aber näher auszuführen ist noch der Satz, dass die besondere zentrale Lage des Heiligen Landes mit Gottes Heilsplan zusammenhängt. Palästina ist völlig z e n t r a l gelegen und war trotzdem bis vor kurzem vom Verkehr fast ganz a u s g e s c h l o s s e n. Zwar gehört auch das Land östlich vom Jordan bestimmungsgemäß zum Heiligen Land. Aber das Land w e s t l i c h davon ist dessen Hauptteil. Und dieses Land ist schon durch die Natur fast ganz abgetrennt von allen Ländern ringsum; im Westen grenzt es an das Mittelländische Meer, hatte aber bis vor kurzem keinen brauchbaren Hafen. Ein solcher ist erst neuerdings in Haifa am Fuß des Karmel künstlich geschaffen worden. Im Osten ist es abgegrenzt durch den tiefen Graben des Jordantales, der vom See Genezareth bis zum Toten Meer die tiefste Stelle des ganzen Erdbodens darstellt. Im Norden bildet ein schwer zugängliches Gebirge den Abschluss, im Süden die Wüste. Erst durch die neueren Verkehrsmittel ist dieser Wall überwunden worden. Aber in der alten Zeit war das Volk der Wahl Gottes im Heiligen Land verwahrt, und glich einem mit einer Mauer umgebenen Weinberg (Jes 5; Mt 21:33). Israel wäre dort auch verwahrt g e b l i e b e n, wenn es in der Erziehungsschule Gottes auf dessen Bahn geblieben wäre. Die Zeit wäre schon gekommen, wo dieser Wall um das Heilige Land aufgelockert worden wäre, wenn sich nämlich Israel zu seinem Beruf an der Völkerwelt hätte ausreifen lassen, und sich unter der Führung seines Königs zum Dienst an derselben hergegeben hätte. Aber als es seiner Berufung untreu wurde, hat Gott die Sperrriegel um sein Volk herum geöffnet, zuerst für die kleineren Nachbarvölker ringsherum, zu denen im Norden hauptsächlich die Syrer gehörten; dann aber auch für die Weltreiche. Die kamen vom Norden her ins Land. Deshalb hat Jeremia bei seiner Berufung den von Hitze überlaufenden Topf im Norden gesehen (Jer 1:13).

Die Gründe für dieses n e u e Hochkommen der Völkerwelt lagen tiefer, nämlich in der u n s i c h t b a r e n Welt. Der Fall des Gottesvolkes gewährte dem „Fürsten dieser Welt“ ein Recht, das er nicht gehabt hätte, wenn das Gottesvolk auf G o t t e s Bahn geblieben wäre. Das Bestehen und die Wirksamkeit der w i d e r göttlichen Geisterwelt rührt ja nicht von einer O h n m a c h t Gottes her. Aber ü b e r w u n d e n wäre er damit n i c h t. Das ist nur möglich auf dem Weg des heiligen R e c h t s. Nach diesem Recht darf er vor dem letzten großen Gericht noch da wirken, wo Menschen und Völker von der Bahn Gottes abgetreten sind. Die letztere hat er selber mit seinem Gefolge in der unsichtbaren Welt schon vor dem Beginn der menschlichen Geschichte verlassen. Er stand zwar bereits, und steht vollends seit dem Tag von Golgatha, unter Gottes Gerichts u r t e i l. Aber die V o l l s t r e c k u n g dieses Urteils ist ausgesetzt bis zu dem letzten allgemeinen großen Gericht Gottes. So ist also die n e u e Wirkensmöglichkeit, die Gott dem falschen Herrn der Welt gegenüber den Völkern, und in ihnen, und durch sie eingeräumt hat, nicht im Zeichen von Gottes Unvermögen, sondern unter der Regel des heiligen Rechts. Zwar darf das satanische Wirken das Werk Gottes s t ö r e n. Aber von Gottes Regierung und Macht ist es trotzdem u m f a s s t. Ja: letzten Endes muss sogar die w i d e r göttliche Macht dem Willen und Planen Gottes d i e n s t bar sein.

Es ist nun merkwürdig, welcher der drei Völkergruppen zuerst das Recht eingeräumt worden ist, im Dienst des „Fürsten dieser Welt“ die seitherige Vereinzelung der Völker aufzuheben, und die Herbeiführung einer neuen Völker z u s a m m e n f a s s u n g oder eines W e l t reichs zu suchen. An dieser Stelle ist noch einmal kurz zurückzugreifen auf den ersten Weltreichsversuch zur Zeit des ältesten Babel. D e r scheint nach 1Mo 10:6-12 hamitischen Ursprungs gewesen zu sein. Das ist nicht verwunderlich, weil gerade an Ham gleich nach dem Gericht der Sintflut die Verderbnis des menschlichen Wesens von neuem ausgebrochen ist. Aber an den s p ä t e r e n Weltreichsversuchen war die hamitische Völkergruppe nicht mehr beteiligt. Nicht etwa, weil sie sich geändert hatte, sondern weil da bereits das Fluchwort Noahs wirksam wurde. Der neue Weltreichsversuch ging vielmehr von der semitischen Völkergruppe aus. Das Volk Israel ist ja auch semitischen Ursprungs. Und der neue Versuch wurde gemacht gerade in der Zeit, als das Volk Israel seine Sonderstellung in zunehmendem Maße verleugnete. So entstand das assyrische Weltreich, und nach ihm das babylonische. Sowohl die Assyrer wie die Babylonier gehörten zu den Semiten. Bis zu einem gewissen Grad waren also die Israeliten „Brüder“ zu den Assyrern und Babyloniern. Und wie einstens der vorzeitige Sohn Abrahams von der Magd, nämlich Ismael, dessen rechtmäßigen Sohn, nämlich Isaak, neidete und zu verdrängen suchte, so nahmen nun - ohne sich dessen bewusst zu sein - die stammverwandten Assyrer und Babylonier den Kampf gegen ihren von Gott bevorzugten Bruder auf. Die Assyrer führten das israelitische Nordreich von seinem Heimatboden fort. Es ist heute noch nicht mit Bestimmtheit zu sagen, was aus diesem Hauptteil des Volkes, dem sogenannten Zehnstämmereich, geworden ist. Die Babylonicher dagegen führten den Zusammenbruch des Südreichs, der Stadt Jerusalem und des Tempels herbei. Äußerlich angesehen hat das Weltreich über das Gottesreich den Sieg davongetragen.

Warum Gottes Gericht über das alte Gottesvolk zur Zeit Daniels

Aber es war nicht ein Sieg über G o t t, vielmehr waren die Weltmächte Gottes G e r i c h t s werkzeuge über sein eigenes Volk. Gewiss: ihre Züchtigungsaufgabe und ihr Züchtigungsrecht haben sie überschritten. Denn sie standen gleichzeitig unter dem geheimen Einfluss der Finsternismächte, die nicht auf Züchtigung ausgehen, sondern auf Verderben. Sofern sie bei der Behandlung Israels den letzteren gehorchten, standen sie selber unter Gottes Gericht. Aber G o t t e s Werkzeuge waren sie doch.

Züchtigungen und Gerichtsschläge hat Gott dem Volk seiner Wahl auch früher zuteil werden lassen. Er hat seinerzeit schon den Vätern Israels, nach denen er sich doch selber den Namen „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ gegeben hat, ihre Fehlschläge nicht hingehen lassen. Sara und Abraham mussten die Folgen ihres eigenmächtigen Vorgehens durch den schmerzhaften Riss büßen, der in ihrem eigenen Haus und zwischen den Eheleuten entstand. Isaak und Rebekka mussten ihr Außerachtlassen der göttlichen Weisung und das Krumme an ihren Wegen büßen; und Jakobs Sünde wurde mit der gleichen Sünde bestraft, die er sich seinem Vater gegenüber hatte zuschulden kommen lassen. Die zehn Brüder mussten ihre Versündigung an Joseph bis auf die Neige auskosten. Und als Israel zum V o l k herangewachsen war, kam es unter die Zucht des G e s e t z e s, und stand außerdem unter der scharfen Zuchtübung Gottes. Aber s o tiefgreifend wie zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft hat Gott in früheren Zeiten sein Volk nicht gezüchtigt. Das durch Sanherib und Nebukadnezar am nördlichen und südlichen Reich vollzogene Gericht Gottes ging nun bis an die W u r z e l n der Existenz. Darauf soll im folgenden noch weiter eingegangen werden, weil es nicht nur für das Verständnis der Wende zur Zeit Daniels wichtig ist, sondern Durchblicke ermöglicht bis zur Gegenwart und über die Gegenwart hinüber.

Wie sich das Gericht Gottes zur Zeit Daniels auswirkte

Der Verlust der eigenstaatlichen Existenz

Gott hat dem Volk seiner Wahl damals die meisten Gaben wieder entzogen, die er ihm geschenkt hatte. Was er ihm ließ, war im Grunde genommen nur die Existenz s e l b e r. Er nahm ihm

1. Die e i g e n s t a a t l i c h e Existenz. Die hat es vorher unter den Königen gehabt, nicht nach Art der w e l t l i c h e n Königreiche, sondern - wenigstens im Südreich - mit einem unter prophetischer Leitung stehenden Königtum, aus dessen Mitte zu seiner Zeit der verheißene König hervorgehen sollte, welcher König, Priester und Prophet in e i n e r Person war. Diese vorbildliche Selbstständigkeit ging damals verloren. Sie ist für Israel n i e wiedergekehrt, wenn man die kurze Zeit des makkabäischen Königtums abrechnet, dessen Art aber auf einer anderen Linie lag als das Haus Davids.*

Anmerkung 7:

Die Unterordnung der Gemeinde Jesu unter die Weltmächte
* Auch die Gemeinde J e s u war zu allen Zeiten den staatlichen Gewalten u n t e r g e o r d n e t. Wohl ist die Kirche eine Zeitlang den Weg weltlicher Größe und Herrschaft gegangen, aber das war nicht der der Gemeinde Jesu verordnete Weg (Siehe Mt 20:26). Zwar s o l l die Gemeinde Jesu noch zur Herrschaft gelangen, aber nicht zur Herrschaft nach Art dieser W e l t und dieser W e l t z e i t, und deshalb auch nicht mehr im j e t z i g e n Zeitlauf, sondern erst im k o m m e n d e n Reich Gottes auf Erden, im Dienst ihres wiederkommenden Herrn. Insofern ist durch Gottes gerichtliches Eingreifen zur Zeit Daniels eine Zwischenzeit eingeleitet worden, die sich nun schon durch zweieinhalb Jahrtausende hinzieht. Sie umfasst auch die Gegenwart und gilt nicht nur für Israel in seiner Eigenschaft als das alte Gottesvolk, sondern ebenso für die Christenheit, soweit und sofern sie auf der Bahn der G e m e i n d e J e s u bleibt.’'

Der Verlust des Heimatbodens

2. Außer der s t a a t l i c h e n Existenz wurde dem Volk der Wahl Gottes auch der H e i m a t b o d e n entzogen. Es wurde ausgesiedelt in ein fremdes Land. Der Besitz des Heiligen Landes war Gottes Geschenk an Israel gewesen, ein Erbe von der Väter Zeit her, denen es von Gott verheißen und gelobt worden war. Daher rührt der Name: das „gelobte“ oder „verheißene“ Land. Dieses Geschenk zog Gott nun wieder z u r ü c k. Die Aussiedlung aus der Heimat erfolgte etappenweise. Zuerst kam nur ein kleiner Volksteil an die Reihe, darunter Daniel; dann ein größerer, der das Rückgrat des staatlichen und völkischen Lebens bildete, darunter Hesekiel. Dann kam der Hautteil an die Reihe bei der Eroberung und Zerstörung der Hauptstadt. Ein Rest hätte noch in der Heimat bleiben dürfen, unter ihnen Jeremia. Aber auch der verscherzte die Heimat aus eigener Schuld, weil er sich dem gottgewollten Weg der Untertänigkeit unter Babel nicht fügen wollte und dem Rat des Propheten Jeremia den Gehorsam versagte.*

Anmerkung 8:

Israel als das Volk ohne Heimat
*Auch die irdische Heimat vom engsten vertrautesten Raum bis zum weiteren Umkreis ist in j e d e m Fall ein G e s c h e n k Gottes, kein selbstverständlicher Besitz.
Während Israel die davidische s t a a t l i c h e Eigenständigkeit nie mehr erhalten hat, ist ihm, wenigstens dem Stamm Juda (mit dem zu ihm gehörigen Stamm Benjamin), nach der babylonischen GeEfangenschaft die H e i m a t wieder zurückgegeben worden, freilich unter kümmerlichen Verhältnissen, welche die Freude an ihr erschwerten. Aber auch als die Erlaubnis zur Heimkehr gegeben war, ist nicht das Ganze zurückgekehrt, sondern nur ein zahlenmäßig kleiner Teil. Der größere war inzwischen derartig aus dem Heimatbogen entwurzelt, dass er es vorzog, im fremden Land zu bleiben. So reicht die Wurzellosigkeit des heutigen Israel weit zurück, nicht nur bis zur Zeit der zweiten Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, sondern bis in die Zeit Daniels. Mit der Wurzellosigkeit Israels ist übrigens in merkwürdiger Weise deren Gegenteil verbunden, nämlich ein Wissen Israels um seine Besonderheit und ein tiefes Sehnen nach Jerusalem.
Von der Zeit Daniels an ist Israel zu einem Volk i n m i t t e n der Völker geworden, zu einem „internationalen“ Volk. Zunächst nur in den Ländern östlich vom Heiligen Land. Aber später kam die Auswanderung in den griechischen Kulturkeis und bis in die westlichen Bezirke des römischen Reiches dazu, ohne dass ein Z w a n g die Veranlassung gewesen wäre. Auch in diesem Gang mag Eigenwilligkeit mitgespielt haben. Und doch geschah es nicht ohne Gottes Willen. Denn Israel soll ein Volk für andere Völker sein und darf sich ihnen darum nicht entziehen. Freilich soll das geschehen im Zeichen des D i e n s t e s an der Völkerwelt, nicht im e i g e n e n Interesse. Übrigens hat die weite Verbreitung Israels weit über die Grenzen des Heiligen Landes hinüber eine große Bedeutung gehabt für die Verpflanzung des Evangeliums in die griechisch-römische Kulturwelt der alten Zeit. Sie hat diese Verpflanzung wesentlich erleichtert, wie man es der Darstellung der Missionsreisen des Apostels Paulus in der Apostelgeschichte entnehmen kam. Weil sich freilich an die Ausbreitung des Evangeliums meist auch der Hass der jüdischen Gemeinden angeschlossen hat, gesellte sich allerdings zur Erleichterung jeweils bald auch eine Erschwerung der apostolischen Arbeit.
Seit der zweiten Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 nach Christi Geburt durch die Römer ist Israel zum zweitenmal ein heimatloses Volk geworden. Was die Römer begannen, nämlich die zweite Entwurzelung Israels, haben die Araber vollendet. Sie wurden, bald nach Mohammeds Tod im Jahr 637 nach Christi Geburt, die Herren Jerusalems und des Heiligen Landes, und errichteten bald darauf auf dem früheren Tempelplatz ihr eigenes Heiligtum, nämlich den heute noch stehenden Felsendom. Was dem frommen Judentum vom Bezirk der heiligen Stätte geblieben ist, das ist nur die Klagemauer.
Die der Judenschaft gegen den Schluss des ersten Weltkrieges versprochene Rückgabe ihrer Heimat konnte seither nur teilweise durchgeführt werden. Deren volle Durchführung scheiterte bis jetzt am Widerstand der Araber, die das Land seit 1300 Jahren innehaben. Das mag als Rätsel erscheinen angesichts der Tatsache, dass Gott dem erstberufenen Volk das Heilige Land als Erbe verheißen hat. Eine Erwägung möge aber versuchen, dieses Rätsel zu klären. Sie zeigt zugleich, in welchem Maße Eigenmächtigkeiten von Gottesmenschen nachwirken. Es ist zu diesem Zweck nötig, noch einmal die alte Geschichte von Ismael und Isaak in Abrahams Haus zu berühren. Wenn bedacht wird, dass die Araber letzten Endes auf Abrahams vorzeitigen Sohn, nämlich Ismael, zurückgehen, und Israel auf den rechtmäßigen Sohn, nämlich Isaak; und wenn weiter erwogen wird, wie einstmals Ismael seinen jüngeren Bruder beneidete, bis schließlich nur noch die Ausstoßung Ismaels übrig blieb: dann wird der Widerstreit zwischen Arabern und Juden verstanden, und es ergibt sich zugleich ein Ausblick auf den Ausgang dieses Widerstreites. Es kann der Satz geprägt werden: der einst ausgetriebene Ismael hat sich hintendrein noch seit 1300 Jahren im Vätererbe festgesetzt, und will dasselbe dem rechtmäßigen Erben nicht mehr zurückgeben. Aber die Austreibung Ismaels wird sich nach Gottes Rat zu seiner Zeit wiederholen, indem die Araber im Heiligen Land den Juden das Feld räumen müssen. Wann und wie das geschehen mag, das ist jetzt noch verborgen. Wenn aber einmal dieses Ereignis eintreten wird, dann wird auf irgendeine Weise auch der, jetzt noch in Jerusalem auf dem früheren Tempelplatz stehende, mohammedanische Felsendom einer Erneuerung von Israels Heiligtum weichen müssen. Ob nicht die großen Welterschütterungen, die durch die beiden Weltkriege eingeleitet worden sind, auch dieses schließliche Ergebnis der Geschichte des Heiligen Landes vorbereiten müssen?’'
Dass übrigens Israel trotz seiner langen Heimatlosigkeit innerhalb der Völkerwelt, und ohne staatliches Eigenleben sich bis auf den heutigen Tag als Volk erhalten hat, das in der neueren Zeit kräftig in das Weltgeschehen eingriff, das ist ein Wunder, das aus naturbedingten Ursachen nicht erklärt werden kann. Angesichts der Wunder Mose warnten einstens die ägyptischen Beschwörer den König vor weiterer Hartnäckigkeit, indem sie ihm sagten „Das ist Gottes Finger.“ Der gleiche Satz gilt auch im vorliegenden Zusammenhang. Gott hat dieses Volk durch die Jahrhunderte, ja durch zweieinhalb Jahrtausende schwierigster Geschichte hindurchgebracht, weil seine Geschichte noch nicht abgeschlossen ist. Seinen e i g e n t l i c h e n Auftrag muss es erst noch erfüllen, dass es nämlich der Völkerwelt den Segen Gottes vermitteln soll nach dem Ausgang des seitherigen Zeitlaufs, zusammen mit der Gemeinde Jesu. Die letztere war s e i t h e r schon, auch in unvollkommener und verderbter Gestalt, das Salz und Licht der Erde. Aber ihr Dienst an der Völkerwelt ist damit noch nicht erschöpft. Denn sie soll in v e r k l ä r t e r Gestalt der Helfer des wiederkommenden Herrn an den Völkern werden im Reich Gottes auf Erden, während Israel als sein e r s t b e r u f e n e s Eigentumsvolk nach seiner Bekehrung diesen Dienst tun soll in l e i b h a f t i g e r Gestalt.

Verstümmelung des Volkskörpers

3. Fast noch tiefer als der Verlust der Eigenstaatlichkeit und des Heimatbodens wurde das Volk Israel in jener Zeit von einer V e r s t ü m m e l u n g betroffen, sofern dem Volkskörper ganze Teile abhanden kamen. „Vermisst“ ist eines der schmerzlichsten Worte. Auch Israel hat „Vermisste“.*

Anmerkung 9:

Wo sind die zehn Stämme?
Was in der Gegenwart von Israel in Erscheinung tritt, das sind die Nachkommen von R e s t e n. Die jüdischen Volksteile in Babylon haben sich nicht in ihrem Volkstum erhalten, obwohl immer wieder ein Zuzug einzelner nach dem Heiligen Land stattfand wie seinerzeit unter Esra und Nehemia. Es ist wohl anzunehmen, dass sie sich mit den Völkern, unter denen sie wohnhaft blieben, vermischt haben. Aber die beiden weggeführten Stämme Juda und Benjamin blieben wenigstens als Stämme erhalten. Unter ihnen weilte auch eine große Zahl von Leviten, also von Angehörigen des Stammes Levi. Was dagegen aus den anderen Stämmen geworden ist, die seinerzeit in die assyrische Gefangenschaft weggeführt wurden, das lässt sich nicht sagen. Dass es e i n z e l n e Glieder dieser Stämme noch gegeben hat, das ist sicher. So wird von der alten Hanna, die mit Simeon die Eltern des Heilandes bei dessen Darstellung im Tempel begrüßte, gesagt, sie habe dem Stamm Asser angehört. Wahrscheinlich ist auch, dass unter den Samaritern in Jesu irdischen Tagen noch Nachkommen der zehn Stämme gewesen sind, und dass die Samariter als Ganzes auch der Abstammung nach wenigstens als Halbjuden anzusprechen sind, obwohl sie von der Judenschaft zur Zeit des Heilandes nicht anerkannt wurden. Aber er selber hat ihnen in seinen irdischen Tagen einige Tage gegönnt; während er sich sonst von der nichtjüdischen Bevölkerung des Grenzgebietes zurückgehalten hat.
Dass aber der H e r r noch mit den zwölf Stämmen gerechnet hat, das geht aus der Zwölfzahl seiner Jünger hervor, ebenso aus der Verheißung an Petrus (Mt 19:28), dass er und seine Mitjünger einst die zwölf Stämme Israels richten würden. Auch Paulus hat von den zwölf Stämmen als von einer gegenwärtigen Wirklichkeit gesprochen, wenn er (Apg 26:7) gesagt hat, dass die zwölf Stämme mit eifrigem Gottesdienst die Verheißungen Gottes herbeizuführen suchen. Ferner darf darauf hingewiesen werden, dass der mit Daniel gleichzeitige Prophet Hesekiel in Hes 37 seines Buches von der Wiedervereinigung der beiden Teile des Volks gesprochen hat. Ob und inwiefern und inwieweit die vermissten zwölf Stämme noch vorhanden sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Aber bemerkenswert ist die bei den Propheten nicht selten wiederkehrende Verheißung von der Sammlung Israels aus a l l e n Völkern. Wie diese Sammlung zustande kommen wird, das kann bis jetzt noch niemand sagen. Aber sicher ist, dass in Offb 7:1-8 von der Versiegelung einer Auswahl aus allen Stämmen Israels in der Endzeit die Rede ist. Nur Dan ist dort nicht genannt, ohne dass ein Grund angegeben ist, warum er fehlt.

Der Verlust der Heiligen Stadt

4. Die Wegführung nach Babylon brachte auch den Verlust J e r u s a l e m s. Die Stadt wurde erobert und zerstört und glich nur noch einem Schutthaufen. Was Jerusalem für das Volk Israel bedeutet hat, das können andere Völker nicht ganz nachempfinden. Das kommt zum Ausdruck in Ps 137, dem Heimwehpsalm nach der verlorenen Stadt, ferner in den Klageliedern Jeremias, aber ebenso bei Daniel selber. Der hatte in Babel offene Fenster in der Richtung nach Jerusalem (Dan 6:11). Dorthin gerichtet hat er dreimal täglich gebetet. Auch in diesem Bußgebet, in dem er den ganzen Jammer und die Schuld seines Volkes aussprach und bekannte, ist Jerusalem ausdrücklich genannt als die Stadt, die nach Gottes Namen genannt ist (Dan 9:18)*

Anmerkung 10:

Die Geschichte Jerusalems
*Auf der ganzen Erde gibt es keine solche Stadt, die eine Geschichte aufweisen könnte wie Jerusalem. Sie stand bereits zur Zeit Abrahams. Damals gehört der Morija, der spätere Tempelberg, auf dem die Opferung Isaaks hat stattfinden sollen, noch nicht dazu. In den Besitz Israels kam die Stadt durch die Eroberung Kanaans unter Josua noch nicht, sondern erst durch David, der sie dem in jener Gegend zurückgebliebenen kanaanitischen Volksstamm der Jebusiter abnahm, und sie zu seiner Residenz machte und zur Stätte des Tempels bestimmte, der dann durch seinen Sohn Salomo erbaut wurde. In welchem Maß diese Stadt im Brennpunkt der Weltgeschichte gestanden ist, das möge stichwortartig nur an einigen Tatsachen aufgezeigt werden. An ihr kam die assyrische Weltmacht zu Fall zur Zeit Hiskias (Jes 36 und Jes 37). Dann kam die Eroberung und Zerstörung durch Nebukadnezar. Der Herr Jesus hat sie die „Stadt des großen Königs“ genannt (Mt 5:35). Jerusalem ist die Stadt des Kreuzes, des leeren Grabes, der Himmelfahrt. In ihr nahm die Christenheit ihrenAnfang bei der Ausgießung des Heiligen Geistes.
Die Eroberung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 nach Christi Geburt mit ihrem unbeschreiblichen Jammer hat den schrecklichen jüdischen Krieg zu Ende gebracht. Später kam Jerusalem in die Hände der Araber im Jahr 637 nach Christi Geburt. Von Jerusalem aus haben die Araber die ganze damalig Christenheit in die Zange genommen, indem sie dieselbe gleichzeitig über das nördliche Afrika und über Konstantinopel zu umfassen versuchten. Nur der Sieg Karl Martells über die Araber im Herzen Frankreichs im Jahre 732 hat den großen Plan zum Scheitern gebracht. Für die Rückeroberung Jerusalems durch die Christenheit hat das mittelalterliche Kaisertum in den Kreuzzügen die besten Kräfte eingesetzt. Die Loslösung Jerusalems und des Heiligen Landes aus der Oberherrschaft nichtchristlicher Mächte war eines der wichtigsten Ergebnisse des ersten Weltkrieges. Der Weitergang der Geschichte um Jerusalem wird ein nicht unwichtiger Gegenstand der Zukunft sein. Dass Jerusalem auch in der eigentlichen Endzeit eine Rolle spielen wird, das ist in der Offenbarung des Johannes bezeugt (Offb 11 und Offb 12). Nach der Wiederkunft des Herrn soll Jerusalem als die geliebte Stadt die Hauptstadt des Reiches Gottes auf Erden werden (Offb 20:9). Warum das alles? Jerusalem ist und bleibt „des großen Königs Stadt“ (Mt 5:35). Darum hat auch das „obere“ und das „neue“ Jerusalem von dieser Stadt den Namen. Selbst in unseren Kirchenliedern hat es in diesem Sinn einen Platz: „Jerusalem du hochgebaute Stadt“, „O Jerusalem, du Schöne."

Der Verlust des Heiligtums

5. Ohne Staat (König), ohne Land, verstümmelt, ohne Stadt, das ist noch nicht die ganze Beschreibung der Zeitwende Israels zur Zeit Daniels. Noch tiefgreifender als das alles war der Verlust des H e i l i g t u m s. Denn zerstört wurde nicht nur die Stadt selber, sondern mit ihr auch der Tempel. Und der Tempel bedeutet G o t t e s Gegenwart inmitten seines Volkes.*

Anmerkung 11:

Geschichte des Tempels und des Tempelplatzes
* Am den Verlust des Tempels heftete sich die bange Frage: Hat Gott sein Volk verstoßen? Hat er es gänzlich aufgegeben? Indem Gott den Tempel preisgab, schien die ganze Berufung Israels, seine ganze Sonderstellung dahinzufallen. Schon die Zerstörung selber erschien als „Gräuel“. Siehe den Ausdruck in Mt 24:15.. Über Israels heilige Stätte sind im Lauf der Zeiten mehrmals Verwüstungen hereingebrochen. Die Verwüstung bei der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar war anderer Art als die in der makkabäischen Notzeit durch den syrischen König Antiochus Epiphanes. Durch Nebukadnezar wurde der Tempel zwar in Trümmer gelegt, aber nicht entweiht. In der makkabäischen Notzeit blieb er zwar stehen, wurde aber absichtlich verunreinigt durch das Götzenbild und den zwangsmäßigen Götzenkult. Im Jahre 70 n. Chr. bei der Zerstörung Jerusalems durch die Römer ging der Tempel in Flammen auf. Nach dem zweiten jüdischen Krieg um das Jahr 135 n.Chr. haben die Römer auf dem Tempelplatz einen Götzentempel errichtet. Bald nach der Eroberung Jerusalems durch die Araber 637 nach Christi Geburt, wurde dort das mohammedanische Heiligtum, der Felsentempel, errichtet, der heute noch steht. Die Offenbarung des Johannes spricht von einer weiteren Verwüstung in der kommenden Zeit (Offb 11). Voraussetzung dafür ist die Errichtung einer neuen heiligen Stätte durch das alte Gottesvolk an Stelle des Felsendomes. Wann und wie eine solche zustande kommen wird, ist dem Blick noch verborgen. Ob dies der neue Tempel sein wird, der in Hes 40ff. beschrieben ist, ist fraglich. Es wäre nicht ausgeschlossen, dass die Weissagung des Hesekiel in den Beginn des Reiches Gottes gehört, das unsere Väter im Anschluss an Offb 20:1-6 das Tausendjährige Reich genannt haben.
Was für das erstberufende Gottesvolk die Zerstörung, Verwüstung, Entweihung, und überhaupt der Verlust des Heiligtums und damit auch das Dahinfallen des Opferdienstes und des Priestertums bedeutet hat und bedeutet, das können wir, die wir aus der Völkerwelt stammen, kaum ganz nachempfinden. Das ist etwas ganz anderes als das Wehe über die Zerstörung, die im letzten Krieg auch über deutsche Gotteshäuser hereingebrochen ist. Die Zerstörung des Tempels war weit mehr als der Verlust eines wertvollen Kulturdenkmals. Übrigens kann die deutsche Christenheit angesichts des Jammers der Verwüstung in den deutschen Städten, den Jammer der Propheten Jeremia, Hesekiel und Daniel über die Verwüstung Jerusalems wenigstens zum Teil nachfühlen. Zu der Verwüstung der Stadt und des Tempels kam noch die Verwüstung und das Elend dazu, von dem das ganze Volk betroffen war. Daniel hat gewusst von dem Fluch Gottes, der durch Mose dem Volk angedroht war, wenn es die Bahn Gottes verlasse (Dan 9:13). Dieser Fluch war in Erfüllung gegangen.
Was war das Schwerste an diesem Gang Israels? Die Einbuße an Gut und Ehre und Volkstum? Die Unterstellung unter die Weltmacht mit der darin enthaltenen Demütigung des heiligen Volkes? Viel ernster war für den frommen Teil des Volkes das lebhafte Bewusstsein davon, dass alle diese Einbußen Gerichte G o t t e s waren.
Ein Wink auch für unser deutsches Volk und für die Christenheit in unserem Volk, besonders für die, die mit Ernst Christen sein wollen. Was uns helfen kann, das ist nicht das Klagen und Nachtrauern hinter den vielen verlorenen Werten, auch nicht das Richten und Verurteilen derer, die in stärkerem Maß an diesem Ergebnis beteiligt und schuldig sind. Was allein weiter helfen kann, das ist die Anerkennung, dass wir als Volk und als Kirche unter G o t t e s Gericht stehen. Gerade die deutsche Christenheit, in welchen Lagern sie auch stehen möge, darf sich in diesem Stück nicht auf die Seite stellen, als wäre sie der mehr oder minder unschuldige Teil. Das Gericht Gott muss anfangen am Hause Gottes. Und das wichtigste Erfordernis für die deutsche Christenheit ist Bußel Damit kommen wir zu der auch für die heutige Zeit vorbildliche Haltung, die Daniel in jener Gerichtszeit der babylonischen Gefangenschaft eingenommen hat.

Lies weiter:
II. Das Vorbildliche an der Haltung Daniels