Das Reich Gottes auf Erden

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Abschrift des Buches: Rom - Babel - Jerusalem
Der Weg der Menschheit im Licht der Schrift bis zur Vollendung des Gottesreiches

Verfasser: G. Thaidigsmann (Pfarrer in Waldbach) (1928)
Verlag: Gebrüder Schneider, Karlsruhe i. B.

Inhaltsverzeichnis
Kapitel davor:
3. Das antichristliche Reich der Endzeit

4. Teil

Das Reich Gottes auf Erden

Würde es sich nur um die Darstellung des Menschheitsgangs im gegenwärtigen Zeitlauf handeln, dann wäre mit den bisherigen Ausführungen das Ende der Aufgabe erreicht. Aber der Gedankengang drängt weiter. Babels Ausgang ist Jerusalems Aufstieg. Mit Babels Ende kommt Jerusalems Zeit in höherem Sinn, als es damals der Fall war, da Israel sich im Stande der Vorbereitung befand. Jetzt erst beginnt Israels eigentlicher Beruf innerhalb der Völkerwelt, nachdem die lange Zeit des Widerstrebens zuende gegangen ist. Nun erst wird das Heilige Land zum Mittelpunkt der Völkerwelt, zu dem es von Anfang an bestimmt war. Nun kann Jerusalem die Hauptstadt der Erde werden. In Offb 11:8 wird Jerusalem noch mit Sodom und Ägypten verglichen. Im 1000-jährigen Reich Offb 20:9 heißt es: die geliebte Stadt. Der Wechsel der Benennung ist groß, und entspricht dem Wechsel zwischen der Zeit der Menschheit vor dem 1000-jährigen Reich, und in demselben. Es sollen nun noch einige Worte über dieses Reich gesagt werden. Nur soll zuvor die übliche christliche Zukunftshoffnung mit der, in der Schrift des Alten und Neuen Testaments dargebotenen, verglichen werden.

Das Zurückbleiben der Christenheit

Die Verlegung der Hoffnung von der Erde in den Himmel

Die Zukunftshoffnung der Christenheit, wie sie seit langem üblich ist, und wie sie unbefangen als die biblische angesehen wird, wird der, in der Schrift dargebotenen Hoffnung nicht gerecht, sondern bleibt hinter ihr zurück. Sie entleert die Erde ihres Wertes und flüchtet sich in den Himmel oder, blasser ausgedrückt, in das Jenseits. Mit dem Sterben entschwindet ihr die Erde. Die irdische Welt gilt nur als der Schauplatz der kurzen menschlichen Lebensgeschichte. Kein einziges ungutes Wort soll damit gesagt sein über die Glaubens- und Willensstärke, mit welcher die Väter nach dem Himmel griffen, um dessetwillen sie oft genug Leib und Leben, Gut und Ehre, Weib und Kind fahren ließen, und das Irdische gering achteten, trotz all seines lockenden Reizes. Auch für die Christen der heutigen Zeit gilt die Pflicht, zu suchen, was droben ist, wo Christus ist, und sich mit dem Begehren nicht zu verfangen im Irdischen. Auch sie müssen wissen, dass, solange der Herr Jesus Christus noch nicht von dort erschienen ist, zur Aufrichtung des Reichs, die irdische Welt ihnen keine Heimat werden darf, weil ihr Heimwesen, nämlich das Reich Gottes, noch im Himmel ist; erst wenn er von dort erscheint, kommt das Reich Gottes zur Erde. Das Zurückbleiben der Christenheit hinter der Zukunftshoffnung der Schrift, rührt also nicht vom entschlossenen Blick nach der himmlischen Welt her, sondern davon, dass sie über den Blick zum Himmel nicht mehr wahrnahm, was Gott mit der Erde vorhat, dass er sie nicht bloß zum Schauplatz seines Reiches machen, sondern dass Er selber die Erde mit seiner Gegenwart und Herrlichkeit erfüllen will.

Auch für Jesum Christum ist der Himmel nur ein zeitweiliger, kein dauernder Aufenthaltsort. Der Himmel muss ihn nur auf eine Weise aufnehmen, nämlich so lange, bis er wiederkommt, um die von Gott, durch Prophetenmund gegebenen Verheißungen, auf der Erde zu verwirklichen (Apg 3:21). Sein himmlischer Aufenthalt ist nur eine Unterbrechung seiner irdischen Christusaufgabe, die Erde voll der Herrlichkeit Gottes zu machen. Seine irdische Lebenszeit bis zum Kreuz, war nur der Anfang dieser Arbeit, freilich der grundlegende. Das Volk hatte nicht unrecht, als es zu Jesus, anlässlich seines Hinweises auf seine zukünftige Erhöhung von der Erde sagte, es habe aus der Schrift entnommen, dass der Christus zu dauerndem Dasein bei seinem Besitz bestimmt sei (Joh 12:34). Die erste Christenheit hat bei aller Freude ihres Glaubensbesitzes das Fortsein ihres Herrn als eine Entbehrung empfunden, und erflehte deshalb sein Kommen mit der ganzen Glut ihres Herzens. Es ist auch ein Zeichen für das zunehmende Erkalten der Christenheit, dass ihr die Abwesenheit ihres Herrn nicht als Mangel, sondern als eine Selbstverständlichkeit erschien, mit der sie sich bald schmerzlich, bald in irdischer Selbstgenügsamkeit, oder gar Selbstherrlichkeit abfand.

So ragt die neutestamentliche Botschaft vom Wiederkommen des Christus vielfach nur wie ein Überbleibsel, wie eine Reliquie in die Christenheit der Gegenwart herein, mit der sie nicht viel anzufangen weiß. So erscheint sein Wiederkommen nur als kurzes Zwischenspiel, um die irdische Geschichte rasch abzubrechen, und das Reich Gottes sofort in seine ewige Gestalt überzuleiten, die aber nicht auf der neuen Erde gesucht wird, sondern über der Erde in der himmlischen Welt. Darüber verliert das Wort vom Kommen des Christus, und vom Kommen des Reichs, das die ganze alte Christenheit in Spannung hielt, seinen eigentlichen, das Gemüt und den Willen bewegenden Sinn. Die Zukunftshoffnung verengt sich auf die Erwartung des Eingangs in den Himmel, auf Himmelssehnsucht.

Die Folgen aus der Verflüchtigung der Hoffnung

Kein kleiner Teil der Ablehnung, die in unserer, die irdischen Werte überhoch schätzenden Zeit, dem Christentum zuteil wird, rührt von der Verflüchtigung der neutestamentlichen Zukunftshoffnung her. Wie wird die christliche Hoffnung so blass und blutleer, statt dass sie dem Glauben und Wirken Flügel geben würde, wenn ihre Erfüllung nicht bloß für die verhältnismäßig kurze Zwischenzeit, bis zum Anbruch des Reichs Gottes, sondern für immer für die ganze Ewigkeit in den Himmel verlegt wird! Das Wort vom Himmelreich verliert so seinen ursprünglichen Sinn und erhält einen ihm fremden Sinn: denn die Benennung des Reiches Gottes als Himmelreich deutet nur auf ihren Ursprung, und seine, das jetzige sündige Irdische überragende Art hin, nicht auf den Ort, wo es seine Verwirklichung und Vollendung erhalten wird. "Das Himmelreich kommt!" das bedeutet: es kommt vom Himmel auf die Erde! Nicht: es bleibt im Himmel.

Wird das Wort vom Reich in dieser Weise missverstanden, dann ergeben sich schwerwiegende Folgen: Die leichtere ist noch diejenige, dass die Weissagung der Schrift nicht mehr verstanden wird. Dieses Schicksal trifft nicht bloß die Weissagung vom Reich Gottes auf der alten Erde, nach dem Gericht über die antichristlich gewordene Menschheit (Offb 20), sondern auch die letzten Kapitel der Offenbarung (Offb 21 und 22); aber auch das Wort der Apostel und Jesu selber, und noch mehr fast das ganze prophetische Wort des Alten Testaments. Das letztere bleibt entweder liegen, oder kann nur mit starken Umdeutungen angeeignet werden, zu denen kein Recht, oder wenigstens ein genügendes Recht vorliegt. Eine andere Folge der Verengung und Verflüchtigung der christlichen Zukunftshoffnung ist noch ernster: was in der Schrift vom kommenden Reich Gottes auf Erden gesagt wird, wird vorweggenommen für die Kirchenzeit, für die Zeit der Kirchengeschichte. Das Reich Gottes darf ja nicht mit der Gemeinde Jesu verwechselt werden. Ein schlichtes biblisches Wort, das solcher Verwechslung wehrt, ist der Trost, mit dem Paulus Apg 14:22, den unter dem Druck stehenden neugewonnenen Gemeinden zum Ausharren behilflich war: „Es ist ein Gottesgesetz, dass der Eingang in das Reich Gottes durch viele Leiden hindurchgeht". Jene Gemeinden gehörten zur Gemeinde Jesu; aber Paulus sagte ihnen: das Reich Gottes habt ihr erst vor euch. Zum Eingang seid ihr berufen; aber darinnen seid ihr noch nicht. Eure Trübsale scheinen euch ein Gegenanzeichen zu sein, als ob ihr draußen bleiben müsstet. Es ist gerade umgekehrt; sie sind ein Anzeichen, dass ihr des Reichs teilhaftig werdet; denn in eurem Ergehen wirkt sich das Gottesgesetz aus, das den Eingang in das Reich Gottes regelt, und ihn denen zuteilt, die im Glauben durch Trübsale hindurchgegangen sind. Es ist ja den Überwindern verheißen.

Ernster als eine Verwechslung von Gemeinde Jesu und Reich Gottes ist der andere Fehler, dass der Unterschied zwischen Reich Gottes und den Kirchen nicht mehr gesehen wird, und dass, infolge dessen die beiden in allzu nahe Beziehung zueinander gesetzt, oder gar miteinander verwechselt werden. Vom Ernst einer solchen Verwechslung ist an anderer Stelle schon gesprochen worden. An DIESER Stelle ist der Nachdruck darauf zu legen, dass sich hier das Zurücktreten der großen altchristlichen Zukunftshoffnung, vom Reich Gottes rächt. Weil die Christenheit nicht mehr verstand, dass Gott sein Reich auf dieser Erde aufrichten will, sondern das Reich Gottes nur im Himmel suchte, deshalb kam sie auf den Gedanken, die Verwirklichung dessen, was über das Reich Gottes auf Erden gesagt ist, gehöre in den gegenwärtigen Zeitlauf und sei IHRE Aufgabe. Dabei hat die Christenheit sich weit von dem Zustand entfernt, der aus Offb 2 und 3 für die ganze Zeit bis zum Wiederkommen Jesu, als der normale anzunehmen ist. Die Kirche ist das Reich Gottes noch nicht, und hat gar nicht die Aufgabe es zu werden. Das Reich Gottes WIRD überhaupt nicht, sondern es "KOMMT". Es gestaltet sich nicht heraus aus dem gegenwärtigen Zeitlauf, weder von selbst noch durch menschliches Mühen und Machen; sondern Jesus als der Wirker der Werke Gottes, bringt es und richtet es auf. Darum hat sich die Kirche mit der Meinung, das Reich Gottes zu sein, oder es darzustellen, anbahnen, herbeiführen zu müssen und zu können, eine unsagbare und untragbare Bürde aufgeladen, die ihr nicht von oben aufgelegt ist. Und wo sie die selbstgewählte Aufgabe nicht als Last empfindet, sondern sich in ihr als einer Ehre sonnt, da hat sie in Gottes Recht eingegriffen und Jesu Herrenrecht für sich beansprucht, und wird sich grausig enttäuscht sehen und vom Thron gestürzt werden, wenn Gott sein Herrscherrecht an sich nehmen, und Christus sein Herrenrecht ausüben wird.

Das Zurücktreten der Auferstehungshoffnung

Noch zwei Folgen der Verkümmerung der christlichen Zukunftshoffnung seien genannt: die Kirche wird ungewiss über das Los ihrer Toten und der Toten überhaupt, und weiß nicht mehr viel anzufangen mit dem Wort von der Auferstehung der Toten, das doch der Grund- und Eckstein ist im Gebäude der christlichen Zukunftshoffnung (s. die überragende Wertung der Auferstehung Jesu und der Totenauferstehung überhaupt 1Kor 15). Die letztgenannte Hoffnung passt nicht mehr recht zusammen mit der Form der christlichen Hoffnung, die im Lauf der Zeit in der Kirche die Oberhand gewonnen hat, dass nämlich das Reich Gottes im Himmel vollendet werde. Wozu ist dann noch der verklärte Leib nötig, wenn die irdische Welt mit dem leiblichen Tod sich völlig und für immer schließt? Dann könnte die Hoffnung sich damit zufrieden geben, dass ja der Geist - im gewohnten Sprachgebrauch: die Seele - selig werde. O wie genügsam ist die Christenhoffnung geworden, aber auch wie matt und trostlos und von ungläubiger Seite den Spott herausfordernd, wenn sie mit dem Seligwerden der Seele befriedigt ist! Ist das der ganze Ertrag der Menschwerdung Christi, der ganze Ertrag seines Sterbens und seiner Auferstehung? Und zu welchem Zweck kommt er dann wieder auf die Erde? Nur um das Machtwort zu sprechen, das die irdische Geschichte abbricht? Dass dann die Angst vor seinem Kommen entsteht und das Bedürfnis, sein Kommen in möglichst weiter Ferne zu sehen, das ist begreiflich. Denn dann ist ja sein Kommen NUR Gericht über die Erde, NUR Auflösung des Irdischen, keine Gnade mehr für die Erde, und keine neue Schöpfung! Und dagegen schreit nicht nur die Welt auf, sondern auch das christliche Lebensgefühl, selbst wenn die Berechtigung des göttlichen Gerichtsernstes in vollem Maße anerkannt wird, dagegen schreit die ganze Bibel auf! Die Bibel ist viel menschlicher und natürlicher, als unsere Hoffnung zu sein wagt.

Das Wort von der Totenauferstehung ist eine wunderbare Bejahung des Leibes und der Erde, und zwar eine Bejahung durch Gott! Er hat beide schon durch die Schöpfung bejaht; sonst hätte er die Erde nicht geschaffen, und dem Menschen nicht eine leibliche Verfassung, eine leibliche Organisation gegeben. Die leibliche Verfassung ist nicht ein bloßes Anhängsel an den Geist, als wäre der Leib etwas, was vom Geist getrennt werden könnte, ohne dass das Wesen des Menschen durch eine solche Trennung getroffen würde; oder als wäre der Leib ein Kerker des Geistes, um aus ihm sobald wie möglich befreit zu werden, ein Anliegen des Menschen sein müsste. Gewiss ist unsere leibliche Verfassung durch den langen sündigen Missbrauch derselben zum Hemmschuh des gottgegebenen Geistes geworden, was seinen tiefernsten Ausdruck in dem biblischen Satz erhalten hat, dass der Mensch fleischlich geworden ist. Aber an der sündhaften Herabwürdigung des ganzen leiblich-seelischen Wesens, infolge deren der Leib dann wieder, aus einem dienenden Werkzeug des Geistes, zu dessen Tyrannen geworden ist, ist ja der Mensch und die Menschheit selber schuld, nicht der Schöpfer, der den Leib gegeben hat. Was wir brauchen, ist eine Erlösung DES Leibes von der ihm, durch die Sünde angelegten Fesselung und Entweihung, damit er ein würdiges und brauchbares Werkzeug des Geistes werde im Dienste Gottes; nicht eine Erlösung VOM Leib.

Die Erlösung im erstgenannten Sinn ist gemeint, wenn der Gemeinde Jesu in Röm 8:23 ein sehnliches Warten auf des Leibes Erlösung zugeschrieben wird. Die Schrift enthält nun die große Verheißung, dass Gott den Leib noch einmal bejahen wird, wie er ihn bereits als Schöpfer bejaht hat, nämlich mit einer Neuschaffung des Leibes, die bei der Totenauferweckung geschieht. Da will er die leiblich-seelisch-geistige Verfassung des Menschen wieder herstellen auf neuer Grundlage. Die Zeit zwischen Tod und Auferstehung ist auch für den, der ganz die Gnade genießen darf ohne Angst, nur Zwischenzeit. Zwar keine gequälte Zwischenzeit, weil sie im Frieden verbracht wird, aber eine wartende Zwischenzeit, die der Vollendung harrt. Das Sterben bringt die Vollendung nicht, selbst wenn es in Christo geschieht; die Vollendung kommt erst mit der Auferstehung. Und das Wort von der Auferstehung fordert das Wort von der Erlösung der Erde, von dem auf ihr lastenden Fluch, und ihrer Neuschaffung durch das Feuer des Gerichts hindurch.

Denn mit dem Leib ist ja die ERDE bejaht! Unsere ganze leibliche Verfassung verknüpft uns ja auf das engste mit der Erde. Nicht bloß insofern, als die Erde der Schauplatz des menschlichen Lebens und Wirkens ist, sondern auch insofern, als unser Leib seinen Ursprung von der Erde hat, und für seinen Bestand fortwährend auf die Erde angewiesen ist. Die Erde verschafft ihm die Lebensmittel, die Wirkungsmöglichkeit und die Wirkungsweise. Auch für die Erde besteht noch die große Hoffnung: nicht Vernichtung, sondern Neuschaffung! Nicht bloß um Gottes willen, weil er sein Werk nicht verderben will, sondern auch um Jesu willen, der durch sein Menschwerden die Erde geweiht hat, und um des heiligen Geistes willen, der nicht bloß einstens über der leben- und lichtlosen Erde schwebte, als Gott sie zum Schauplatz der menschlichen Geschichte bereitmachte, der vielmehr seit der Vollendung von Christi erstem irdischen Werk auf der Erde gewirkt, und in den Erlösten mit geseufzt hat um die völlige Erlösung, und der darauf wartet, die Erde nach der Erlösung vom Bann der Herrlichkeit Gottes voll zu machen.

Die Ungewissheit über das Los der Toten

Noch nicht besprochen ist eine andere, schon genannte Folge der Verkümmerung der christlichen Zukunftshoffnung: nämlich die Ungewissheit über das Los der Toten. Die Entscheidung über ihr Los fällt im letzten Gericht, wenn das Reich Gottes in seine Endgestalt eintritt. Die große, tiefernste Frage ist dann: drinnen oder draußen? Aufgenommen in das Reich Gottes, oder von ihm ausgeschlossen? Es ist gut, dem Ernst dieser Entscheidung jetzt schon still zu halten. Das Urteil, das den Ausschluss verfügt, obwohl durch die Auferstehung die Teilnahme am Reich Gottes in seiner verklärten Gestalt nahezuliegen scheint, muss für die Ausgeschlossenen furchtbar sein, auch wenn sie die Gerechtigkeit des Urteils anerkennen müssen. Die daran sich anschließenden Fragen, ob der Ausschluss endgültig sei, oder ob nach Zerbrechen des sündigen Willens, und nach langer Pein noch eine späte Aufnahme in das Reich Gottes möglich sei; ob der Ausschluss, wenn er unwiderruflich wäre, endlos wäre, oder mit Vernichtung ende, sollen zum Schluss noch erwogen werden. Sie können DA ohne Schaden erörtert werden, wo die Bereitschaft zur völligen Beugung unter den Ernst des göttlichen Gerichts vorhanden ist.

Wenn das Reich Gottes nur als himmlisches Reich aufgefasst, und wenn dem Wiederkommen Jesu nur die Bedeutung zugemessen wird, dass es die irdische Geschichte abschließe, und dann in das Jenseits hinüber leite, dann ist es schwer, die entscheidende Bedeutung des letzten Gerichts zu verstehen. Denn von der, eben genannten Auffassung des Reiches Gottes ist der Gedanke untrennbar verbunden, dass die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Reich, oder über den Ausschluss von demselben, in der Hauptsache mit dem Ausgang des irdischen Lebens, also mit dem Tod, zusammenfalle. Dann wäre aber das jüngste Gericht nicht viel mehr, als eine Wiederholung oder Bestätigung des bereits beim Sterben in Kraft getretenen Urteils. Nun soll der Ernst des Sterbens in keiner Weise bestritten werden. Der Tod ist selber ein Gericht, die Ausführung des längst bestehenden Urteils Gottes über die Sünde. Im Sterben ergeht das Gericht über alle, auch über die Erlösten, selbst wenn sie im Frieden Gottes sterben dürfen. Das Sterben ist kein natürlicher Vorgang, sondern der Vollzug des Gerichts über alles menschliche Wesen. Ist die Sünde vergeben, so hat zwar der Tod den Stachel verloren; aber zu etwas Natürlichem, oder gar zu einem Freund, ist er damit nicht geworden. Das Grausige des Sterbens schwindet nicht, es ist nur durch den Frieden Gottes, und durch die Gewissheit der endlichen Überwindung des Todes in der Auferstehung erträglich und friedlich gemacht, während ohne Vergebung das ganze Todesweh bleibt. -

Ebenso wenig wie der Ernst des Sterbens soll bestritten werden, dass bei den Gerechtfertigten schon beim Übergang in die andere Welt, wie er beim Sterben vor sich geht, das Los aufs Liebliche fällt, nicht erst am jüngsten Tag. So hat Stephanus ohne Angst seinen Geist in Jesu Hände übergeben dürfen, und mit feierlicher Ruhe hat Paulus am Ende seines irdischen Laufs von seinem Abscheiden sprechen können (2Tim 4:6-8). Ein Offenbarwerden vor dem Richterstuhl Christi steht auch der Gemeinde Jesu bevor (2Kor 5:10); aber das angstvolle Harren auf die Entscheidung ist ihr erspart, weil sie die Rechtfertigung bereits erhalten hat.

Aber darf denn kurzweg gesagt werden, dass die Entscheidung über das Los der Toten schon beim Sterben falle? Wird man damit der Wirklichkeit gerecht? Wird damit nicht der Weg ins Reich Gottes gleichzeitig zu eng und zu weit gemacht? Zu weit: denn die Liebe drängt, für die Toten das gute Los zu hoffen, bis an die Grenze der Hoffnungsmöglichkeit; zu eng: denn das Urteil, das Ziel sei verfehlt worden, kann gefällt werden, wo Gott es noch nicht fällt, und wo er in der ernsten Zwischenzeit zwischen Tod und Gericht noch Raum lässt zur Einkehr und Umkehr. Alle die genannten Schwierigkeiten lösen sich in befriedigender Weise, wenn wir es wagen, mit der Schrift darauf zu warten, dass der Herr Jesus und Gott selber, der Erde noch in ungeahnter Weise nähertreten werden, sodass man vom Kommen Gottes reden darf. Der Ernst der Entscheidung für oder gegen Gott, für oder gegen Jesum wird dabei nicht abgebrochen. Im Gegenteil: der Ernst wird noch größer, weil mit der Entscheidung gegen ihn, und sogar mit einer nur lauen Entscheidung für ihn, so Vieles auf das Spiel gesetzt wird. Preisgegeben wird damit die Möglichkeit der Teilnahme am Reich Gottes auf der alten Erde in verklärter Gestalt durch die Teilhaberschaft an der ersten Auferstehung.

Eingetauscht wird ein schmerzliches, demütigendes Warten in der Totenwelt auf die Entscheidung im letzten Gericht. Gefährdet ist deshalb auch die selige Teilnahme am Reich Gottes auf der neugeschaffenen Erde. Auf der andern Seite bleibt noch Raum für das Wirken Gottes an den Abgeschiedenen in der Totenwelt, zumal wenn keine schuldhafte Ablehnung der Gnade, und noch keine vollendete Entscheidung des Willens gegen Gott vorliegt; auch bleibt die Möglichkeit der Ausmerzung unseliger Gebundenheiten Glaubender in der anderen Welt, selbst wenn sie ernste Zucht erfordern. Vgl. darüber das Buch des Evangelisten Samuel Keller: "Das Los der Toten", Neuausgabe einer früheren Auflage mit dem Titel: "Die Auferstehung des Fleisches". Das Buch ist mit brennendem Herzen geschrieben angesichts der vielen Sterbensnot, die nicht nur durch das Abbrechen des Lebens verursacht ist, sondern auch durch die viele Untreue und Unreife, die mit ins Grab genommen wird, angesichts deren einen unmittelbarer Eingang ins Reich Gottes zu glauben, gegen die Wahrhaftigkeit geht, und den Ausschluss aus demselben anzunehmen, die Liebe verletzt. Das Buch ist gleichzeitig zur Gewissenschärfung und zur Herzenserleichterung geeignet, und stellt sich mit großer Entschlossenheit auf den Boden der Schrift. Auch die letzten großen Fragen: Endlosigkeit der Höllenstrafen, Allbeseligung oder Vernichtung der Gottlosen? sind darin erörtert.

Das Wesentliche des Reiches Gottes auf Erden

Wir wenden uns nun dem 1000-jährigen Reich zu, und suchen in Kürze ein Verständnis desselben zu gewinnen, nicht nur aus seiner kurzen Erwähnung und Beschreibung in Offb 20:1-6, sondern aus dem Zusammenhang der Schrift. Der Verfasser hat den lebhaften Eindruck, dass von diesem Reich in den Briefen die Rede ist, ohne dass viele ahnen, das nicht das ewige Reich Gottes, sondern das Reich Gottes auf der alten Erde damit gemeint ist. Vielleicht war das ein Gegenstand des Unterrichts, den der Auferstandene den Jüngern gab, als er ihnen das Verständnis der Schrift aufschloss. Denn der Inhalt der alttestamentlichen Weissagung ist das Wort vom Reich. Nach dieser Richtung zielte die Frage der Jünger in Apg 1:6 vor seinem Scheiden.

Ungenügende Gedanken über das Reich Gottes

Was wird der Inhalt des Reiches Gottes auf Erden sein, das man nach der in Offb 20 genannten Zeitbestimmung für gewöhnlich das tausendjährige Reich nennt? Die Einbildungskraft, die Phantasie malt sich dieses Reich gern mit glühenden Farben aus, nicht bloß mit den Worten der Propheten Israels, die von diesem Reich soviel geredet haben, sondern auch mit Farben, die unserer Zeit entnommen sind. Seine Zustände werden etwa geschildert als eine Vervollkommnung alles dessen, was eine Gabe Gottes ist, nur dass der Missbrauch aufhört, und an seine Stelle der Gott wohlgefällige Gebrauch tritt, sodass in diesem Reich auch alles Platz hat, was jetzt zur Selbsterhöhung der Menschheit verwendet wird, nur dass es dort zur Ehrung Gottes dienen muss. Ob alles so sein wird, wissen wir nicht. Aber wird das tausendjährige Reich zum Reich Gottes durch Beseitigung des Missbrauchs der Gaben Gottes und durch Gott wohlgefällige Einrichtung? Ist das das einzige, was zum Reich Gottes nötig ist?

Hier liegt ein ähnlicher Irrtum vor, wie er zutage tritt, wenn als Aufgabe der Christenheit die Herbeiführung des Reiches Gottes angesehen wird. Dann erscheint als Aufgabe der Christenheit die Beseitigung drückender Weltverhältnisse, und die Herbeiführung des ewigen Friedens - aber diese Aufgaben sind ihr nicht übertragen, und sie kann diese Aufgaben auch gar nicht lösen in einer Welt, die im Argen liegt, und die sich nicht auf dem Weg einer geradlinigen Entwicklung hinein in Gottes Reich befindet, sondern auf dem Weg zum Antichristentum. Jesus hat einst das an ihn gerichtete Ansinnen, Erbhändel zu schlichten, mit dem bestimmten Wort abgewiesen: das sei seine Aufgabe nicht (Lk 12:13.14). Das ist ein prophetisches Wort Jesu auch an die Christenheit unserer Tage, die in der Meinung, dazu verpflichtet zu sein, sich untragbare und unlösbare Lasten aufbürdet, und darüber ihre nächste und wichtigste Aufgabe nicht mehr voll erfüllen kann, Zeuge Gottes und Christi zu sein in einer dem Gericht entgegen eilenden Welt.

Ob nicht ein guter Teil des Widerspruchs, der gegen das Wort vom Reich Gottes auf Erden laut wird, und des Unwillens, der sich gegen die Besprechung dieses Teils der biblischen Botschaft richtet, von dieser verkehrten Art der Darstellung herrührt, die das Wesentliche des 1000-jährigen Reichs an einer falschen Stelle sieht? Manchem Wort der Schrift ist schon das Vertrauen entzogen worden, weil seine Verfechter es in verkehrter und einseitiger Weise darstellten. In dieser Lage ist auch das biblische Zukunftsbild. Dass in der Reformationszeit die biblische Zukunftshoffnung von manchen schwärmerisch ausgedeutet und gröblich missbraucht worden ist - das ernsteste Beispiel ist die Geschichte des "Reichs Gottes" in Münster, das 1536 fiel -, hat unheilvoll auf die lutherische Kirche eingewirkt, sodass sie lange nicht recht gewagt hat, der biblischen Zukunftshoffnung näherzutreten. Aber der Gang der Kirche wird schwer, und die Gefahr von Fehlgriffen lässt sich kaum vermeiden, wenn sie ihren Gang durch die Zeit, dem Reich Gottes entgegen, nicht mehr im Licht der Weissagung sieht. Die Treue, mit der die Kirche die letzten Stücke des biblischen Zukunftsbildes festgehalten hat: Auferstehung der Toten, letztes Gericht, ewiges Reich Gottes, ist ja allen Dankes wer. Aber die Kirche bedarf des Lichtes auch schon für die Werke, die Gott tun wird, ehe die ganze jetzige Welt und Zeit sich schließt.

Die Vollendung der Menschheitsgeschichte

Was ist nun das Wesentliche bei demjenigen Kommen des Reiches Gottes, das im Alten und Neuen Testament so oft gemeint ist, das aber in Offb 20:1-6 trotz aller Kürze besonders deutlich genannt ist? Das ist das Kommen Jesu in Kraft, und die Ausschaltung des seitherigen, unheimlichen Fürsten dieser Welt, der die Menschheit bis dahin unter dem Banne ihrer Schuld in seiner Gewalt hatte. Die machtvolle Herrschaft Jesu ist dann das Wesentliche. Er tritt aus seiner Verborgenheit heraus, von Gott zum zweiten Mal gesandt, nun aber in Kraft und Herrlichkeit, zur freundlichen Erweisung der Gnade, und zur strengen Übung der Zucht. Die Erde hat seit dem Beginn der menschlichen Geschichte fast nur Sünde und Jammer gesehen, und stand mit unter dem, über die Menschheit ergangenen Fluch. Die Menschheit hat reichlich und überreichlich das Sündigen geübt, und ausgekostet, was es heißt, sich der Leitung Gottes zu entziehen. Soll nun die Erde und die Menschheit vom Schauplatz abtreten, ohne auch einmal zu verspüren, was unmittelbares göttliches Regiment ist? Bisher hatten Sünde, Tod und Teufel regiert, aber als fürchterliche Tyrannen. Der letztgenannte muss während der Dauer des Reiches abtreten; die ersten schwinden noch nicht, aber ihr Herrscherrecht wird eingeschränkt. Die Schrift betont nicht bloß das Aufatmen der Menschheit in dieser Zeit des göttlichen Regiments, sondern auch ihre Unterstellung unter strenge Zucht. Das Wort vom Weiden mit eisernem Stab kehrt einige Male wieder. Was die Menschheit da zu erleben bekommt, ist die Heiligkeit Gottes mit ihrer heilbringenden Freundlichkeit für alle, die sich ihr unterstellen, und mit dem Ernst der Zucht gegenüber den Widerstrebenden.

Auch die bisherige Geschichte des Reiches Gottes im gegenwärtigen Zeitlauf muss in jener Zeit zum Abschluss gebracht werden. Israels Geschichte liegt offen da vor der Welt. Israel ist bis jetzt nicht das geworden, wozu es bestimmt war. Schließt Gottes Wirken vor den Augen der Welt mit einem Misserfolg, mit einem Fiasko ab? Gewiss hätte Israel von einem solchen Misserfolg den Schaden; aber Gott hätte den Spott. Gewiss wird Gottes Heiligkeit auch im Gericht offenbar; aber er will sie offenbar machen auch in der Weise, dass er zu Stand und Ziel bringt, was er sich vorgenommen hat, durch allen Widerstand und alle Schmach hindurch. So fordert Gottes Heiligkeit nicht bloß einen befriedigenden Abschluss seines Menschheitsplans, sondern im Zusammenhang damit, auch einen befriedigenden und befreienden Abschluss seines Planes mit dem auserwählten Volk. Dieser Abschluss ist verheißen im kommenden Reich.

Die Zeit des 1000-jährigen Reichs wird wohl die Zeit sein, da Hes 40-48 in Erfüllung geht, da also noch einmal ein Tempel in Jerusalem stehen wird. Jene Stelle ist mit dem Bau des Tempels nach der babylonischen Gefangenschaft nicht erfüllt worden; ebensowenig kann der Bau des Tempels, der von der antichristlichen Zeit zu erwarten ist, als eigentliche Erfüllung angesehen werden. Der ganze Zusammenhang von Hes 33-48 weist vielmehr in die Zeit, da Israel und Jerusalem in seine gottgewollte Stellung eingetreten ist. Diese Zeit steht noch bevor. Zwar könnte diesem Gedanken entgegen gehalten werden, dass seit Jesu Sterben Tempel und Tempeldienst entwertet seien, dass deshalb, zumal wenn das Reich Gottes komme und Jesus regiere, kein Tempel mehr nötig sei. Aber darauf ist zu sagen, dass dieser Tempel gar nicht als Ersatz für Jesus gemeint ist. Israels Gottesdienst und Gesetz muss ferner, wie schon S. 134 ff. ausgeführt wurde, auch einmal im rechten Sinn ausgeübt werden. Sodann wird bei Beginn des 1000-jährigen Reichs weder die Menschheit, noch der größere Teil der Judenschaft für Jesus reif sein. Sie werden einer Hinleitung zu ihm erst bedürfen durch die Zucht des Gesetzes, und durch vorbereitenden Gottesdienst. Als Anschauungs- und Erziehungsmittel eignen sich Gesetz und Tempel trefflich für diesen Zweck.

Das Offenbarwerden der Gemeinde Jesu

Die Gemeinde Gottes aus der Völkerwelt hat keine so offen daliegende Geschichte wie Israel. Die Geschichte der großen Kirchen und der kleinen Kirchlein, ist ja nicht nur eine Sichtbarmachung dieser Gemeinde, sondern zugleich ihre Verhüllung. Ihr Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, ihr Leben, offenbar werden wird, dann werden sie auch zugleich mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit (Kol 3:3.4). Auf den Tag, da die Kinder Gottes in Erscheinung treten, wartet die ganze Schöpfung mit sehnsüchtigem Verlangen; und sie selber, die doch bereits das Sohnesrecht erhielten, warten, ob lebend oder bereits abgerufen, auf die volle Einsetzung der Kindschaft, auf die Erlösung ihres Leibes durch die Auferstehung und Verklärung (Röm 8:18-25). Der Tag, da die Gemeinde Gottes und Christi aus ihrer Verborgenheit in verklärter Gestalt herausgeführt wird, erscheint mit dem kommenden Reich. Die Kinder Gottes haben auf der Erde noch eine Aufgabe; sie dürfen noch einen Dienst tun, der in der Zeit ihrer Zubereitung noch nicht in dieser Weise, und in diesem Maß möglich war. Sie werden ja wohl auch in ihrem leiblosen Zustand, nach ihrem Abscheiden von der irdischen Welt, verwendet werden zum Dienst an den Toten.

Aber es steht noch ein königlich-priesterlicher Dienst bevor auf der Erde, wenn sie einst dort gelitten und das Tier nicht angebetet haben. Zwar wird das Weltwesen erst in der letzten Zeit abgöttische Verehrung erzwingen wollen; aber die Gefahr, es zu verehren, ist zu allen Zeiten da. Und die, für die Teilnahme an der Regierung im kommenden Reich festgesetzte Bedingung, dass die Anbetung des Tiers unterblieben ist, kann ganz wohl für alle Zeiten gelten, in welchen die Gemeinde Gottes und Christi, der Lockung und dem Druck des Tierwesens ausgesetzt ist, nicht bloß in der letzten Zeit, wo der Widerstand dagegen mit dem Märtyrertum rechnen muss.

Obwohl der Zusammenhang zwischendurch unterbrochen wird, möge es gestattet sein, hier ein Wort des Paulus zu besprechen, das Licht in diese Verhältnisse geben kann. Als Paulus den 2. Brief an Timotheus schrieb, wusste er seinen Tod als unmittelbar bevorstehend, und zwar als gewaltsamen um Gottes willen (2Tim 4:6). Die Lage war nun anders als zur Zeit der Abfassung des Philipperbriefs, wo er trotz seiner Gefangenschaft und Todesbereitschaft mit baldiger Wiederaufnahme seines Apostelamtes rechnete. Hinter sich sah er den Kampf; es war der gute Kampf um den Siegeskranz gewesen, und er war siegreich durchgekämpft. Hinter ihm lag sein Leben, als ein wohl vollbrachter Lauf; die Glaubensstellung hatte er seit Damaskus festgehalten und nie mehr aufgegeben. Nun lag als Abschluss seines Kampfes, seines Laufes, seiner Glaubenshaltung nur noch das Sterben vor ihm, ein Sterben freilich von großem Ernst, dem er aber doch mit Freudigkeit entgegensah. Es war ihm nicht mehr bange: das Ziel war ja erreicht. Nun kam der Siegeskranz. Er erwartete nicht, ihn im unmittelbaren Anschluss an sein Sterben zu erhalten. Aber er wusste ihn für sich bereit gelegt, um ihn zu seiner Zeit zu erhalten. Wann? An jenem Tag.

Was ist mit diesem Tag gemeint? Man könnte an den Tag des Gerichts denken, der ja nicht bloß ein Tag des Schreckens ist, sondern für die Jünger ein Tag der Freude. Die Bezeichnung Jesu als des gerechten Richters, könnte als Hinweis in dieser Richtung verstanden werden, zumal der Ausdruck "jener Tag" nicht selten vom Tag des Gerichts verstanden wird. Trotzdem ist diese Deutung unwahrscheinlich. Jener Tag ist vielmehr der Tag der "Erscheinung" Christi, von welcher im gleichen Vers die Rede ist. Die "Erscheinung" ist das Kommen dessen, der bereits vorhanden, aber bis dahin verborgen war. Bereits das erste Kommen Jesu war eine "Erscheinung" (2Tim 1:10); denn er ist bei seinem Eintritt in die Welt nicht erst geworden, wie wir geschaffen sind; sondern er trat damals nur aus seiner himmlischen Herrlichkeit, heraus ins Licht der Geschichte hinein. Mit seinem Sterben und mit seiner Rückkehr in die himmlische Welt ist er wieder in die Verborgenheit zurückgetreten. Die Welt sieht ihn seitdem nicht mehr. Seinen Jüngern ist er zwar nicht verborgen; und doch fehlt er ihnen sehr. Denn auch für seine Jünger ist er nur im Heiligen Geist gegenwärtig. Aber ihre Liebe gehört ihm; und sehnsüchtig streckt sich ihre Liebe nach dem Augenblick aus, wo er aus der Verborgenheit heraustreten wird. Es kann zwar lange dauern, bis der Glaube an Jesum zu diesem bräutlichen Verlangen sich entwickelt hat. Aber das Normale wäre, dass dieses Verlangen überall wach würde, wo Glauben entstanden ist. So ist die "Erscheinung" Jesu der Beginn der "Parusie".

Die Anwesenheit des Herrn

"Parusie", dieses griechische Wort, das die deutsche Bibel mit Zukunft oder Wiederkunft wiedergibt, ist ja ein merkwürdiges Wort. Es heißt eigentlich gar nicht AnKUNFT, sondern AnWESENHEIT. Indem Jesu Wiederkommen als seine "Anwesenheit" bezeichnet wird, wird von dem großen, weltbewegenden Ereignis alles Besondere abgestreift. Was wunderbar ist, ist im Grund genommen nicht sein zweites Kommen, sondern sein erstes, nachdem er seine göttliche Würde und Herrlichkeit mit den Menschen, und allem menschlichen Jammer vertauschte. Was merkwürdig ist, das war sein Fortgehen von der Menschheit. Sein Wiederkommen knüpft nur wieder ans sein früheres Dasein auf der Welt an: dann ist der DA. Seit er sich mit der Menschheit zusammengebunden hat, ist sein Dasein bei der Menschheit, seine Anwesenheit bei ihr das Natürliche. Unnatürlich ist sein langes Fortsein zwischen seinem ersten und seinem zweiten Kommen, an der aber nicht Er schuld ist, sondern die menschliche Sünde. Dieses Unnatürliche wird aufgehoben durch sein Wiederkommen, das deshalb in der schlichten Sprache der Bibel, kurzerhand seine „Anwesenheit" (nämlich bei den Menschen) genannt wird. Dann geht er nicht mehr weg, sondern bleibt da, ja er tritt im vollendeten Reich Gottes in noch viel engere Gemeinschaft mit den Erlösten: denn da sind sie ihm gleichgestaltet, und er weilt unter ihnen als Bruder; sein einziger Vorzug ist dann nur der, dass er unter den vielen Brüdern der erstgeborene ist.

Auf den Tag, da Jesus "erscheine", da seine "Parusie", seine Anwesenheit auf Erde beginne, erwartete Paulus die Überreichung, des seit seinem sieghaften Lebensabschluss bereitgelegten Siegeskranzes. Worin besteht der Kranz? Man könnte denken: in der Gerechtigkeit, weil er genannt wird die Krone der Gerechtigkeit. In diesem Fall wäre der Sinn der: wenn der Herr erscheint, dann erkennt er mich als gerecht an, und dieses sein Urteil ist mir Lohn über Lohn. Gewiss: aus Jesu Mund ein solches Urteil zu höhen, das alle Freude dieser Welt übersteigt, und alle Gefahr und Angst für immer beendigt, muss wunderbar sein. Aber dieses Urteil Jesu war dem Paulus durch den Heiligen Geist schon lange gewiss gemacht; ohne dieses gnädige Urteil hätte er den Kampf und Lauf garnicht aufnehmen, und zu Ende führen können; dieses gnädige Urteil war die Freude in seiner Glaubensstellung. Er hat dieses gnädige Urteil auch nicht erst durch sein Kämpfen und Laufen errungen, wiewohl die in seinem sieghaften Lauf sich offenbarende Gnade, ihm dieses Urteil bestätigt hat. Was ihm in bestimmte Aussicht gestellt worden ist bei seinem Abscheiden, war nicht die endgültige Annahme durch Jesus im ewigen Reich Gottes, sondern das Bei-ihm-sein-dürfen in verklärter Gestalt gleich bei seiner Erscheinung, in seiner Begleitung, in seinem Dienst.

Er wird kommen in seiner menschlichen Gestalt; aber diese ist verklärt durch die Auferstehung. In dieser Gestalt dürfen auch diejenigen um ihn sein, die er dann zu sich ruft. Der Siegeskranz ist als die Auferstehung, und zwar nicht die bei der allgemeinen Totenerweckung, sondern gleich beim Offenbarwerden Jesu in seiner Herrlichkeit. Als Paulus jene bekannte Stelle im Philipperbrief vom Kleinod schrieb (Phil 3:12-14), fühlte er sich noch nicht am Ziel. Seine ewige Zugehörigkeit zu Gott und Christus, seine volle Annahme war für ihn auch damals kein Gegenstand des Zweifels. Aber ob er auch des, von oben an ihn gekommenen Rufs zur Teilnahme an Christi Herrlichkeit und Herrschaft, bei seiner Erscheinung werde teilhaftig werden, das wagte er damals noch nicht zu sagen, aber er wusste sich in Bewegung auf dieses Ziel zu, und wusste sich gezogen. Als er dann das Sterben tatsächlich vor sich sah, da hat er, noch ehe er sein Haupt hinlegte, gewusst: das Ziel ist erreicht.

Die Worte des Paulus könnten einem einfachen Christen Angst machen. Hinter Paulus stehen wir alle weit zurück, auch hinter seiner Demut, nicht bloß hinter der zielbewussten Energie seines Laufes. Ob man als Christ imstande sei, so ruhig und dankbar, und freudig im Blick auf jenes Ziel, sein Leben hinzugeben oder gar zu opfern, das könnte uns tief bewegen, ja umtreiben. Darum ist das Schlusswort des Paulus am Ende des Verses von 2Kor 4:8 so freundlich, und wehrt der unruhigen nervösen Angst: "diesen Kranz gibt der Herr nicht mir allein, sondern allen denen, die seine Erscheinung lieb gewonnen haben", also denen, welchen der Blick, auf sein Hervortreten aus der Verborgenheit, das Herz mit freudiger und gehorsamer Liebe erfüllt. Diese Bedingung ist leicht und schwer in einem; sie macht still und spannt zugleich Gemüt und Willen; sie macht eingekehrt und tätig miteinander.

Bei der Auslegung von Offb 20:4.6 ist von manchen schon gewarnt worden, den Kreis derer, die zur Teilnahme an Christi Regentschaft auf Erden berufen sind, nicht zu weit zu ziehen. Genannt seien die Märtyrer aller Zeiten, und die Treugebliebenen der letzten Zeit. Die Warnung, den Eingang in das Reich Gottes nicht zu leicht zu machen, und vollends nicht so unbesorgt die Teilhaberschaft an Christi Regierung zu erwarten, ist voll berechtigt. Es ist nicht bloß schwer, um des Reiches Gottes willen das Leben zu lassen; es ist auch schwer, das Tier und sein Bild nicht anzubeten. In der letzten Zeit wird es ja besonders schwer sein; die Verweigerung der Anbetung des Tieres und seines Bildes wird lebensgefährlich sein. Aber gerade der Umstand, dass neben den Märtyrern, und Teilnehmern der irdischen Herrlichkeit des wiederkommenden Herrn, alle diejenigen genannt sind, die sich vom Dienst des Tieres innerlich und äußerlich freigehalten haben, wird darauf hindeuten, dass alle wirklich Treuen, aus der ganzen kirchengeschichtlichen Zeit dazugehören, nicht bloß diejenigen Treuen, die ihre Treue mit dem Tod bezahlt haben, sondern auch diejenigen, die, ohne sterben zu müssen, doch innerlich und äußerlich standhielten.

Denn das Tier ist zu allen Zeiten vorhanden, in der verschiedensten Gestalt, nicht immer in drohender, oft auch in lockender. Das Tier sitzt sogar im eigenen Herzen drinnen in Gestalt der lockenden, reizenden, unreinen Luft. Und ein Bild des Tiers gibt es auch zu allen Zeiten, noch ehe die Aufrichtung eines Tierbildes Wirklichkeit wird. Wenn z. B. eine unreine Luft zwar aus irgendwelchen Gründen nicht befriedigt wird, aber die Seele als lockendes Gebilde beherrscht, so ist zwar nicht das Tier, aber sein Bild angebetet. Nimmt man die Bedingung der Teilhaberschaft an Christi Reich auf Erden in diesem Sinn, dann wird der Kreis, für die zur Teilnahme Gelangenden, doch eng. Berufen sind alle, zu Christus zu kommen. Aber nicht alle Berufenen erlangen das Kleinod, von dem Phil 3:14 die Rede ist. Sie gehen deshalb des Reiches Gottes nicht verlustig, wenn sie sich noch reinigen und heiligen lassen. Aber zur Mitregierung mit Christo im Reich Gottes auf Erden sind sie vorher nicht fähig.

Ein Beispiel möge das erläutern. Als Paulus mit Barnabas sich zur 2. Reise anschickte, handelte es sich um die Wahl eines Reisebegleiters (Apg 15:36-41). Barnabas bestand auf der Mitnahme des Johannes Markus, Paulus lehnte ihn mit aller Bestimmtheit ab. Warum? Erkannte ihn Paulus nicht als Christen an? Doch. Den Brudernamen hat er dem Markus auch damals nicht verweigert. Aber Markus hatte sich auf der ersten Reise nicht bewährt. Und die Missionstätigkeit erforderte Männer, die zu jeder Anspannung und jedem Opfer bereit waren. Paulus hatte recht. Den ernsten Lagen, in welche er mit seinen Begleitern auf der zweiten Reise kam, wäre nicht jedermann gewachsen gewesen. Markus bewährte sich später. Damals war er noch nicht soweit. Vielleicht hat der Ernst des Paulus ihn gegen sich selbst fester und härter gemacht. Wenn zur Teilnahe am Reich Gottes auf Erden nicht alle Christen gelangen, so bedeutet das noch nicht ihre Verstoßung. Aber wer sich fragt: „Könnte der wiederkommende Herr mich brauchen?" für den könnte eine solche Frage ein heilsamer Anstoß sein, namentlich dann, wenn eine ehrliche Selbstantwort zu einen "Nein!" gelangen müsste. "Ihr habt noch nicht bis aufs Blut widerstanden über dem Kämpfen wider die Sünde" (Hebr 12:4): der Widerstand gegen die Sünde geht nicht bloß dann bis aufs Blut, wenn darüber das Leben eingebüßt wird; er muss bis aufs eigene Blut gehen, bis zu den eingewurzelten Neigungen, wenn sie nicht aus Gott stammen, sondern auf dem Boden des "Fleisches" gewachsen sind.

Der Regierungsantritt Christi

Es war davon die Rede, dass die Erde, die Menschheit, das Volk der Wahl, und die Gemeinde Gottes und Christi aus der Völkerwelt, dem Offenbarwerden Jesu als des von Gott bestimmten Königs und Herrn entgegen harre. Dass zu den Harrenden, menschlich geredet, auch Jesus gehört, ist noch nicht ausdrücklich gesagt worden, auch wenn es im Hintergrund mancher Ausführungen stand. "Er muss herrschen" (1Kor 15:25); es ist eine Ordnung Gottes, die bis zur Ausführung gelangen muss unter allen Umständen, dass der mit dem größten Amt Beauftragte auch herrsche. Herrscht er tatsächlich? Nämlich nicht in DEM Sinn, dass ihm die Herrschaft gebührt, sondern in dem Sinn, dass sein Wille tatsächlich zur Durchführung gelangt und anerkannt wird? Noch nicht! Er erobert sich zwar in der Zeit zwischen seinem ersten und zweiten Kommen ein Herrschaftsgebiet, wo er als Herr willig und gerne anerkannt wird; das ist seine Gemeinde, die zugleich Gottes Gemeinde ist. Aber auch da muss er viel Geduld und Barmherzigkeit üben, bis er seine Leute dazu bringt, ihn nicht nur Herr zu nennen, sondern ihn auch ihren Herrn sein zu lassen und Gottes Willen zu tun.

Die Welt verweigert ihm in dieser Zeit nicht bloß den Gehorsam, sondern geht großenteils überhaupt an ihm vorbei. Nicht einmal die großen und kleinen Kirchenkörper können sich rühmen, dass sie in ihrem Tun und Lassen ihm wirklich ungeteilt zur Verfügung stehen. In dieser Weltzeit bleibt die Welt im ganzen das Herrschaftsgebiet Satans, des Widersachers Gottes, und wird von ihm vollends in den Gegensatz gegen Gott und seinen Christus hingeleitet. Er muss aber doch herrschen." Er gelangt auch zu diesem Ziel. Aber ehe er seine Herrschaft ausüben kann, mit dem Ziel der Beseitigung jeder anderen Gewalt, muss er seine Herrschaft antreten. Dieser Antritt seiner Herrschaft erfolgt bei seinem Wiederkommen. Das 1000-jährige Reich ist die Einleitung derselben. Es ist erst der Anfang. Denn die Herrschaft der Sünde und des Todes wird da wohl eingeschränkt, aber noch nicht gebrochen; und die satanische Herrschaft ist wohl ausgeschaltet, aber noch nicht beseitigt. Aber ein Herrschen ist es doch. Die völlige Überwindung des Satans, der Sünde und des Todes ist auf dem Boden der alten sündenbefleckten Erde, und im Rahmen der alten sündenvollen Menschheitsgeschichte, noch nicht möglich. Sie erfolgt erst, wenn das Reich Gottes in seine endgültige Gestalt eintritt durch Gericht und Neuschöpfung hindurch.

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5. Teil
Die Vollendung des Gottesreichs